Flucht aus der Kuschel-Ecke
Erst wurden sie in die Metal-Schublade geschoben, dann in die Schmuse-Ecke gestellt. Mit ihrem neuen Album wollen die Männer um Nuno Bettencourt nur noch eines: raus!
In Fort Lauderdale/ Florida verfolgte ME/Sounds den Ausbruchversuch Nuno hebt die fotogenen Augenlider um drei Millimeter. Nuno Bettencourt ist gestreßt. Leicht gestreßt, aber immerhin. Man hat ja auch viel um die Ohren: Die nächste Extreme-Scheibe ist noch nicht fertig, und die schicke Modezeitschrift Vogue hat schon wieder angerufen und um einen Fototermin gebeten. Seit Nunos leichtbekleidetes Abbild das Cover des Rolling Stone als „neues Rock ’n‘ Roll-Sexsymbol“ zierte, stehen die Telefone nicht mehr still. Und gleichzeitig produziert der jugendliche Musik-Unternehmer noch ’ne andere Band im gleichen Studio drei Türen weiter. Und sozusagen mit links schreibt er Songs für Wilson Phillips.
Und jetzt will ein Reporter mit ’ner Kamera um den Hals noch wissen, ob er’s denn nun mit Martika treibt oder nicht. Da gehen einem nicht nur die Augenlider hoch. Aber Anfang September soll das neue Werk „Three Sides To Every Story“ in den Regalen stehen, und Extreme sind Profis genug, um Termine ¿
einzuhalten und die Publicity-Trommel zu rühren, wenn’s drauf ankommt. Das Resultat heißt dann offiziell „tight schedule“ — und in einfachem Englisch: „Man, get on with it! Wir haben nicht viel Zeil!“
Nur gut, daß sich die Band zu den Aufnahmen für die neue Scheibe in den sonnigen Süden geschlagen hat, nach Fort Lauderdale in Florida, und da gehen die Uhren immer etwas langsamer. Und nach einigen aufgeregten Minuten vor der Kamera im New River-Studio senken sich Nunos lange Schwarze auch wieder auf den üblichen Halbmast.
„Das ist das Schöne an diesem Dorf“, strahlt Trommler Paul Geary mich über seine Schultertätowierung an. „Man relaxt hier unheimlich schnell. “ Grins, Grins.
Die Zeiten haben sich geändert. Vor drei Jahren hatte sich Extreme nach einer enttäuschenden Erstlings-LP den deutschen Schwermetall-Meister und Ex-Bierfahrer Michael Wagener ans Mix-Pult geholt, um mit dessen Prestige das Zweit-Werk ins Rampenlicht zu heben. A&M Records puschte, was das Zeug hergab. Und siehe da — auch die zweite Platte floppte. Am Anfang jedenfalls.
Aber plötzlich — echt über Nacht! — schafft die HeavyMetalHardFunk-RockR&B-Band ausgerechnet mit der Ballade „More Than Words“ einen Über-Hit, der von amerikanischen Hausfrauen jeglichen Alters mit solcher Verzweiflung gekauft wurde, daß man fast glaubte, Frauenschwarm Michael Bolton hätte Herpes. „Wir hatten die LP eigentlich schon abgeschrieben“, spricht Paul Geary. „Die ersten zwei Singles zogen nicht — und die LP war am verhungern. Nimo und Gary schrieben sich während der Europa-Tournee die Finger wund, weil wir glaubten, wir müßten mit der nächsten LP sofort nachschießen. Und auf einmal ruft die Plattenfirma an und sagt, wir könnten mit einem Truck das Geld abholen!“
„Es ist schon komisch“, flüstert Nuno vor sich hin und zieht dabei seinen Kopf zurück, als könnten sich seine Strähnen im Cassetten-Recorder verheddern. „Zwei alte Omas kommen zu Tower Records und fragen den Verkäufer, wo sie denn, More Than Words’finden könnten. Und der schickt sie in die Heavy Metal-Section. Nein, sagen die Omas, wir wollen den Song mit den zwei netten jungen Männern.“ Und dann muß er sich hinsetzen, soviel hat er lange nicht mehr an einem Stück gesprochen.
Dann wäre die Metal-Band Extreme also ein prächtiges Beispiel für Crossover-Erfolg?
Ooops! Nunos Lider schließen sich. Die stets kußbereiten Lippen werden spitz. Seine schlanken Finger drehen verzweifelt an einem Lautstärkeregler. „Das ist kein Crossover!“ widerspricht Pat Badger, der arische Traum eines Bassisten, und nimmt Nunos Hand vorsichtig vom Drehknopf. „Wir überqueren nichts, weil wir da selber nichts in den Weg legen. „
Aber es stimmt schon. Extreme passen wirklich nicht ins Schema F. Auf der neuen Scheibe, die mir zum Teil vorgespielt wird, befinden sich Songs, die sich eine Metal-Band eigentlich nicht leisten dürfte. Extremes „Drei-Seiter“ könnte obendrein durchaus in der Lage sein, die schon zu Grabe getragene Vinyl-LP wieder von den Toten zu erwecken — sehr zur Freude der Plattenfirma wird die Scheibe nämlich als Doppel-LP mit nur drei Seiten auf den Markt kommen. Und für „Three Sides“ haben sich die Vier aus Massachusetts einiges einfallen lassen. Wie um zu beweisen, daß sie wirklich alles können — und sich alles leisten können! — klappern sie mit dem 3-Seiter die ganze Bandbreite ab — von Beatlesquen Soundmontagen („Rest In Peace“) bis zu harter Metal-Munition („Warhead“), die vor allem die erste der drei Seiten bevölkert.
“ Unsere Songs, vor allem im zweiten Teil der LP, sind alle sehr schwarz“, erklärt Gary Charone. „Die schwärzeste Seile von Extreme eigentlich. Sozusagen mit nem Rasiermesser im Ärmel.“ Und der dritte Teil? „Ist Yes mit vollem Orchester! Ein einziger Song, eigentlich mehr drei Songs in einem 20-Mimtten-Medley. Geil!“
Dieses geradezu panische Bedürfnis, ein monströses Spektrum abdekken zu müssen, ja nur nicht in das Kuschel-Klischee gedrückt zu werden, verfolgt Extreme auf der ganzen Platte. „Am Anfang verkaufte uns die Pluitenfirma als Metal, und es ging einfach nichts. Jetzt hat man uns wegen einer Single das Softie-lmage aufgepappt. Dabei wollen wir nur die Möglichkeit haben, die Musik zu machen, die uns im Augenblick gerade gefällt.“ Paul Geary fuchtelt vehement mit den Händen. „Bei Queen ging das doch auch. Die konnten spielen, was sie wollten!“
Ach ja, wenn Queen nicht wäre. Extreme hat sogar eine Liste sämtlicher Queen-LP-Titel an der Studiowand hängen, als Inspiration sozusagen. Und ihr vielbesprochener Auftritt in Wembley (Jhe house that Queen built!“ seufzt Gary) hat Extremes Faszination für die Brit-Rocker noch verstärkt. Brian Mays Anteilnahme an Extremes B-Seite „Love Of My Life“ bestätigte die Fixierung der Bostoner Jungen um einiges. „Das war der bisherige Höhepunkt meiner Karriere“, flüstert Charone, und die Stimmung im Plattenstudio nähert sich einer katholischen Weihestunde. Gottseidank kommt die übergewichige Ungarin, „der das Studio gehört, gerade noch rechtzeitig ans Intercom, um die Pizza anzukündigen, die Extreme vor einer halben Stunde bestellt hatten.
Und da wir gerade beim Essen sind — warum wurde denn Michael Wagener in die Wüste geschickt? Ein Stück Pizza landet in Nunos Nase. „Michael war der richtige Mann zum richigen Zeitpunkt!“ sagt Gary, und legt dabei noch die Stirn in Falten. „Für die zweite LP wollte die Plattenfirma einen starken Namen. Wir hätten das Ding zwar auch selber produzieren können, das meiste war sowieso schon auf Band. Aber die Honchos mit den Anzügen wollten doch auf Nummer Sicher gehen.“
Ich warte, bis die Pizza außer Nunos Reichweite ist und frage, was man über die Gerüchte sagt, Extreme spiele bei Live-Gigs Tapes ein?
„Ich benützte bei einem einzigen Song Backups!“ Nunos Reaktion ist beherrscht, die Augen allerdings stehen auf Alarm. „Ich bin allein auf der Bühne und spiele Orchesterstücke ein. Die Band hat bei dem Song die Bühne verlassen. Es ist also allen klar, daß ein Band mitläuft. Sonst ist alles live. Wenn Extreme spielt, spielt Extreme. „
“ Wir fühlen uns eigentlich geschmeichelt“, stimmt unser freundlicher Trommler gleich bei. „Wenn unsere Songs so geil klingen, als seien sie vom Band, müssen wir ja was richtig machen, oder?“