Zwischen Overkill und Askese: Eine phantastische Reise durch Peter Gabriels Hirn


HAMBURG. Schon wieder ein Techno-Overkill! So verhieß es das Medienraunen vor Gabriels Tour-Premiere, denn die aufwendige Bühnenkonstruktion bot dazu reichlich Stoff: Für sein globales Live-Comeback nach fünf Jahren Konzertpause halten Gabriel und der kanadische Designer Robert Lepage an einem raumgreifenden Zwei-Bühnen-Bau mit multifunktionalem Verbindungssteg getüftelt, der alles bisher Dagewesene in den Staub der Zweitrangigkeit werfen sollte. Dazu die hypermoderne Lightshow plus neuester Kamera/Videotechnik in Verbindung mit — ach. ja — Musik. Kann sowas gutgehen?

Gabriel nahm, wie schon bei der letzten Tour, dem ungeliebten Superstar-Ambiente die Spitze, indem er früh auf die Bühne sprang und seinen afrikanischen Gast-Musiker Ogada aus Kenia persönlich ansagte. Die beiden Musiker schürten mit leisen Folk-Tönen 30 Minuten freundliche Erwartung, die dann auch ohne lange Wartezeit erfüllt wurde.

Gabriels Opener „Talk To Me“ bot gleich ein pralles Beispiel des spannungsreichen Rock-Theaters, das die nächsten zwei Stunden bestimmen sollte. Er entstieg, sich ins Kabel windend, einer Telefonzelle und nutzte sogleich die lange Rampe für exaltierte slow-motion-Bewegungen und einen pantomimischen Ausdruck, der visuell alle Songs miteinander verknüpfte. Durch die weit ins Publikum hineinragende Doppel-Bühne und drahtlose Verstärkertechnik boten sich Gabriel optimale Bewegungsmöglichkeiten, die er mit halsbrecherischen Exkursen, Tempi-Wechseln und eigenwilligen Choreographien ausschöpfte. Vor „Blood Of Eden“, einem der vielen Höhepunkte der Show, „ruderte“ er auf einem integrierten Fließband seine Band von einer Bühne hinüber auf die andere, wo mittels versenkbarer Ebenen Instrumente. Dekoration und Menschen auftreten und verschwinden konnten. Theatralisch, aber effektsicher und in der Musik verwurzelt.

Dennoch beschränkten sich Gabriel und Band bei aller Technik oft auf fast schon kokette Askese: „Secret World“ zelebrierten sie mit fünf weißen Spots und schwellendem Rotlicht. Um so spektakulärer spielten dafür stets Gabriels Instrumentalisten. die zu makellosen Klangbedingungen ungehemmt zauberten. Allen voran Manu Katche. der sich den Platz im ewigen Drummer-Olymp längst erspielt hat. Zusammen mit Gabriels langjährigem Bassisten Tony Levin und Gitarrist David Rhodes bildet er ein Kraftzentrum, das schlichtweg alles „kann“: die gläsernen Nebel von „Secret World“ errichten oder brachial den entfesselten „Siedgehammer“ schwingen.

Für schillernde Feinabstimmung sorgten die New Yorker Keyboarderin Joy Askew und der indische Violinvirtouse Shankar. Beide auch mit eigenwilligem Gesang, wodurch das Klangspektrum der Gabriel-Band noch einmal erweitert wurde. Shankars flächiges Violinspiel bedeutete hierbei ein unauffälliges, aber prächtiges Bindeglied, besonders wenn Gabriel zu einem neuen „Kunststück“ ausholte.

Und davon gab es reichlich: Die neuentwickelte Kopfkamera, die seine Mimik überlebensgroß an eine bewegliche Videowand projizierte. oder die ins Publikum gerichteten blauroten Laser, die Tausende von Köpfen

zu einem Teil des farblichen Show-Ambientes machten.

Im Wechsel von großer Aktion und Mut zur Schlichtheit lag der Lebensnerv der Show. Gabriel tanzte mit seiner Band wie in einer Zadek-Inszenierung. ließ die Musiker im Koffer verschwinden — um sie dann zur Zugabe wieder unter der „Raumschiff-Glokke“ erscheinen zu lassen. Wenn der Heiligenschein allzu sehr schimmerte, fegte eine Gitarren-Breitseite den Weihrauch hinweg. Zickzack zwischen Andacht und Party.

Kann das alles gutgehen? Es kann, wenn der große Friedensengel gleichzeitig ein Erzkomödiant ist und Gabriel heißt.