Bruce Springsteen: Ground Zero Blues
Zum ersten Mal seit fast zwei Jahrzehnten hat Bruce Springsteen wieder ein komplettes Album mit der E Street Band aufgenommen. Für die neuen Songs suchte sich "The Boss" ein denkbar heikles Thema.
An klaren Tagen konnte Bruce Springsteen von einer Brücke in der Nähe seines Hauses in Monmouth County, New Jersey, die Zwillingstürme des World Trade Center sehen. Was ihm vom n. September 2001 am lebendigsten in Erinnerung blieb, ist, wie er über diese Brücke fuhr und auf ein plötzlich leeres Stück Himmel blickte. „Ich muss die Türme bestimmt tausendmal von dieser Brücke aus gesehen haben“, sagt Springsteen beim Interview in einem Tonstudio in Manhattan, ein gutes Dutzend U-Bahn-Stationen von Ground Zero entfernt.
„Wie praktisch jedermann verbrachte auch ich den größten Teil des 11. September vor dem Fernseher und sah diese Bilder von den in sich zusammenbrechenden Türmen wieder und wieder. Aber wirklich begriffen habe ich die furchtbare Realität erst, als ich über die Brücke fuhr und da, wo ich sonst immer die Türme gesehen hatte, einfach nichts mehr war. Das wirkliche Leben ist halt einfach immer dramatischer als das, was man im Fernsehen davon wahrnimmt. Springsteen machte sich umgehend daran, einen musikalischen Salut an die Hundertschaften von Rettungsleuten zu schreiben, die am Morgen der Katastrophe in die beiden Wolkenkratzer geeilt kamen. Ursprünglich wollte er diesen Song, er nannte ihn „Into The Fire“, im Rahmen des Fernseh-Benefizmarathons am 21. September vortragen, wurde aber nidk rechtzeitig fertig und spielte stattdessen „My City Of Ruins“, ein älteres Stück über das Verschwinden des urbanen Lebens in Asbury Park, N.J.
Mit seinem Appell, sich nicht von Hoffnungslosigkeit übermannen zu lassen, funktionierte „My City Of Ruins“ im Kontext des TV-Marathons gut. Dennoch beschäftigten die Ereignisse des 11. September Springsteen weiterhin so stark, dass er nicht nur „Into The Fire“ fertig schrieb, sondern die Gefühle der Verwundbarkeit, die ihn in den Tagen und Wochen nach der Tragödie erfüllten, noch in einer Reihe weiterer Songs, darunter „You’re Missing“ und „Empty Sky“, auszudrücken versuchte. Diese Stücke stellen nun den Kern von „The Rising“ dar, Springsteens erstem Studioalbum mit der E Street Band seit dem Superklassiker „Born In The U.S.A.“ von 1984. Das Album wurde am 30. Juli von Columbia Records veröffentlicht und wird in diesen Wochen und Monaten zunächst von einer ausgedehnten US-Tour (sie begann am 7. August in East Rutherford, N.J.) und später einer Europatournee mit der alten Band des Boss ergänzt.
Nicht nur wegen seiner Spielzeit von 73 Minuten, sondern auch hinsichtlich der emotionalen Bandbreite erinnert „The Rising“ an „The River“, das Album, das Bruce Springsteen 1980 auch in Europa den finalen Durchbruch zum Megastar-Status bescherte. Es hat allerdings auch Momente, die in ihrer nackten Verzweiflung an die Songs von „Nebraska“ denken lassen. Andere wiederum sind so voll satter Lebenslust wie „Rosalita“, der Klassiker aus „The Wild, The Innocent & The E Street Shuffle“. Sucht man nach zeitgenössischeren Vergleichsgrößen für „The Rising“, drängt sich am ehesten „All That You Can’t Leave Behind“ von U2 auf: In beiden Fällen handelt es sich um Alben, mit denen Topacts bewusst versuchten, die klassischen Sounds aus ihrer Karrierehochphase wieder zu beleben. Nach einer Reihe von Alben, in denen Springsteen seine Entwicklung im reifen Mannesalter reflektierte, richtet sich sein Blick nun auf die Außenwelt, in deren Chaos er so etwas wie Sinn zu finden versucht. Einer der bewegendsten Songs, „Empty Sky“, thematisiert den Schmerz beim Verlust eines geliebten Menschen. Seine Metaphern wirken, als seien sie von dem eingangs beschriebenen Blick von der Brücke in New Jersey geprägt: „I woke up this morning / could barely breathe/ Just an empty impression / In the bed where you used to be./ I want a kiss from your lips/ I want an eye for an eye/ I woke up this morning to an empty sky.“
„Die Atmosphäre in den Tagen nach dem Anschlag war vermutlich ganz ähnlich wie die während des Weltkriegs – diese Verunsicherung, diese Sorgen und Ängste“, spekuliert Springsteen. „Ich glaube nicht, dass das irgendjemand je vergessen wird, speziell hier in New Jersey. Die Gemeinden hier hat es ja besonders hart getroffen. Allein Monmouth County hatte mehr als 150 Opfer zu beklagen. Jeden Tag, wenn ich an der Kirche vorbeifuhr, konnte ich sehen, dass es schon wieder eine Beerdigung gab.“
Für jemanden, der Springsteens düstere, verzweifelte Songs aus den 70er und frühen 80er Jahren kennt, mit ihren Schilderungen der Einsamkeit und der Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit, ist es ziemlich anrührend, ihn in einer Ecke des Studios in Manhattan mit dem ältesten seiner drei Kinder auf dem Schoß sitzen zu sehen. Er erklärt dem elfjährigen Evan das Studioequipment in etwa der Manier, mit der ein sportbegeisterter Vater seine Kids in die Geheimnisse des Baseball einweihen würde. „Wir haben zuhause natürlich auch Aufnahmegeräte, aber die genügen keinen professionellen Standards“, erzählt der heute 52-Jährige, „für die Kinder ist das so normal wie alles andere Mobiliar auch. Aber so ein Studio wie das hier, das extra für Platten-Sessions gebaut wurde, ist für sie aufregend und neu.“
Springsteen heutzutage zu interviewen ist ein ganz anderes Erlebnis als in den 80ern, als man sich dauernd fragte, wann er denn endlich die Gefühle der Isolation und Unsicherheit, die wie ein ständiger Schatten über ihm hingen, los werden würde. Anfangs hatte ich den Eindruck, dass er nie über persönliche Dinge sprach, weil er sein Privatleben schützen wollte. Aber nach und nach stellte sich heraus, dass er ein solches Privatleben im üblichen Sinne gar nicht hatte. Klar gab es die eine oder andere Freundin, und man merkte ihm schon mal die Freude über den Erfolg seiner Musik an – aber im Grunde schien er immer schon an den nächsten Song, das nächste Konzert, das nächste Album zu denken. Selbstbestätigung und Trost fand er offenbar nur darin.
Es musste die Heirat mit seiner Mitmusikern Patti Scialfa und die Geburt seines ersten Sohnes kommen, um Springsteen die lang ersehnte emotionale Geborgenheit erleben zu lassen. Heute wirkt er viel relaxter und spricht ähnlich offen über seine Familie wie über seine Musik.Obwohl er immer noch ein Haus in Los Angeles besitzt, verbringt Bruce Springsteen heute den Großteil des Jahres mit seiner Frau und den drei Kindern Evan, Jessica (10) und Sam (8) in der Nähe seiner Heimatstadt Freehold, New Jersey. „Ich liebe Kalifornien „, betont er, „aber daheim in New Jersey haben wir eine richtige Großfamilie um uns herum. Als ich aufwuchs, war ich von Tanten und Cousinen umgeben, es gab eine Straße in Freehold, wo gleich in sechs Häusern Verwandte von uns lebten. Diese Art Background möchte ich meinen Kindern auch bieten.“
Entsprechend ernst nimmt Springsteen seine lokalen Bürgerpflichten. So beteiligt er sich regelmäßig an Benefizkonzerten in der Region, und statt wie Mc-Cartnev, die Stones und andere am „Concert For New York City“ am 20. Oktober 2001 im New Yorker Madison Square Garden mitzuwirken, trat er in derselben Woche lieber zwei Mal mit einheimischen Musikern im gerade mal 1400 Besucher fassenden Count Basie Theatre in Red Band, N.J., auf. Diese Shows brachten eine Million Dollar für die Angehörigen von Einwohnern des Monmouth County ein, die beim Anschlag auf das World Trade Center umgekommen waren. Diese Art Familien- und Gemeinsinn zieht sich durch weite Teile von „The Rising“ Vor allem aber kreist das Album um die Gefühle nach dem Verlust eines nahe stehenden Menschen. Kein gänzlich neues Thema für den Boss: In „Souls Of The Departed“ auf „Lucky Town“ schrieb er 1992 über einen Siebenjährigen, der einer Schießerei zwischen zwei Banden zum Opfer fällt. Die Ängste der Eltern, die ihr Kind schützen möchten, inspirierten Bruce damals zu der Zeile „I warnt to build a wall so high that nothing can burn it down „. Die Ereignisse des 11. September haben schmerzhaft deutlich gemacht, dass keine Mauer jemals hoch genug sein kann, um absolute Sicherheit zu gewährleisten. Sie haben allen das Gefühl vermittelt, dass sich die Welt verändert hat – und so gibt es in diversen Songs auf dem neuen Springsteen-Album einen gebetshaften, spirituellen Unterton. In “ Worlds Apart“ singt Springsteen beispielsweise „May the living let us in, before the dead tearus apart“.
Fast ein Jahr nach der Tragödie stehen die Menschen immer noch in Fünfer- und Sechserreihen entlang der New Yorker Liberty Street an, um durch einen Zaun auf die Überreste des World Trade Center zu schauen. Das Verblüffendste ist dabei die schiere Größe des Gucklochs – es ist einfach so viel größer als jeder Fernsehschirm. Quer durch die Stadt gibt es Dinge, die an den Anschlag erinnern. So haben etwa an der mit Brettern vernagelten Feuerwehrwache in der Nähe der ehemaligen Türme Hunderte von Feuerwehrleuten Uniformfetzen als Ausdruck ihrer Solidarität mit den toten Kollegen angebracht. Wenn man bedenkt, was fiir ein traumatisches Ereignis der Anschlag war, ist es erstaunlich, wie wenig sich die Popmusik dieses Themas angenommen hat. Vielleicht fühlten sich viele Musiker von der Herausforderung eingeschüchtert. Das US-Satiremagazin „The Onion“ brachte eine (fiktive) Story, in der Präsident Bush darum fleht, es mögen keine rührseligen Benefizballaden aufgenommen werden. An die Adresse von Amerikas Popmusikern richtet Bush darin den Hinweis, es habe „schon genug Leid gegeben“. Springsteen lacht, als er mit der Story aus „The Onion“ konfrontiert wird. „Ich habe mich nicht hingesetzt und bewusst ein Album über den n.September geschrieben.Ich wollte nicht buchstäblich über das schreiben, was damals geschah, sondern über die Gefühle, die danach in der Luft lagen. Darin sehe ich die eigentliche Aufgabe eines Songschreibers.“
Ermutigt von der Reunion-Tour mit der E Street Band 1999/2000 hatte der Sänger schon länger wiederein Album mit seinen alten Musikern machen wollen. Nachdem er jahrelang seine Alben im Team mit seinem Manager Jon Landau und dem Producer Chuck Plotkin koproduziert hatte, wollte Springsteen diesmal jemanden mit „frischen Ohren“ dabei haben und heuerte den Pearl Jam-Produzenten Brendan O‘-Brienan. Unter den Demos, die Springsteen O’Brien im Zuge der Vorbereitungen vorspielte, war auch ein Song mit dem Titel „Nothing Man“, der dem Produzenten besonders gefiel. Er erzählt von einem Mann, der von einer lebensbedrohlichen Situation so erschüttert wird, dass er an Selbstmord denkt. Nicht zuletzt macht ihm zu schaffen, dass er in seiner Heimatzeitung als Held beschrieben wird, wo er doch nur versucht hat, seine Pflicht zu tun. In der bedrohlichen letzten Zeile des Textes sitzt er auf seinem Bett, ein Schießeisen „aus Perlmutt und Silber“ neben sich auf dem Nachtkasten. Genau solche Geschichten hat man von Feuerwehrleuten gehört, die sich nach dem 11. September auch der allgemeinen Lobeshymnen unwürdig fühlten – und von Schuldgefühlen geplagt wurden, weil sie überlebt hatten, während viele ihrer Kollegen beim Versuch, Opfer aus den Zwillingstürmen zu bergen, gestorben waren. Springsteen weist jedoch daraufhin, er habe den Song bereits 1994, kurz nach „Streets Of Philadelphia“, geschrieben. Es gehe ihm ganz generell um die Selbstzweifel und Konfusion, die jeden, beispielsweise auch Soldaten, nach verheerenden Ereignissen befallen könnten.
Aber Springsteen wäre nicht Springsteen, wenn er dem Generalthema von „The Rising“ nicht auch eine hoffnungsvolle Note abgewinnen könnte: „Ich lebe in einer toughen Stadt und einem toughen Land – beide werden sich berappeln!“
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