Anfängerglück für Fortgeschrittene
Virginia Jetzt! haben ein Geschenk für ihre Fans: ein neues Album. Der ME war bei der Live-Übergabe der frischen Lieder dabei.
Es ist ein Sprinter. Schwarz und gemietet. Eben doch noch kein breiter Nightliner mit verdunkelten Scheiben, aber auch kein VW Bully mehr. Irgendwie hatte man dei Berliner Band Virginia Jetzt! beides als Touruntersatz zugetraut. In diesem Statussymbol irgendwo zwischen Nachwuchshoffmnung und Riesenerfolgskapelle auf vier Rädern sitzen also der freche Mathias, der nachdenkliche Nino, der schlaue Thomas und der schweigsame Angelo und fahren auf der Avus hinaus aus ihrer Stadt. Es geht aber nur nach Potsdam, kaum die Autobahn wert. „Trotzdem wird das Konzert kein Heimspiel“ sagt Bassist Mathias Hielscher, „eher ein vorsichtiges Aufwärmtraining, um zu sehen, ob wir wieder reinkommen. „Reinkommen in die Liveroutine – schließlich war die Band ein halbes Jahr nicht mehr auf der Bühne. Reinkommen aber auch in die Ohren der wartenden Fans schließlich hat die Band ein neues Album gemacht in diesem halben Jahr. Deswegen tritt die Nervosität mit auf an diesem Abend. Und die kann auch der Booker nicht zerstreuen, der die Jungs im Hinterhof-Sonnenschein umarmt und seine Eindrucke zur neuen Platte kundtut. „Tja „, sagt er, „irgendwie schon ganz gut, so etwanach dem vierten Mal Durchhören.“ Schief grinsen die Jungs. Meint er das jetzt ernst?
Hochzufrieden und selbstsicher hatte Thomas auf der Rückbank eben noch gesagt: „Wir sind sehr stolz auf die Platte. Sie ist gut geworden. Anders. Ernst. Aber gut. „Wenn er so etwas sagt, glaubt man ihm das sofort. Thomas Dörschel ist der Vordenker der Jungs, gleichzeitig Genie, Impresario und Buchhalter der Band. Er weiß immer, wann sie in welchem Jugendzentrum die Instrumente aufbauen müssen, wie es da das letzte Mal war und werden Autoschlüssel hat. Im Alleingang macht er Melodie und Texte, komponiert an Gitarre und Klavier alle Virginia-Jetztl-Lieder. Erst danach wird Gitarrist und Sänger Nino Skrotzki eingeweiht, und die Band geht in ihren gemütlichen Proberaum auf dem ehemaligen DDR-Rundfunkgelände.
Zurück im Potsdamer Hinterhof, der zum Kulturzentrum „Waschhaus gehört. Virginia Jetzt! sind auf die Bühne gestiegen, um ein Konzert zu spielen. Komplett mit Lichtorgel und Hüftschwung, nur ohne Applaus- um fünf Uhr nachmittags. Durchlaufprobe, gegen die Nervosität. Komisch, wenn Indie-Sommerhits wie „Mein Sein“ oder „Fast wie Giganten“ nicht in Jubel branden, sondern nur in das Flüstern der zwei Techniker, die am Mischpult drehen. Behutsam eingestreut zwischen den Hits liegen die neuen Lieder. Länger sind sie. Komplizierter, irgendwie. Nino muss richtig viel singen. Und: Wo soll denn da mitgehüpft werden? Nur der Booker, der die Platte schon vier Mal gehört hat, nickt vorsichtig mit.
Tatsächlich braucht ANFÄNGER keine vier Durchläufe, um auf die neue Ernsthaftigkeit von Virginia Jetzt! aufmerksam zu machen. Die vier Runden sind allenfalls notwendig, um diesen Wandel wirklich als Fortschritt zu begreifen. Waren die ersten EPs und das Debütalbum wer HAT angst vor Virginia JETZT! noch von einer knabenhaften Urwucht, von unbekümmertem Berliner Trashpop beseelt, ebnet an Fänger den Weg in ein ehrliches Erwachsenwerden. Dabei kommt zu Tage, was manch einer der gelegentlich anzutreffenden Virginia-Jetztl-Kritiker („seichter Pubertäts-Pop!“) nicht erwartet hätte: große Song-schreibe. Oder besser: Songschreibe über die bloße, niedliche Hookline hinaus. Da sind Lieder wie „Ein ganzer Sommer“ und der Titelsong, und sie glänzen mit ausgefeilten Dramaturgien. Das Album sagt dem simplen Schülerband/Mithüpf-Schema adieu. Führt den Hörer mit ambitioniertem Kammerorchester über ungeahnte Abzweigungen zu ernsten Überraschungen. Richtig gute Popsongs sind das geworden. „44 Tage haben wir im Bandraum an den Songs gefeilt. Wir wollten diesmal Sorgfalt, weniger Trash, wenigerVerspieltheit. Dabei mussten wir aufpassen, dass es keine zu pompöse Produktion wird. Das hätte uns keiner abgenommen „, sagt Mathias Hielscher, der Bassist. Bei dieser neuen Ernsthaftigkeit haben sie das Kopfankerwerfen zum Glück nicht vergessen, das konnten sie ja schon immer gut: Momente in Liedern schaffen, die sich wochenlang im Hörerhirn verankern. „Du bist immer noch bei mir, wir sind immer noch zwei hier. „Ja. Und fast in jedem Lied ist wieder so eine Stelle.
Die deutschen Texte, wichtige Helfer beim Entern von Poesiealben und Tagebüchern, richten sich weiterhin meist an ein imaginäres Du. Sie lesen sich aber weniger wie ein Liebesbrief unter der Schulbank, eher wie eine erfrischend realitätsnahe Bestandsaufnahme. Schließlich: Banddurchschnittsalter 26, da ist die erste Verliebtheit ja wohl auch ausgestanden. Das Gerücht, die Mehrzahl der Viginia-Jetzt!-Anhänger sei gerade erst dem Pferdeposter-Alter entwachsen, ist im übrigen keines. Es stimmt. Ob in Potsdam, Lingen oder in Papenburg, die Mädchen stehen stets schon zwei Stunden vor Konzertbeginn vor der Halle, manchmal sogar in Flip-Flops – zum Rockkonzert! Aber immer huschen auch noch ein paar verwachsene Jungs hinter den Mädchen her und tragen Miles-T-Shirts. „Echt, wir haben nicht nur Mädchen im Publikum, auch wenn es manchmal so aussieht“, beteuert Mathias, aber nur mit halber Kraft. “ Und wenn schon, ich meine, warum geht man denn überhaupt in eine Band. Natürlich, um irgendwann den Frauen zu imponieren.Wenn ich ein Junge in dem Alter wäre, würde ich unbedingt mitgehen aufs Konzert, nirgends stehen doch die Chancen besser, und dann gibt’s dazu noch so gute Musik!“
Tatsächlich hat die Band eine respektvolle, souveräne Art, mit ihren teils reichlich hartnäckigen Mädchenfans umzugehen, sei es im launigen Dialog von der Bühne oder beim Davor und Danach. „Wir freuen uns sehr, aber es ist nicht das Wichtigste bei einem Konzert, ob die ersten drei Reihen voller Mädchen sind“, sagt Thomas. Und ihm glaubt man das auch wieder sofort.
Die Madchen, die heute VOr dem Potsdamer „Waschhaus“
stehen und an den selbstgemixten Cola-plus-irgendwas- Flaschen nippen, kennen die neuen Lieder noch nicht, aber sie werden sie mögen. Nicht so sehr, um dazu den Pferdeschwanz zu schütteln, eher um damit ein bisschen unglücklich im Zimmer zu sitzen und getröstet zu werden. Dafür braucht man Musik ja noch dringender, und dafür ist Anfänger genau das Richtige. Und darüber hinaus kann die Band damit gut weitermachen und entkommt einer ungesunden „Barfuß im Sommergras“-Endlosschleife.
Die Halle in Potsdam ist fast voll, das Licht ist schon aus, und backstage hüpfen die vier Jungen von Virginia Jetzt! jetzt kreuz und quer durch den Raum, um ihre Spannung abzuschütteln. Es spannt noch immer, auch nach fast 150 gemeinsam durchstandenen Konzerten. Auf der Bühne werden sie dann fast umgeworfen von der riesigen Liebeswelle, die ihnen aus dem Publikum entgegenschwappt. Wohlwollend goutieren die Fans die neuen Lieder und feiern die alten. Hinterher, nach vielen kleinen Einzelinterviews und noch mehr Umarmungen, sitzen die Jungs auf den Backstage-Sofas und lassen sich ihre Erleichterung nicht anmerken. Was sich keiner sagen traut, was aber in der Luft liegt: Virginia Jetzt! ist eine der besten jungen Bands, die Deutschland hat.