Alannah Myles
Mein Freund Chester aus Texas unterteilt die andere Hälfte der Menschheit in zwei Gruppen: Frauen, die im Damensattel durchs Leben galoppieren, und solche, mit denen man erst Pferde stehlen kann und die dann eigenhändig zur Mistgabel greifen, um die Pferdeäpfel zu beseitigen. Chester bevorzugt Kategorie zwei.
Seit Alannah Myles im Bottom Line Club ihr New Yorker Debüt gab, erwägt er, einen Fanclub in seiner Heimatstadt Lubbock zu gründen. Denn schon zur Begrüßung halte die Sängerin gerufen: „Ich will, daß alle Männer ihre Schwänze heraushängen lassen.“ Ein begeistertes „Hii, ha!“ erklang da neben mir. Die drangvolle Enge im hoffnungslos überfüllten Bottom Line hinderte meinen Freund allerdings, der Aufforderung nachzukommen.
Die Kanadierin, die sich mit der schwermütigen Rockballade „Black Velvet“ aus dem musikalischen Niemandsland unvermittelt an die Spitze der Hitparaden setzte, ist eine versierte Hard-Rockerin mit der stimmlichen Vortragsweise von Grace Slick und dem knurrenden Gegrummel von Joan Jett. Und Alannah Myles besitzt den deftigen Humor und das Vokabular eines Bierkutschers. „Ihr glaubt gar nicht“, meinte sie als Einleitung zur Ballade „Lover Of Mine“… wie scheußlich es war, gestern hier in dieser Bühnenecke zu stehen und zu singen. Da hatte nämlich jemand im Publikum gewaltig gefurzt. “ Sprach’s und ließ sich im Schneidersitz auf einem geklauten Hotelhandtuch nieder, wobei sie dem Publikum den Zwickel ihrer Strumpfhose entgegenstreckte.
Solche Szenen erlebt man normalerweise in bierversoffenen Morgenstunden in einer Honky-Tonk-Spelunke im tiefsten Texas. Im New Yorker Bottom Line am frühen Abend und vor Dutzenden von Plattenbonzen entlarvt sich derlei Derbheit schnell als Masche – ebenso wie die ständig zum Karate-Kick in die Luft geworfenen Endlosbeine oder das demonstrative Popo-Gezwicke der vier Bandmitglieder.
Alannah Myles ist dennoch eine Rock ’n‘ Roll-Wunderkerze. Die Funken, die sie sprüht, sind freilich allzu vertraut, und sie sprangen auch nicht von der schuhkartongroßen Bühne ins Publikum über. Aber bisweilen gewann Alannahs noch weitgehend brachliegendes musikalisches Talent die Oberhand, und Höhepunkt war „Black Velvet“, der Song von der Frau, die Elvis in einer Bar in Mississippi trifft. Das Lied beschwört Presley als christusähnliche Gestalt und beschreibt Rock ’n‘ Roll als „eine neue Religion, die Dich auf die Knie zwingen wird. “ Das Bild vom schwarzen Samt, dem „Black Velvet“, dient als Metapher für die magnetische Sinnlichkeit der Musik.
An diesem Abend war Alannah Myles jedoch nur der Wasserkuli der Sinnlichkeit. Bevor sie die Hohepriesterin wird, müssen noch viele Konzerte wie das im Bottom Line über die Bühne gehen. Das Talent zum Priesteramt aber besitzt die Frau. Das findet nicht nur Chester aus Texas.