Alles „nur“ geklaut


Als alles schon vorbei schien, Landeten The Verve ihren größten Coup - und tappten mitten hinein ins Fettnäpfchen,

wenn gesunde Gruppen nach ein paar Jahren eine Sammlung ihrer Hits auf den Markt bringen, dann wird das Dementi stets mitgeliefert: Nein, unsere „Best Of“ ist kein Abgesang, sondern eine Zwischenbilanz, vielleicht ein Ausblick, womöglich sogar beides zugleich. Mit THIS IS THE MUSIC Verhalt es sich anders: Diese Singles-Anthologie ist Nachruf und Testament zugleich. Es ist die tonnenschwere Marmorplatte auf einem Grab, in dem eine der erstaunlichsten Bands der 90er Jahre in Frieden ruht: The Verve, 1992 bis 1998.

93 Songs, 15 EPs, fünf LPs und 13 Videos in acht Jahren waren das nur. Aber eben auch acht Jahre Achterbahn mit allen Höhe- und Tiefpunkten, mit rauschhaften Schussfahrten, enormen Fliehkräften, zahllosen Gerichtsprozessen und der vielleicht meist gesummten, auf jeden Fall aber umstrittensten Single der letzten 20 Jahre: „Bittersweet Symphony“ war das, 1997, als sich die Welle brach. Und kaum hatten The Verve Geschichte gemacht, da waren sie selber auch schon wieder Geschichte.

In der Chemie würden wir die Kombination aus Richard Ashcroft (Gesang und Charisma), Simon Jones (Bass), Pete Salisbury (Schlagzeug), Simon Tong (Keyboards) und Nick McCabe (Gitarre) als instabiles Molekül bezeichnen. Denn seit sich die Jungs aus Wigan im provinziellen Landkreis Lancashire 1990 zu einer Band formierten, war diese Band vom Ende bedroht. Was vor allem den höchst gegensätzlichen Elementen Ashcroft und McCabe geschuldet war, wie sich später zeigen sollte.

Später, jetzt noch nicht. Jetzt, im Winter 1991, tourt das Quintett durch die Clubs seiner Heimat. Ihre Konzerte werden von der Musikpresse als „gigantisch“ beschrieben, noch bevor überhaupt ein Plattenvertrag unterschrieben ist. Als am 9. März 1992 endlich die erste Single „All In The Mind“ erscheint, überschlägt sich nicht nur das Fachblatt Outlook mit Lob: „Verve klingen wie die perfekte Mischung aus Echo And The Bunnymen, den Stones, den Byrds und Sonic Youth“.

Schon mit dem ersten Album (a storm in heaven, 1993) kommen die ersten Probleme, als das legendäre Jazzlabel Verve meint, dass es so ja wohl nichtgehe, rein namenstechnisch – Verve hängen ein The davor, und die Sache ist ohne großes Aufsehen erledigt. Zumal es bis auf weiteres vor allem die Musikkritiker sind, die die Band ins Herz geschlossen haben. Und die Kollegen von The Black Crowes, die The Verve 1993 als Anheizer für ihre US-Tournee buchen. A storm IN heaven ist eine Sammlung verspielter Studio-ams, deren hypnotische Qualitäten sich vor allem live richtig ausgespielen lassen: psychedelische Skizzen, zu denen ein ziemlich süßer Sänger barfuß und scheinbar schlafwandelnd seine rätselhaften Texte deklamiert, vorangetrieben von einem archaischen Groove und überragt von bemerkenswertem E-Gitarrenspiel. Ashcroft und McCabe zeichnen sich als die beiden Pole dessen aus, was The Verve ausmacht: Hier die apollinischen Melodien, dort die dionysischen Riffs – und dazwischen eine stoische Rhythmusgruppe, wie sie keine andere Band dieser Zeit vorweisen kann.

So grooven sie gut und schön,betrachten ein handliches Songwriting allerdings als vernachlässigenswerte Nebensache. Und darum bleiben Musikjournalisten die größten Fans der Band, bis The Verve 1995 mit a northern soul die ungeteilte nationale Aufmerksamkeit zuteil wird, unter anderem weil die Idee für das Cover bei Queen „geborgt“ ist. McCabe kommentiert den verdienten Erfolg recht trocken: „Seit dem letzten Album haben wir zwei Jahre lang jeden Abend zusammen Musik gemacht. Das bedeutet, dass wir zwangsläufig besser wurden „.

Wenn man Jahre lang zusammen Musik machen – das kann aber aber auch zu gewissen Verstimmungen zwischen gewissen starken Charakteren fuhren. Verstimmungen, die nach dem umjubelten Auftritt auf dem Festival-Spektakel „In The Park“ ihren Höhepunkt erreichen. Die Tageszeitung Observer schwärmt noch vom „gelassenen, epischen Rock“, da hat sich die Band bereits getrennt – von McCabe, der durch Simon Tong ersetzt wird.

„Weltherrschaft? Nächstes Mal Vielleicht jungs, nächstes Mal“, hat der NME über A NORTHERN SOUL orakelt. Also arbeitet die Gruppe tapfer weiter am großen Ziel, kommt aber keinen Zentimeter voran. Es ist Ashcroft, der in solch verfahrener Lage über seinen Schatten hüpft und Nick McCabe wieder an Bord holt. Und mit ihm gelingt nach zwei Jahren das Album, das ihnen ihre Fans immer schon prophezeit und an das die Band immer geglaubt hatte, die Platte mit den massenkompatiblen Harmonien: urban hymns geht in die Historie ein als das britische Album, das am schnellsten ausverkauft war. Der Sommer 199715t der Sommer, in dem The Verve „passieren“.

Kein Wunder bei den unwiderstehlichen Singles: Mit „The Drugs Don t Work“, Ashcrofts Schlussstrich unter seine drogenselige Vergangenheit, erreichen The Verve im September „97 erstmals Platz eins der britischen Charts. „Lucky Man“, Ashcrofts Fazit aus seinem Leben als prominter Rock’n’Roll-Gott, schafft es im November auf Platz sieben. Kaum jemand merkt, dass The Verve hier für den Groove schamlos eine (zugegeben) krude Platte namens „666“ von den griechischen Progrockern Aphrodites’s Child (feat. Demis Roussos!) geplündert haben. Vorangegangen aber ist die Single, die das Jahr 1997 so sehr dominiert, dass alles andere in Vergessenheit gerät- nicht nur „Macarena“, auch Radioheads „Paranoid Android“ und „Karma Police“ wirken dagegen wie Leichtgewichte: „Bittersweet Symphony“, im Juni erschienen, ist der Höhepunkt von The Verve und wird zum Scheitel ihrer Karriere – nicht nur, weil der Song in wesentlichen Teilen gestohlen ist, sondern weil es der Bestohlene leider auch bemerkt.

Bei den Aufnahmen hat sich Ashcroft von den orchestralen Coverversionen auf dem Album THE ROLLiNGSTONES SONGBOOK inspirieren lassen, die der damalige Stones-Manager/Produzent Andrew Loog Oldham 1966 mit seinem „Orchestra“ veröffentlichte. Und weil diese Platte vermeintlich sowieso kein Mensch kennt, hat Ashcroft die von David Whitaker arrangierte Streichergruppe kurzerhand gesampelt so wurde aus dem Stones-Song „The Last Time“ mit neuem Refrain eine „Bittersweet Symphony“, die sich fast drei Millionen Mal verkaufte.

Zunächst fühlten sich Band, Management und Plattenfirma auf der sicheren Seite. War nicht rechtzeitig die Erlaubnis der ehemaligen Stones-Plattenfirma Decca eingeholt worden? Hatten nicht die Stones selbst erklärt, ihnen gefalle die neue Version sehr gut? Aber alle Rechte an Oldhams Version gehörten Ex-Stones-Manager Allen Klein. Der wusste als berüchtigter Geschäftsmann, dass mit „Bittersweet Symphony“ ein neues Werk unter Benutzung eines geschützten älteren Werkes entstanden war und er damit alle juristischen Trümpfe in der Hand hielt, um die Single aus dem Verkehr ziehen zu lassen.

Über das Angebot einer gütlichen Einigung konnte Allen Klein nur lachen. Er stellte der Band ein Ultimatum , die Band lenkte ein – und hat daher bis heute keinen einzigen Cent an dem Song verdient, für den sie in Erinnerung bleiben wird: „Written by Mick Jagger & Keith Richards, Lyrics by R. Ashcroft‘ ‚heißt es nun offiziell. Eine bittersüße Sinfonie, fürwahr.

Vielleicht haben es The Verve ja nicht besser verdient. Denn auch das prägnante Video mit dem rempelnd die Straße entlanglaufenden Ashcroft war geklaut: von Massive Attacks „Unfinished Sympathy“. Solch externe Schwierigkeiten trafen auf interne Probleme in Gestalt von Ashcroft und McCabe, die sich, wenn man so will, in „unvollendeter Sympathie“ zugeneigt waren. The Verve gingen auf US-Tour, wurden als Headliner gefeiert – allerdings ohne McCabe, der diesmal endgültig ausgestiegen war. Am 28, April 1999 erklärte Richard Ashcroft in einer Pressemitteilung: „Ich habe immer alles für die Band gegeben und würde das auch in Zukunft tun, wenn die Umstände es mir nicht unmöglich machen würden. „Es war vorbei. Und es bleibt die Musik.