Angeknallt in Amsterdam
Gibt es einen besseren Reiseführer durch Amsterdam als den holländischen Kamikaze-Rock ’n‘ Roller Herman Brood? Vorausgesetzt allerdings, man macht die Nacht zum Tage. Und man macht sich auf einiges gefaßt. Vergessen wir also den ganzen Käse und die Tulpen drumrum und folgen Herman ins nächtliche Amsterdam.
Wir rekapitulieren: Amsterdam, einst Handelszentrum und sowas wie der Nabel der Welt, „Venedig des Nordens“, Grachten, Rembrandt, Van Gogh, Diamanten, viel später mal „magisches Zentrum“ der Hippies, dann Drogen-Paradies/Hölle, Schwulen-Mekka. Oraasmus-Supermarkt etc., etc.
Blende: Herman Brood, Amsterdamer Rock ’n‘ Roller, Literat, Theaterstückeschreiber. Maler, Trinker, Fixer. Vater. Gibt es einen besseren Reiseleiter durch die Stadt der Leidenschaften? Herman hebt seine brüchige Stimme: „ME/Sounds hat recht, meine Damen und Herren, wenn sie mich als Führer engagieren. Denn wer mir gehorsam folgt, der kann es eanz weit bringen. „
Herman ist gut draut. Sechs Kiloj= meter südöstlich der Stadt, in einem g Kaff namens Weesp, hat er heute £ abend auf der Bühne gestanden. Ein typischer Tingel-Club, gefüllt mit vielleicht 400 Leuten, die den gewaltig guten Rock ’n‘ Roll der Herman Brood-Band The Wild Romance euphorisch zu schätzen wußten. Herman, immerhin auch schon satte 40, schwitzte sich durch zwei Stunden Musik ohne Kompromisse und sitzt nun triefend naß im Taxi, das uns ins Zentrum der Nacht befördern soll.
Erste Station Oud-Zuid. ein heruntergekommenes Viertel südlich des Centrums gelegen, mit viel Schmutz und niedrigen Mieten. Hier, in der Cornelis-Anthonisz-Straat, bewohnt Herman mit Frau und Kind ein zweigeschoßiges, geräumiges Chaos, das von unzähligen Bildern und Entwürfen des Malers Herman Brood beherrscht wird. Der Großteil seiner Exponate hängt zur Zeit allerdings in einer Galerie an der Weteringschans. Herman wechselt Hemd und Hose, und los geht’s.
Start frei am Oudezijds Voorburgwal. Ecke Damstraat. dort wo die mittelalterliche Bausubstanz zumindest geographisch den Angelpunkt der City bildet. Während Herman noch darüber rätselt, ob man solch abartige Wortgebilde als Straßennamen dem deutschsprachigen Leser überhaupt zumuten kann, entern wir ein Lokal namens „Latin Club“, gleich neben dem Amsterdamer „Hard Rock Cafe“ gelegen, das wir aber, so unser Reiseleiter, nicht mit amerikanischem Standard vergleichen und daher eher meiden sollten.
„Langweilig“, sagt Herman und bestellt die Spezialität des lateinamerikanischen Hauses. „Wir müssen tunken, brauchen richtigen
Sprit!“ Ein geheimnisvolles Gesöff wird in kleinen Gläsern über die Theke gereicht. Süßlicher Dicksaft rinnt durch die Kehlen und fährt sofort in die Haarwurzeln. Was, bitte, ist das?
„£‘.v handelt sich hierbei um einen Schnaps, gebmimt uns Coca-Blättern, der in der Wirkung einer kleinen Prise Kokain nicht unähnlich ist“, erklärt Herman mit breitem Grinsen. Zum Runterspülen tischt man „Koma“ auf — einen Cocktail, dessen spezielle Zusammensetzung ich auf Grund der alten Bauernregel „Nomen est Urnen“ leider nicht mehr wiederzugeben imstande bin.
Dermaßen gestärkt, blüht Herman auf und erläutert Grundsätzliches: „Sollte der Leser auf Grund unserer Reportage es für ratsam hallen, diese Stadt zu besuchen, so muß er folgende Ratschläge unbedingt befolgen: Erstens: nur zweidimensionul denken! Also immer geradeaus. Zweitens: Das plagende Gewissen, das immer zwicken will — raus damit! Weg mit dem Schuldgefühl, weg mit dem ganzen Ballast! Alles was der durchschnittliche Mensch an Verhüllungen und Vertuschungen aufzubieten vermag, muß über Bord geworfen werden. Erst jetzt können wir hineinsteigen, dort wo wir das klare Licht finden werden, damit wir nicht im Dunkeln laufen. „
Mit „klarem Licht“ meint Herman die Neonröhren „der besten Automatique derStadt“, eine Frittenbude. die am ekligsten nach ranzigem Fett stinken soll und irgendwo da draußen im Dikkicht der Nacht auf uns wartet.
Um zu jener sagenhaften Imbißstube zu gelangen, müssen wir den Oudezijds Voorburgwal Richtung Nordosten. Gleich hinter der Damstraat beginnt der Red Light District, ein Teil von Amsterdam, der dadurch weltberühmt wurde, daß zuweilen pfundige und doch so leichte Mädchen in knappen weißen Slips ihre Haut in Schaufenstern zu Markte tragen. Ist ja ’ne Handelsstadt, nicht wahr?
Herman heuchelt: „Hier muß sich der Wanderer stark zeigen, er muß sich aufrichten gegen das Böse, muß den Verlockungen der Triebe und des Fleisches widerstehen, sonst wird er niemals das Licht der gelobten I’rittenbude sehen. Doch die Kauflust sinkt, wie ich höre, es gibt da so eine ansteckende Krankheit. „
Verfallen auch die Preise? _;Vi//i, ich glaube, der Kurswert liegt momentun bei 50 Gulden fürs Gebläse. „
Herman schwärmt aber von Hamburg „Vielleicht denkt man nun in Deutschland, ich wäre altmodisch, aber ich bin sehr begeistert von der Reeperbahn! Das sage ich jetzt als Mann. Das Angebot da, in dieser Parkgarage (Herman meint den Kontakthof!), — das war für mich wie ein Jugendtraum. Besondere Brisanz bekam diese Begegnung noch zusätzlich, als an jenem Abend ein wichtiger Fußball-Wettstreit im Fernsehen gezeigt wurde und ich als einziger Mann unter vielleicht 200 Schönen der Macht weilen durfte.“
Heute sieht das alles ganz anders aus. „‚un, ich bin in der glücklichen Lage, zu Hause genug davon zu bekommen: und außerdem kommt da noch meine tierische Verliebtheit zu meiner kleinen Tochter dazu, die eineinhalb Jahre alt ist. Rein psychisch ist so was übrigens äußerst befriedigend, ich möchte das wirklich nur weiterempfehlen. Töchter anschaffen! Bringt viel!“
Würde das mit Söhnen nicht auch funktionieren? „,Vö, «7? würde den zwar füttern, aber das ist ein komplett anderes Gefühl, mit knutschen und so… „
Forschen Schrittes steigen wir den Zeedijk in Richtung Norden, einst die Drogenstraße Europas, in der all das harte Zeug, was letztendlich weich macht, in rauhen Mengen gehandelt wurde. Heute ist diese Straße eine einzige Sumerungsbaustelle. die von den Stadtvätern irgendwann mit zahlungskräftigen Geschäftsniederlassungen besiedelt werden wird.
Soft-Drogen wie Marihuana und all seine Varianten werden in Amsterdam bekanntlich bis zu einem gewissen Grad geduldet. Auf dem Papier zwar immer noch strafbar (bis 30 Gramm gibt’s eine Geldstrafe bis zu 5ÜÜ Gulden oder einen Monat Knast!), wird der Genuß eines Joints in den über 300 Coffeeshops, die das Zeug öffentlich per Menükarte feilbieten, stillschweigend toleriert. Doch Vorsicht ist geboten. Wird ein deutscher Tourist mit zuviel Gras im Säckle erwischt, ist man schnell amtlich abgeschoben und darf zu Hause nach dem hier geltenden Betäubungsmittelgesetz seine Strafe absitzen.
Vorbei an zwei Lederschwulen biegen wir in die Warmoesstraat, dort wo jene Polizeiwache steht, die sich einst ihre „guten Connections“ zur Drogenszene von den großen Dealern mit Schmiergeldern versüßen ließ und dafür mit einem ordentlichen Skandal belohnt wurde.
Es ist mittlerweile 4.30 Uhr und das Neon-Licht der angestrebten
Fnttenbude tut weh in den Augen. Wir sind die einzigen Gäste. Herman bestellt eine undefinierbare Süßspeise und brabbelt mit dem Besitzer. Keine Sensationen, also Schluß für heute.
Es ist Sonntag. Wir verabreden uns mittags zum Frühstück. Ort der Handlung: Oud Zuid. Hermans Wohngegend. „Gehn wir in die Negerkneipe“, bestimmt Herman und führt uns zu einer nur von Surinamern frequentierten Bar. Flinck-Straat/le Hier sind herbe Ecke Govert Sweelinck-Straat. Profi-Trinker am Werk, die Herman und seine mitgebrachte Tochter Lola stürmisch begrüßen. Herman ordert Tia Maria und philosophiert übers Trinken.
„Weißt du, ich bin ein sehr schüchterner Mensch. Und wenn ich zum Beispiel berühmte Leute treffe, dünn muß ich immer erst einen trinken, damit ich diese Schüchternheit überwinden kann. Ich mach das nicht fiir mich selbst, sondern lediglich, um sozial überhaupt lebensfähig zu sein. Nur bei meiner Tochter, da bin ich nicht schüchtern.
Aber mit dem Trinken ist das so eine Sache. Mit ein paar Gläschen ändert sich dein Zustand, du wirst übermütig, dann erschrickt man, wird wieder schüchtern, muß wieder trinken, wird wieder übermütig u. s. w.; das ist ja bekannt, dieses Svndrom. Dank meiner Wachsamkeit habe ich aber in meinen Studien beobachten können, daß Leute, die sich so in Trab halten, viel älter werden als nüchterne. Mit der richtigen Dosis Paranoia ist man immer noch eine Nase vorn: Copyright: William Borroughs. „
Wir wechseln in ein biederes Cafe am Nieuwezijds Voorburgwal, einer geschäftigen Straße, parallel zur Spuistraat, der autolosen Konsummeile Amsterdams. Braune Tapeten, gehäkelte Tischdeckchen, und auf einfachen Holzstühlen pflegen hier selbstzufriedene Senioren ihre Sonniag-Nachmittug-Idylle. Und Herman wird sentimental: „Ich habe immer noch diese Vision, daß dieser komische Reagan den Russen mitten in der Nacht anruft und sagt, hör mal, wovon reden wir hier eigentlich? Links, Rechts? Warum sollen diese Typen, die hier ihren Tee schlürfen, auf der rechten Seite stehen — und Typen, die in Rußland ihren Tee schlürfen, links? Das ist doch absurd, uns so einzuteilen, wer hat da drum gefragt?“
Letzte Station: Beverwijk. Etwa eine halbe Autostunde von Amsterdam Richtung Atlantikküste ist Herman Star eines von ihm selbst verfaßten Theaterstücks mit dem Titel „Kamikaze“. Spielstätte ist ein umgebauter Reisebus, innen völlig verspiegelt, mit Platz für ca. 30 Zuschauer, die das Abteil nur mit weißen Jacken betreten dürfen.
Herman bildet als Chefsteward zusammen mit drei Stewardessen und einem vermummten Terroristen den Schauspielerstamm. Dem Zuschauer ist der Blick nach draußen versperrt. Der Bus fährt los. das Stück beginnt. Eine Stunde lang passieren merkwürdige Dinge, von denen hier nur einige wiedergegeben werden können: Nach 10 Minuten holpriger Fahrt und geistreichen Dialogen dreht der Bus plötzlich eine scharfe Kurve, bleibt mit einem Ruck stehen, eine Fensterwand gibt durch hydraulisch bewegte Markisen langsam den Blick nach außen frei, wo Hollands Stahlindustrie unter orangem Nachtscheinwerferlicht dicke Rauchschwaden durch ihre Schlote in den Himmel pumpt.
Nach der Weiterfahrt fällt ein vermeintlich normaler Theaterbesucher (es ist der ansonsten vermummte Schauspielerterrorist) plötzlich in Ohnmacht, der Bus bleibt abermals stehen, der Mann wird nach draußen getragen und erschossen.
Zum Schluß — die Fenster sind wieder verschlossen — wird ein Film auf die vordere Trennwand zur Fahrerkabine projiziert, der aus der Sicht eines Piloten den Start eines Flugzeugs zeigt. Der Bus gibt Vollgas — und man hat tatsächlich das Gefühl, abzuheben.
Mit dem letzten Zug geht’s zurück nach Amsterdam. Das Zugabteil ist leer und trostlos. Auch wenn Herman für die Fotografin als daumenlutschender Schläfer posiert, scheint seine Energie nie zu versiegen. (Daß er dazu chemische Hilfsmittel benutzt, die nicht unbedingt gesundheitsfördernd und empfehlenswert sind, soll hier nicht verschwiegen werden — die Red.) Er richtet sich auf, kramt in seinen Taschen, legt den spaßeshalber mitgebrachten Revolver zur Seite, holt Löffel, Feuerzeug, Armbinde, Spritze und seine Dose hervor, beginnt die tägliche, seit 15 Jahren praktizierte Prozedur und bittet mich, doch ein wenig auf den Zugkontrolleur aufzupassen. „Es muß ja nicht jeder meine Privatsphäre mitbekommen. „
Sag‘ ihm, dein Leben bringt dich um. murmeleich.
Herman lächelt nur und verschwindet auf die Toilette.