Aidas Popkolumne: The Weeknd, Marie Nasemann und Eskapismus

Haben wir keine größeren Probleme, als dass sich ein Influencerpaar trennt und alle darüber schreiben?
Wir sehnen uns kollektiv nach Eskapismus. Wie anders ließe sich erklären, dass jede Nachrichtenplattform und jeder Feuilleton gefühlt über die Trennung und bevorstehende Scheidung der Podcaster und Influencer Marie Nasemann und Sebastian Tigges schreibt? Während ich gerade durch meinen Instagram-Feed scrolle, sehe ich zwei neue Stücke, von der WELT, von der Titanic – und jetzt, well, auch ich. Aber hear me out: Ich glaube, es geht wirklich niemandem wirklich um diese zwei Menschen und darum, vermeintlich den Glauben an die Liebe zu verlieren. Selbst bei jenen, die anscheinend Fans waren und nun Nachrufe auf deren Beziehung und die Liebe an sich schreiben, glaube ich nicht, dass es wirklich um das Ende dieser Beziehung zweier Personen des öffentlichen Lebens geht. Sondern darum, vor unserer Realität wegzulaufen. Vor Krieg, Gewalt und Zerstörung in Gaza, Sudan und der Ukraine. Vor Nachrichten wie „in den USA wird der Körper einer gehirntoten Frau künstlich weiter beatmet und ernährt, damit der Fötus in ihrem Bauch weiter wachsen kann, obwohl es die Familie nicht will“ und „US-Regierung plant eine TV-Show zu starten, in der Migrant:innen um Staatsbürgerschaft kämpfen“. Vor drohenden AfD-Wahlsiegen in wenigen Monaten, wenn die CDU sich nicht am Riemen reisst. Vor Kriminalisierung von Protestierenden jeglicher Art und rechten Strukturen in Sicherheitsbehörden. Und natürlich vor einem neuen Bundeskanzler, der behauptet, wir müssen alle mehr arbeiten, wenn sehr, sehr viele Menschen in diese Land sich schon weit über ihre Grenzen hinaus verausgaben und trotzdem kaum über die Runden kommen.

Da flieht man sich gerne in eine parasoziale Beziehung rein und lädt die mit übergroßer Bedeutung auf: Diese Menschen begleiten meinen Tag mit ihrem Podcast, mit ihren Inhalten auf Instagram und Tiktok, sie stehen in unserem Feed, der alle Beziehungen gleichermaßen verflacht und auf eine Ebene hebt, direkt neben unseren Friends und irgendwann, auch wenn wir es intellektuell nicht zugeben wollen, fühlen sich an wie Friends. Auch wenn sie es nicht sind. Auch wenn sie von unserer Existenz keinen Plan haben.
Dass Problem parasozialer Beziehung ist nicht neu, nicht mal für diese Kolumne – wir erinnern uns an den kleinen Skandal, den es verursacht hat, als Chappell Roan vorheriges Jahr ihren Fans gesagt hat, dass sie manchmal auch gerne ein Privatleben hätte. Jetzt hat The Weeknd einen ganzen Spielfilm darüber gemacht: „Hurry Up Tomorrow“ – der Film zum Album, das im Januar erschienen ist, läuft jetzt gerade im Kino. Nach dem Schuss in den Ofen, der seine Serie „The Idol“ war, will er doch nicht vom Schauspielen und Filme schreiben lassen. Jetzt also ein Spielfilm, in dem ein Musiker, der zufällig The Weeknd mit Künstlernamen und Abel mit bürgerlichem Namen heißt, auf einen Superfan trifft und, ohne zu viel zu spoilern, einen Horrortrip erlebt.
Ist es ein guter Film? Er ist zumindest nicht so schlimm wie „The Idol“, aber so richtig Sinn ergibt er auch nicht. Aber das ist eigentlich egal, denn mir geht’s um eine der absurdesten, aber auch auf eine Art cleversten Szenen: Der Fan, von Jenna Ortega gespielt, tanzt durch das Zimmer und interpretiert Songs aus The Weeknds Oeuvre bis ins letzte Detail, lädt sie auf mit eigenen Bedeutungen, mit küchenpsychologischen Analysen der Psyche unseres heartbroken Künstlers. Und der? Guckt irritiert und ein bisschen pissed. Was will diese Person? Warum denkt sie, sie habe einen Anspruch auf ihn, auf seine Zeit, auf seine Energie? Und warum glaubt sie, sie kenne ihn besser als er sich selbst?
Wir wissen es ja eigentlich alle: Nur weil jemand vermeintliche Authentizität, Intimität, Offenheit, Nähe performt, heißt das nicht, dass wir sie wirklich kennen, dass wir eine Beziehung zueinander haben. Dass wir Friends sein könnten, die ihre Gemeinsamkeiten aufzählen, wenn wir nur irgendwann zusammenträfen. Es heißt nicht unbedingt, dass die Performance eine Lüge ist, aber eben nur ein kleiner Ausschnitt eines ganzen Lebens. In richtig schlimmen Fällen kann eben diese parasoziale, bewundernde Beziehung zu Machtmissbrauch führen, man denke nur an Fälle wie Diddy, der gerade vor Gericht steht, oder Arcade Fire, die mit ihrem Comeback-Album in die Charts eingestiegen, als wäre nichts passiert.
Vielleicht ist das nachvollziehbar: Wenn die Performance richtig gut ist, kann man schon mal vergessen, dass sie nur eine Performance und eben nur ein Ausschnitt ist. Kennt das nicht jede:r auch ein bisschen selbst? Wenn man sich von einem Kendrick-Lamar-Track so richtig gesehen fühlt? Wenn man glaubt, er spräche auch über die eigene Realität, selbst wenn man kein Schwarzer Mann in Compton ist, sondern vielleicht eine weiße Frau in Schöneberg?
Ich glaube, wir müssen gnädiger sein mit unserem Drang, in parasoziale, einseitige Beziehungen tiefe emotionale Nähe hineinzulesen. Gnädiger mit diesen Objekten unseres Begehrens, die auch nur normale Menschen sind. Aber auch gnädiger mit uns selbst, die wir in diese Beziehungen so viel hineininterpretieren, weil wir vielleicht mit der brutalen Realität da draußen versuchen, irgendwie klarzukommen.