Warum stand Cherie im Juli 2003 nicht auf Platz 1 der Charts ?


Ganz recht: Wer bitte ist Cherie? Die Industrie hielt sie für einen Superstar in spe. Doch dann kam der Krieg. Die Bomben, die Bush und Blair auf Bagdad warfen, haben auch die Popwelt erschüttert.

Nur zwei Songs musste der Atlantic Records-Mogul Jason Flom im Februar 2002 von Cindy Almouzni, Künstlername Cherie, hören, um seine Entscheidung zu treffen. Weil der französisch-jüdische Teenager enorme stimmliche Kraft, ein hübsches Gesicht und diese schwer zu definierende Starqualität hatte, die Flom „the thing“ nennt, arbeitete er auf der Stelle einen Fünf-Alben-Vertrag über eine Million Dollar aus, wie das Magazin The New Yorker im Juli berichtete. Als langjähriger A&.R-Profi, dessen Künstler- darunter seine Entdeckungen Twisted Sister, Kid Rock und Matchbox 20 – insgesamt über 100 Millionen Platten verkauft haben, wusste er, was zu tun war: Überzeugt, aus Cherie mit einem machtvollen Rundumschlag eine „Künstlerin mit Weltgeltung“ machen zu können – was eine Plattenfirma nach Schätzungen von Experten etwa fünf Millionen Dollar kostet -, quartierte er das Mädchen in eine Villa in Beverly Hills ein.

Da die Jacques Brei-Songs, mit denen Cherie am meisten überzeugte, kein kommerzielles Potenzial haben, stand allen Beteiligten viel Arbeit bevor: Professionelle Songwriter stellten ein Album zusammen, während Cheries Akzent abtrainiert wurde. Dass die Aufnahmen trotzdem länger als geplant dauerten, da einzelne Gesangsparts unendlich oft wiederholt werden mussten, bis sie in restlos neutralem Englisch artikuliert wurden, konnte Flom nicht entmutigen. Er nutzte die Zeit, um den Karrierestart, der im Juni 2003 passieren sollte, perfekte vorzubereiten. Er überwachte das Songwriting – ein Hitschreiber namens Paul Moessl ließ sich besonders von dem Buch „The Book Of Positive Quotarions“, „Das Buch der positiven Zitate“, inspirieren – und bestellte für geschätzte 50.000 Dollar Streicher, die pflichtschuldig die Arrangements versüßten.

Wochen und Wochen formte und modellierte man im Herbst 2O02 an Cherie, unterbrochen von Diskussionen, ob oder ob nicht man „noch hören kann, dass sie Französin ist“. Kurz bevor man die inzwisehen perfekt ausgebildete Karaoke-Sängerin auf die Welt loslassen wollte, erklärte George W. Bush im März dem Irak den Krieg. Zu seinen schärfsten Kritikern gehörten Deutschland und – ausgerechnet -Frankreich. Es ist nicht verwunderlich, dass die Veröffentlichung von Cheries Debüt auf unbestimmt verschoben wurde. Obwohl ein resigniert wirkender Flom beteuerte, dass „niemand das verfickte Album boykottieren wird, bloß weil sie Französin ist“, schienen die Entwicklungen der Weltpolitik, wie derNew Yorker treffend analysierte, mit der Vision eines „global artist“ – die noch dazu aus Frankreich kam – nicht vereinbar zu sein.

Für den ebenso groß angelegten wie umstrittenen Feldzug gegen den Terrorismus teilte G eorge W. Bush die Welt in Freunde und Feinde Amerikas ein.

Der Krieg selbst und die Entscheidung Tony Blairs, ihn mit der Hilfe Englands zu führen, mobilisierte die Künstlerin den betroffenen Ländern, wie man das seit dem Vietnam-Krieg nicht mehr erleben durfte. Überraschend war dabei, wie einig sich die Mehrzahl der Stars der Unterhaltungsindustrie mit einem Mal war, nachdem sich Opposition gegen den neuen Präsidenten vor dem 11. September meist auf aktives Nichtstun beschränkt hatte. „Mein Plan ist, George W. Bush zu ignorieren, bis er verschwindet“, so Michael Stipe noch im Frühjahr 2001. Zwar vermeldete der ME im Rückblick auf das Terrorjahr bereits die „zarte Ahnung“ einer „Re-Politisierung der Popkultur“, doch war sicher auch Bush selbst nicht auf die Stürme der Entrüstung vorbereitet, die seine ungenügend begründete Kriegserklärung gerade unter einflussreichen Musikern auslöste. Was mit Protestsongs begann protest-records.com verschenkt noch immer MP3S von namhaften Acts -, entwickelte sich schnell zu organisierter Opposition.

Auf die Gefahr hin, keine Rollen mehr zu bekommen, von Ladenketten boykottiert und als „unpatriotisch“ beschimpft zu werden, ergriffen Stars das Wort für große Teile der Bevölkerung, die sich von ihren Regierungen nicht mehr repräsentiert fühlten. Fast 60 Mitglieder zählt die Organisation Musicians United To Win Without War, die von Aktivisten wie David Byrne in dem Wissen gegründet wurde, dass Musiker wie Jay-Z, Natalie Merchant, Lou Reed, R.E.M und Missy Elliott die Überzeugung eint, „dass Krieg jetzt verfrüht und unnötig ist“. Über 100 Punkbands, darunter Green Day und The Offspring, planten und planen über Punkvoter.com Konzerte, die für 2004 Wähler gegen Bush mobilisieren sollen. „Ihrmüsst ein bisschen lauter schreien, wenn ihr wollt, dass der Präsident angeklagt wird“, sagte Bruce Springsteen im Oktober vor 50.000 New Yorkern, während Thom Yorke und Dämon Albarn in England zu Demonstrationen aufriefen. Die Dixie Chicks erhielten für ihre kriegsablehnenden Äußerungen Morddrohungen, und auch Stipe ist inzwischen aktiv geworden: Mit Moby, Eddie Vedder, Jack Black und anderen organisiert er die Ausstrahlung von Bush-kritischen TV-Spots. „Das Amerika, an das wirglauben „, sagte Moby kürzlich, „wird weitere vier Jahre Bush nicht überleben.“