Catatonia
In Großbritannien gelten sie als Popwunder: Catatonia mit ihrer Sängerin Cerys Matthews.
Schon der Anfang der Geschichte liest sich wie aus dem Buch der 1001 Popmärchen: Eines schönen Tages wandert der hoffnungsvolle Nachwuchsgitarrist Mark Roberts durch die Straßen seiner walisischen Heimatstadt Cardiff. Vor einem Brillengeschäft hält er inne und spitzt die Ohren. Zwar schrammelt das Mädchen da an der Straßenecke auf seiner Gitarre „nur“ einen dieser sattsam bekannten Dylan-Songs, aber in der Stimme der Blondine schwingt etwas mit, das Mark augenblicklich in den Bann schlägt. Er spricht Cerys Matthews an, die zu diesem Zeitpunkt schon ein abwechslungsreiches Berufsleben hinter sich hat (Kindermädchen, Psychiatriepflegerin, Bardame, Marktfrau und Möwenleichensammlerin für die Lokalbehörden). Und wenig später suchen die beiden per Anzeige „drei leichtgläubige Tagediebe“ zwecks Gründung einer „Beatcombo“. Der Rest ist schnell erzählt: Die Herren Owen Powell (Gitarre), Paul Jones (Bass) und Aleo Richards (Drums) vervollständigen die junge Truppe, und 1996 erscheint das erste Album, „Way Beyond Blue“. Nur ein lahr später schafft das Quintett mit dem Nachfolgealbum „International Velvet“, das sich immerhin 800.000 mal verkauft, den nationalen Durchbaich. Dabei fallen mit „Mulder And Scully“ und „Road Rage“ gar zwei veritable Single-Hits ab.
Jetzt also der dritte Streich. Titel: „Equally Cursed And Blessed“. Beim obligatorischen Interview offenbart die Band um die 30jährige Sängerin typisch walisischen Humor „Am Anfang versuchten wir zu klingen wie unsere Vorbilder“, erklärt Mark, „aber wir waren ziemlich unfähig, und so klang halt alles wie Catatonia. Und das ist bis heute so geblieben.“ Auch als Texter stapelt der sympathische Gitarrist tief: „Im Grunde bin ich strohdumm“, gluckst er, „aber das Texten ist mir angeboren. In Wales hat jeder einen Dichter in der Familie.“ Cerys, die inzwischen zum unbestrittenen Darling der britischen Musikjournalisten avanciert ist, verrät grinsend die Erfolgsformel der Catatonia-Songs: „Die wirklich guten Elemente in unserer Musik entstehen fast immer aus Patzern.“ Folgt man dieser Erklärung, dann müssen die Aufnahmen zu „Equally Cursed And Blessed“ ziemlich fehlerhaft gewesen sein. Denn das Album weist einige Songs von beträchtlichem Eormat auf. Bei genauerer Betrachtung jedoch wird offenbar, daß Catatonia einer im Königreich seit langen Jahren erfolgreichen Poptradition entstammen: ein Schuß Clash, eine Prise Bowie, Balladen im Stil von Dusty Springfield und – für Anglophile – Texte von der Treffsicherheit eines Morrissey. Soweit eigentlich nicht weiter aufregend, wäre da nicht das entscheidende Element, das Catatonia der Konkurrenz voraus haben: Cerys Matthews. Neben der charismatischen Front-Lady werden die Herren zur bloßen Staffage – auch dies alte Tradition. Siehe Blondie, Pretenders, Garbage und und und.
Mit frech lolitahafter Jungmädchenstimme und ausgeprägten weiblichen Reizen (die sie auf der Bühne perfekt einzusetzen weiß) ist Cerys Matthews das pretty Baby des Pop. Auf der Bühne genügt ein Wink ihres kleinen Fingers, und schon kann man in der größten Halle eine Nadel fallen hören. Um denselben Finger wickelt sie zudem seit Monaten die berüchtigte briüsche Pop-Presse. Die Musikjournaille reagiert geradezu verzückt auf das walisische Hitparadenwunder. Cerys dankt es ihr mit freimütigen Bekenntnissen wie diesem: „Das Beste, was mir je passiert ist, war die Erfahrung, daß jemand mein Herz gebrochen hat.“ Oder: „Es ist eine große Gabe, daß die Menschheit Musik machen kann. Und rauchen. Und Schnaps trinken.“