Aidas Popkolumne: Don’t let these fools freeze you up
Aida Baghernejad ist für Gemeinschaft gegen Pessimismus.
Dieser Tage denke ich viel über Thomas Mann nach – wie könnte ich auch nicht, ich wohne gerade in seinem Haus. Also, in einem Gebäude, das mal sein Haus war, 1942 bis 1952, im Exil, in Los Angeles. Seit einigen Jahren ist es ein Residenzzentrum für deutsche Forscher*innen, Journalist*innen und Autor*innen, die gerne über die Demokratie und ihre Zukunft nachdenken. Sounds like me, und so bin ich hier gelandet. Morgens laufe ich durch den Garten und hole die Zeitung, abends sitze ich manchmal im Wohnzimmer und schau den alten Flügel an, auf dem er von Adorno das Klavierspielen gelernt oder es zumindest versucht hat. Irgendwie verrückt, als würde man in einem Museum leben. Und irgendwie seltsam, dass ich ausgerechnet in diesen Tagen hier bin.
Hier hat Thomas Mann nämlich an seinem Schreibtisch gesessen und war vermutlich ziemlich verzweifelt über den Zustand der Welt im Allgemeinen und Europas im Besonderen. Radioansprachen hielt er, um die Leute davon zu überzeugen, dass mörderische Diktaturen ziemlich Mist sind und Demokratie eine gute Sache. Und später, frustriert und vielleicht auch ein bisschen bitter, schrieb er offene Briefe, Reden und Essays, in denen er Deutschland und die Deutschen analysierte – und verlautbarte, dass er nach Deutschland nicht mehr zurückkehren würde.
Und als ich vergangene Woche die Ergebnisse der Europawahl gesehen habe, dachte ich: Naja, I get it. Draußen flatterte ein Kolibri vor sich hin, drinnen flatterte mein Herz, aber not in a good way: Was nun? Aber eigentlich müssen wir uns auch fragen: Was war gestern? Und was passiert morgen? Was wir nämlich so gerne einen „Rechtsrutsch“ nennen, ist keine plötzliche Überraschung wie einer dieser Erdrutsche, die Kalifornien so gerne heimsuchen, sondern das Ergebnis vieler kleiner, seit Jahren, teils Jahrzehnten, andauernder Entwicklungen.
Da wäre zum Beispiel zunehmende Neoliberalisierung und damit einhergehend Individualisierung von Unsicherheit. Die großartige Journalistin und Moderatorin Eva Schulz konfrontierte Christian Lindner vor ein paar Wochen mit dem Fakt, dass zahlreiche Studien darauf hinweisen, dass es einen Zusammenhang zwischen Austeritäts-, also strenger Sparpolitik, die oft gerade Sozialausgaben streicht, und dem Aufstieg extremer Rechter gibt. Christian Lindners Antwort dazu? „An diese Studien glaube ich nicht.“ Tja, an die Schwerkraft möchte ich auch lieber nicht glauben, macht sie aber nicht weniger zu seiner materiellen Tatsache. Aber auch die viel zu lange ignorierte Kulturarbeit von Rechtsextremen, Autoritären und allen, die sonst noch ein Problem mit einer diversen, gerechten Realität haben. Das fängt bei Maximilian Krahs ziemlich stumpfen Tiktok-Videos mit Sprüchen wie „Echte Männer sind nicht links“ an, und hört bei Andrew Tate und seinen tausenden Copycats leider noch lange nicht auf. Und viel öfter wird solche Ideologie auch noch subtiler vermittelt.
Und letztendlich ist es eben so: viele Menschen in Europa finden rechte und rechtsextreme Inhalte gut. Oder zumindest gut genug, um ihnen ihre Stimme zu geben. Und zwar ziemlich generationsübergreifend. In Deutschland hat der Glaube von Medienschaffenden, dass sie die AfD „inhaltlich stellen“ und „entzaubern“ könnten so richtig was gebracht – und zwar ihre Punkte nur weiter verbreitet. In Frankreich hat ähnliche Selbstüberschätzung und Lust daran, transgressive Inhalte zu bringen, weil sie Klickgaranten sind, Marine Le Pen zum Politstar gemacht und in Italien Giorgia Meloni schon gleich zur Ministerpräsidentin. Und in den USA scheint für Trump die zweite Präsidentschaft zum Greifen nah zu sein, Dauerbeschallung mit seinen Inhalten sei Dank.
Was würden wir verlieren, wenn autoritäre Rechte durchmarschieren? Der G7-Gipfel letzte Woche hat’s gezeigt: Eigentlich sollte ein klares Bekenntnis zum Recht auf Abtreibung in der Abschlusserklärung stehen, aber Giorgia Meloni hat es verhindert. Hier in den USA werden längst beigelegt geglaubte Kämpfe um die Rechte queerer Menschen wieder aufgewärmt, und am Wochenende wurden in Grevesmühlen in Mecklenburg-Vorpommern von einem Haufen Jugendlicher zwei kleine ghanaische Mädchen attackiert und in Berlin haben mutmaßliche Fußballfans „Ausländer raus“ skandiert, während die Polizei anscheinend zugeguckt hat. Wenn das die Gegenwart ist, habe ich auf die Zukunft schon keinen Bock mehr.
Was hilft nun gegen Pessimismus und Defätismus? Mir zumindest immer: Pop! Und so bin ich vor ein paar Tagen quer durch die Stadt gefahren, von Thomas’ schickem Haus in Pacific Palisades über eine Stunde den Sunset Boulevard entlang bis in den Osten von LA und habe mir da serpentwithfeet, aka Josiah Wise, und seine Songs über queeres Verlangen, Sex und Empowerment angesichts einer ablehnenden Welt angeschaut. Neben mir standen queere biracial Paare, hippe Fuckboys, gutgelaunte Partygirls und ältere Soulfans und wiegten alle zusammen zu serpentwithfee – ein Abend voller Wholesomeness, Community und Lebensfreude. „Don’t let these fools freeze you up“, singt er auf „Black Air Force“ und meint damit: nicht vor Angst erstarren, nicht vor diesen Narren da draußen.
Wegzurennen vor den ziemlich miesen Realitäten, denen wir gegenüberstehen, ist dieser Tage keine gute Idee. Aber Momente von Gemeinschaft sind umso wichtiger, um sich wieder klar zu machen, worum es geht – um nichts Geringeres als das gute Leben für alle. Mit jedem Erfolg hasserfüllter Ideologien rückt das weiter weg. Aber mit jeder Nacht, in der ein serpentwithfeet Liebe, Sex und good vibes predigt, wird es ein bisschen mehr zur Realität.