Im Lärm liegt die Kraft


Das Bild wirkt ein wenig verzerrt. John Bush und Scott lan, die normalerweise auf der Bühne die bösen Buben markieren, sitzen in einer Nobel-Suite in Hamburg und lassen sich Croissants und Früchte schmekken. Aber schnell ist man trotz dieser für die beiden Anthrax-Mitglieder widrigen Umstände bei einem der Lieblingsthemen der Amerikaner, nämlich Gewalt. „Wir wollen kein Blatt vor den Mund nehmen und uns ist es scheißegal, was die Kritiker von uns denken. Es gibt nichts, das so heilig ist, als daß man nicht darüber reden dürfte. Wenn wir über den Teufel sprechen wollen, dann tun wir das!“ John beißt energisch in eine Birne und man könnte den Eindruck gewinnen, daß er damit allen Widersachern in den Hals beißen will. „Ich fühle mich für das Publikum in keiner Weise verantwortlich, ich bin nur mir selbst gegenüber verpflichtet. Die ‚Heiligen Kühe‘ sind alle tot!“ Diese aggressive inhaltliche Grundstimmung unterstreichend, sind die Songs ihrer neuen Platte ‚Stomp 442‘ musikalisch kompromißlos und trotz der unglaublichen Energie, die aus den ersten 10 Stücken strömt, klar und strukturiert. Kein nerviges Kreischen der Gitarre oder quietschende Vocals — bis man bei Track 11 angelangt ist. An diesem Punkt setzt es die große Überraschung des Albums: der Schlußsong ‚Bare‘ erinnert im ersten Moment an Faith No Mores werktreue Interpretation des Commodores-Schleichers ‚Easy‘. „Für uns ist dieser Track wie die Zigarette nach dem Sex!“, erklärt John mit einem Schmunzeln auf den Lippen. „Es ist ein richtig schönes Chill-Out-Stück. Nach der ganzen Dynamik des Albums genau das Richtige. Und dabei hat ‚Bare‘ die heftigsten Lyrics. Das Lesen des Textes lohnt sich!“ Obgleich Anthrax mit ‚Stomp 442‘ das verflixte siebte Album veröffentlichen, machen sich keine Anzeichen von Ermüdung oder Verschleiß bemerkbar. Dafür hat John allerdings auch eine sehr gute Begründung: „Wenn wir eine Platte produzieren, ist das immer eine Momentaufnahme. Wir würden niemals mit der Intention an die Sache herangehen, vorangegangenes Material zu durchleuchten, um ‚den richtigen Weg* zu suchen. Ich finde, seit der letzten LP sind wir im richtigen Groove und mir gefällt sehr, was wir da zustandegebracht haben. Allerdings darf das Vergangene nie die Kreativität des gegenwärtigen Momentes beherrschen. Die Zeiten ändern sich und damit auch die Inhalte unserer Musik.“ Zu einem der Hauptthemen ist bei ‚Stomp 442‘ das Thema Faulheit avanciert, denn wenn Anthrax etwas auf den Tod nicht ausstehen können, dann ist das Müßiggang. Daraus läßt sich aber nicht zwingend der Rückschluß ziehen, man habe es bei Anthrax mit allzu perfektionistischen Workaholics zu tun. „Oft sitze ich da und überlege mir, was ich da gerade geschrieben habe. Mir fehlt der Zusammenhang der Gedanken und erst wenn wir gruppenintern an den Songs feilen und andere Textideen dazukommen, ergibt sich die inhaltliche Kurve.“ Trotz dieses Geständnisses von John loben beide ‚Stomp 442‘ im Brustton der Überzeugung als das ultimative Anthrax-Album. Aber eine gesunde Portion Selbstbewußtsein hat ja noch niemandem geschadet.