Diktator mit Diplom


So einsilbig wie im Refrain ihrer aktuellen Hit-Single "Mmm Mmm Mmm Mm" ist Brad Roberts normaler weise nicht. Der Kopf der kanadischen Crash Test Dummies ist ein ausgewiesener Mann der Worte.

Im Musikbusiness gilt nach wie vor die Faustregel : Für die erste Platte hast du dein ganzes Leben Zeit, für die zweite dagegen nur noch ein paar Monate. Wer Brad Roberts darauf anspricht, handelt sich gleich eine Abfuhr ein: „Von wegen ein ganzes Leben – das erste Album hatten wir nach eineinhalb Wochen im Kasten“, knurrt der 30jährige Sänger mit dem markanten Bariton-Baß, der mittlerweile zum Aushängeschild der Band geworden ist. Trotz der knapp bemessenen Zeit im Studio entpuppte sich das Debüt-Album der Newcomer, „The Ghosts That Haunt Me“ (1991), als äußerst erfolgreiche Überraschung – 300.000 Mal ging der Erstling im heimischen Kanada und satte 250.000 außerhalb der Grenzen des Ahorn-Staates über die Ladentheken. Mit der Single-Auskoppelung „Superman’s Song“ durfte der Fünfer sogar auf Anhieb süße Charts-Lüfte schnuppern.

Und was fast noch wichtiger war: Der Song verlieh der Band das nötige Selbstvertrauen für das zweite Album.

„Mit diesem Erfolg im Rücken konnte ich unserer Plattenfirma gegenüber ganz anders auftreten. Ich bin da reinmarschiert, und habe ihnen gesagt: Jungs, nach diesem Einstand nehme ich mir erst mal viel, viel Zeit für neue Songs. Und dann brauchen wir zudem noch ein richtig fettes Produktions-Budget für das zweite Album'“, sagt Roberts mit einer Stimme, die jeden Einwand gleich im Keim erstickt.

Ein ganzes Jahr zieht sich die Band aus Winnipeg in die Idylle ihres Bundesstaates Manitoba zurück, um an neuen Songs zu arbeiten; drei Monate dauern schließlich die Sessions unter der Produzenten-Regie von Jerry Harrison, dem ehemaligen Keyboarder der Talking Heads. „Die Talking Heads haben zu ihrer Zeit die damaligen Strömungen auf sehr ironische Weise interpretiert und in ihren Stil einfließen lassen“, äußert sich Roberts zur Wahl des Produzenten. „Die gleiche Intention verfolge ich auch mit den Crash Test Dummies. Ein kleines Beispiel für diese Art von Ironie ist das CD-Booklet von ,God Shuffled His Feet‘, das uns in der Manier von Titians weltberühmtem Gemälde, Bacchus und Ariadne‘ zeigt. Jerry Harrison hat uns aber auch als Keyboarder beeinflußt, denn wir wollten das aktuelle Album partout mit Synthie-Klängen und Keyboards anreichern. Ich bin nun einmal ein Verfechter moderner Technik. Sie bietet dir ein unerschöpfliches Arsenal von Möglichkeiten. Der sinnvolle Gebrauch moderner Computer-Technik nimmt der wahren Hockmusik doch nichts von ihrer Authentizität. „

Die Entscheidung zugunsten Jerry Harrison erwies sich in jeder Hinsicht als Bereicherung. „Machen wir uns doch nichts vor: Die Produktion des Debüts war eine durch und durch spontane Angelegenheit, wir haben uns ein paar Biere hinter die Binde gegossen und dann einfach drauflos gespielt. Als es an die Vorbereitung des zweiten Albums ging, suchte ich nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, um einfach die musikalische Entwicklung der Band voranzutreiben. Und so stieß ich auf Jerry, den ich eines Tages in Milwaukee besuchte und mit ihm eine Woche lang in seiner Sound-Bibliothek wühlte. Aus insgesamt über 2000 Sound-Möglichkeiten wählten wir schließlich 100 für die Produktion aus. „Der Aufwand an Zeit, Technik und harten Kanada-Dollars hat sich schon kurz nach Veröffentlichung von „God Shuffled His Feet“ bezahlt gemacht: Annähernd eine Million Käufer, allein in Amerika, haben das Album schon im Schrank stehen und auch Europa kann sich nicht länger dem eigentümlich-rauhen Charme der Dummies verschließen. Mehr noch: Brad Roberts, sein Bruder Dan (Baß), Benjamin Darvill (Mandoline, Akkordeon), Michel Dorge (Drums) und Ellen Reid (Keyboards, Gesang) haben mit dieser Leistung endgültig allen Skeptikern den Wind aus den Segeln genommen.

Die experimentelle Verspieltheit ihres Debüts ist einer rockigen Direktheit gewichen. Country- und Folk-Einflüsse sind ebenso passe wie nostalgische Swing-Nuancen. Geblieben sind: die phantasievollen Arrangements, die gleichermaßen unkonventionellen wie eingängigen Harmonien und die blumige, oft abstrakte Sprache Roberts. „Ich kann Sänger nicht ausstehen, die meinen, mir ihre banalen Botschaften gleich kübelweise um die Ohren schlagen zu müssen, und dabei noch vorschreiben wollen, wie ich denken oder qar die Welt sehen soll. Mich interessiert weitaus mehr, mit meinen Texten Fragen oder Spekulationen beim Hörer auszulösen“ , sagt ausgerechnet er, dem der Ruf vorauseilt, die Geschicke der Band wie ein kleiner Diktator zu lenken. „Diktator klingt mir zu negativ, obwohl es stimmt, daß nur ich ganz allein für die Songs zuständig bin.“

„Ich kann Sänger nicht ausstehen, die meinen, mir ihre banalen Botschaften gleich kübel- weise um die Ohren schlagen zu müssen.“

Fragen und Spekulationen löst derzeit vor allem der karge Refrain ihres Sommer-Hits „Mmm Mmm Mmm Mmm“ aus. „Über den Titel haben sich schon einige DJs bitterlich beschwert“, grinst Roberts, und klärt uns auf, daß dahinter beileibe keine böse Absicht stecke: „Nachdem ich die Strophen geschrieben hatte, quälte ich mich mit dem Text zum Befrain ab. Irgendwann merkte ich, daß es eigentlich gar nichts mehr zu sagen gibt, und so beließ ich es bei dem gesummten Mmm Mmm. Lustigerweise ist es für mich persönlich der stärkste Part des ganzen Albums.“

Der Song, in dem Roberts Kinder mit physischen Problemen beschreibt, ist typisch für seine oft skurril verwobenen Gedankengänge. Auch die akademische Laufbahn, die er mit einem Doktorhut in englischer Literatur und Philosophie krönte, konnte seine wild wuchernde Phantasie nicht zähmen. Im Gegenteil: „Während meiner Zeit auf der Universität lebte ich wie ein Einsiedler. Ich ging nie aus und hatte keine Freunde. Alles was ich tat, war lesen, lesen und lernen. Da wird man auf Dauer ziemlich weltfremd“, räumt der Kanadier ein, für den die Gründung einer Band gerade zum rechten Zeitpunkt kam.

„Wir haben die Band seinerzeit nur aus der Taufe gehoben , um uns vom Stress des Studiums zu erholen. Wir spielten jeden Samstag in einem Club namens ,Blue Note Cafe‘. Durch alle möglichen Stilrichtungen – von irischem Folk, über Cover von Maria McKee, den Boches und sogar akustische Versionen von Alice Cooper-Hits“ , erinnert sich der Ober-Dummie. Ein Workshop mit CountryStar Lyle Lovett brachte den Stein schließlich ins Rollen und ließ den promovierten Brummbären den akademischen Titel an den Nagel hängen: „Es war vor ein paar Jahren, beim Folk-Festival in Winnipeg“, erinnert er sich, „da kam Lyle zusammen mit einem Cellisten auf die Bühne, um zwei, drei Songs zu spielen. Ich war völlig fertig, denn der Mann schaffte es, nur mit akustischen Instrumenten eine derartige Power zu entwickeln, daß die Leute schier erschlagen waren. Da wußte ich, daß gute, pakkende Songs und große Lautstärke nicht unbedingt zusammengehören. Diese Erkenntnis beflügelt mich seitdem beim Komponieren und Arrangieren .“