Annie gets her fun


Erst hatte sie die Hosen an, jetzt zieht sie die Bluse aus. Auf der triumphalen EURYTHMICS-Tournee präsentierte sich die kühle Androgyne unbeschreiblich weiblich. Auch wenn's beinharte Emanzen gar nicht lustig finden - ANNIE LENNOX zeigt's ihnen: "Ich find's scharf, weil ich mich sexy fühlen will." Gitti Gülden führte ein Gespräch von Frau zu Frau.

„Für diese Tournee braucht man eigentlich ’ne Reihe Krankenwagen“, meint der Masseur und Trainer des Eurythmics-Clans. Wozu er denn gar diese klappbare Folterbank mit sich herumschleppe, möchte man wissen. „David hat Probleme mit seiner Wirbelsäule und muß auf dieser Streckbank massiert werden. Außerdem hat er schon lange einen Herzfehler und muß nach sportärztlicher Anweisung jeden zweiten Tag joggen. Es scheint mir immer wieder unglaublich, wie gut er trotz allem drauf ist.“ Und warum muß er arme Kerl diese Augenklappe tragen? „Eine Entzündung.“

Dave Stewart kommt an unseren Tisch und grinst piratengleich: „Quatsch! Ich mach‘ nur Spaß.“ Als er kurz drauf die Klappe lüftet, sieht man ein knallrotes, total zugeschwollenes Auge. Als erstes muß David also am nächsten Morgen zum Augenarzt — dabei sah alles endlich wieder rosig aus für die Tournee der Eurythmics.

Nach einwöchiger Unterbrechung konnte die fünfköpfige Band ihr angeschlagenes Starpaar auf der Bühne der Essener Grugahalle wieder begleiten. Was war passiert? Annie war ausgefallen — ausgerechnet sie! Nach dem Konzert in Kopenhagen konstatierte der Arzt Schüttelfrost, hohes Fieber, Bronchialkatarrh, drohende Lungenentzündung, folglich totales Sprech- und Singverbot und strikte Bettruhe. Eine Woche lang wurde Annie von Hotelbett zu Hotelbett transportiert, Kopenhagen, Hamburg, Amsterdam, Düsseldorf. Von Tag zu Tag hoffte jeder auf Besserung, doch die Konzerte wurden verschoben und die gesamte, immerhin bis Ende März dauernde Welttournee schien in Frage gestellt.

Ein Wunder also, so scheint es rückblickend, daß unter diesen Umständen ein Interview mit Annie zustande kam. Und wundersam auch, daß aus der ausbedungenen Viertelstunde im Flüsterton, („Und bitte, auf keinen Fall rauchen!“) eine 40-Minuten-Unterhaltung bei Tee mit Honig und Zitrone wurde — zwar leise und unterbrochen von trockenen Hustern aber ungeheuer vergnügt und engagiert. Und das vor dem abendlichen Konzert.

„Nach einer Woche Pause ist das wie eine Premiere. Ich freu‘ mich riesig.“

Also keine Gewissensbisse wegen der verschobenen Auftritte?

„Nicht im geringsten. Schuldgefühle kann ich mir genauso wenig leisten wie Erkältungen. Zugegeben, diesen Egoismus mußte ich mir erst antrainieren. Aber bevor ich die nächsten fünf Monate meine Stimme und meine Kondition völlig ruiniere, setze ich lieber an drei Abenden aus. „

Wir befinden uns am Hotel-Pool. Während David zum Joggingtraining aufgebrochen ist, verrät mir Annie ihr Fitneß-Geheimnis: „Ich lege mich an den Swimming-pool und entspanne. Wirklich, das beste Training für mich ist, mir das Wasser und die heftig schwimmenden Menschen anzuschauen. Ich sollte natürlich disziplinierter sein, aber ich bin so furchtbar faul. Und die Fitneßübungen mit Maschinen mag ich eh nicht. Mir kommt das pervers vor, daß menschliche Wesen sich mit Maschinen abquälen sollen, um sich anschließend wohler zu fühlen. Das ist doch bizarr und lächerlich. Die grundsätzliche Idee, dein Leben so in die Hand zu nehmen, um geistig und körperlich fit zu sein, ist natürlich wundervoll“, sagt die überzeugte Vegetarierin, „faul sein und sich entspannen, gehört aber ganz sicher auch dazu. „

Ein erstaunliches Bekenntnis der inzwischen weißblonden Schottin, die immer als ausgesprochen beherrscht und diszipliniert geschildert wird. Ganz im Gegensatz zu ihrem verwuselten Partner Dave, der am liebsten unter Menschen ist und keine Probleme hat, aus sich herauszugehen. Seht ihr euch auch als das merkwürdige Rock ’n‘ Roll-Paar. als das man euch beschreibt?

Annie zögert: „Also, ich weiß nicht. Was man von mir erzählt, isi immer nur zu 10 Prozent wahr. Ich bin ein bißchen von allem. Es gibt Leute, die mich in bestimmten Situationen kennenlernen und dann erzählen, ich sei gar nicht so introvertiert, hätte sogar Humor“, und sie lacht, um das Ganze wieder in Frage zu stellen.

„Der Unterschied ist einfach der, daß David im Gegensatz zu mir wesentlich ausgeglichener ist. Er ist mit anderen Leuten immer sehr umgänglich, was man von mir nicht gerade sagen kann. Ich versuche mich immer ziemlich zu beherrschen. Um richtig aus mir herausgehen zu können, müßte ich ein paar Drinks kippen. Aber ich weiß, daß ich dann zu fürchterlichen Übertreibungen neige. „

Nun trinkt Annie ohnehin so gut wie kein einziges Schlückchen Alkohol, höchstens mal einen winzigen Schluck Wein oder einen Hauch von Champagner. Hat die reservierte Dame da Angst, ihr Innerstes könne plötzlich auf einem Silbertablett nach außen serviert werden?

„Das hat damit zu tun. In der Rolle, die ich auf der Bühne spiele, muß ich ohnehin aufpassen, was ich gebe und was ich für mich behalten muß. Ich bin durchaus nicht der Meinung vieler Kollegen, auf der Bühne leben und sterben zu müssen. Bühne bleibt Bühne, Vorstellung ist Vorstellung. Die Bühne ist nicht mein Alltag, ist nicht mein Schlafzimmer — und auch nicht der letzte Tropfen meines Herzblutes. Natürlich ist von allem ein bißchen dabei, aber auf einen kompletten Seelenstriptease möchte ich doch verzichten. Wenn jemand alles jeden Abend ausschüttet, dann kann das sehr schnell peinlich werden.“

Die Balance zwischen Amüsements und Ausrasten vor der Bühne steht halt oft auf Messers Schneide. Ist diese Verantwortung ein Damoklesschwert, das über deinem Kopf hängt?

Annie rührt heftig den Honig in ihrer dritten Tasse Tee um und protestiert: „Nicht nur über meinem! Die Gruppe ist immens wichtig. Und dann hängt vieles von den einzelnen Individuen im Publikum ab. Manchmal können lediglich ein oder zwei Verrückte ein ganzes Konzert zum Kippen bringen. Wenn was Mieses passiert, dann wird’s sehr schwierig für mich, das aufzufangen, und dieses miese Gefühl verschwindet auch nicht sofort.

Das Auftreten ist ein ständiger Lernprozeß. Das ist jedes Mal eine Herausforderung, und ich habe mich bei den Hunderten von Konzerten noch nie von Anfang bis Ende durchgehend wohl gefühlt. Die Herausforderung heißt ja: cool bleiben. Und cool fühle ich mich eigentlich nie. „

Dieser ständige Zwiespalt zwischen der Spannung vor einem Bühnenauftritt, der maßlosen Freude über ein gelungenes Konzert und dem sich Abkapseln nachher scheint viel von ihrer Faszination auszumachen. Dabei ist Annie absolut egal, ob sie innerhalb der feierfreudigen Truppe als langweilige Spielverderberin gilt. „Ich könnte das köperlich einfach nicht durchstellen. Ich halte ja schon den Rauch in Bars nicht aus. Und dann wird man dauernd angequatscht. Das ist für die betreffenden Leute vielleicht natürlich, für mich ist es höchst ungemütlich. Das Eindringen in deine Privatsphäre kann dich total zermürben. Dann möchte ich gern sofort jemand sein, den niemand anspricht oder auch nur anstarrt. Dieses Anstarren hat oft etwas sehr Rücksichtsloses.

Wenn ich mich stark genug fühle, starre ich einfach zurück, so nach dem Motto: Was gibt ’s hier eigentlich zu sehen? Oder ich spiele: Stimmt gar nicht, Sie haben sich ganz schön vertan. Meistens bin ich nett, aber manchmal habe ich einfach keine Lust, nett zu sein.“

Annie seufzt und hebt fatalistisch die Augenbrauen: „Andererseits bin ich auch eine ausgeprägte Exhibitionistin, allerdings nur und ausschließlich auf der Bühne. Auf der Straße, im Restaurant oder beim Einkaufen will ich um Himmels willen keine Aufmerksamkeit, von wem auch immer. Ich bestimme natürlich mein Äußeres,

aber ich finde nicht, daß ich mich extrem kleide.“

Annie trägt eine schlichte schwarze Hose zu einem schlichten schwarzen Rollkragenpulli und als einzigen Schmuck silberne Creolen an den Ohren und ein saftiges Korallenrot auf den Lippen.

„Komischerweise errege ich aber immer Aufmerksamkeit, seitdem ich denken kann. Und ich weiß inzwischen auch, woran das liegt: Ich sehe anders aus, weil ich anders fühle! Da wo ich aufgewachsen bin, in einer Kleinstadt, da merkst du schnell, daß du anders bist. Deswegen wolltest du ja ursprünglich auch so schnell wie möglich von dort weg. Provinzielles hat mich schon immer fürchterlich gelangweilt. Das ist mir total fremd, und ich fühle mich dort fremd. „

Und wieder ist da einer ihrer typischen Widersprüche, denn eins ist klar: Sie ist ein Star, ist dem Provinziellen um Meilen entwachsen. Andererseits spricht sie fast ehrfüchtig von „berühmten Leuten“, denen sie dank ihres Erfolges begegnen konnte.

Jch schätze dieses Leute in erster Linie als die menschlichen Wesen, die sie im Grunde sind. Manche besitzen ein ungeheures Talent, bleiben über sehr menschlich und offen. Mick Jagger ist nicht nur ein exzellenter Musiker, er hat auch ein Charisma, das ihn einzigartig macht. Man muß ihn einfach mögen, ja bewundern.

Stevie Wonder zu beobachten, ist ebenso ein Ereignis. Er spielt die kompliziertesten Phrasen so mühelos — unfaßbar. Ein Genie! Oder Aretha. Sie sitzt da im Studio, raucht Kette, macht ihren Mund auf und du hörst diese Wahnsinnstimme.

Ich würde auch gerne mit Bowie arbeiten -— nicht unbedingt mit ihm singen! Ich würde nur gern dabeisein, wenn er arbeitet. Ich möchte von solchen Leuten lernen.“

Annie hat früher entsetzlich unter Kritiken gelitten. „Manchmal“, so sagt sie, „wurden wir regelrecht geschlachtet.“ Geht ihr leichtfertige Kritik immer noch an die Nieren?

„Kreative Scheuklappen werden mir immer ein Greuel bleiben; es muß die Toleranz für Entwicklung geben. Punk hatte seinen Stellenwert damals, weil er viele Wege öffnete. Aber wenn ich heule zurückblicke, bin ich sicher immer schon weniger moralisch oder engstirnig gewesen als meine früheren Punkfreunde. Man durfte ja überhaupt nicht sentimental sein! Du durftest dich nicht freuen, mußtest bestimmten Regeln entsprechen. Ich habe immer gedacht, man soll alles sein können, auch weich. Aber am schlimmsten ist wohl, was fast überall im Moment passiert: eine gefällige, wohlklingende Leere. Es passiert nichts. „

Inzwischen entrüsten sich junge Moralapostel ja schon darüber, daß Miß Lennox in einem feuerroten BH auf der Bühne erscheint…

„Diese Reaktionen sind immer wieder faszinierend. Als die Eurythmics erstmals in die Schlagzeilen kamen, fiel sofort der Begriff ‚androgyn‘. Die Medien zimmerten natürlich gleich einen sensationellen Trend:, Wunderbar, da haben wir endlich wieder mal einen kleinen Kult kreiert.‘ Ich wollte nur von Anfang an mit Nachdruck meine maskuline Seite betonen. Ich wollte aus dieser Rolle des Püppchens raus, in das bis zu dem Zeitpunkt ja die meisten Sängerinnen gedrängt wurden. Und das habe ich tatsächlich ja auch geschafft. Ich wollte den sexuellen Aspekt nicht auf die übliche Weise ausbeuten; deswegen habe ich den maskulinen Aspekt betont.

Jetzt kann ich es mir auch wieder leisten, weich zu sein. Ich habe mir auf der Bühne eine sichere Plattform geschaffen, um nun auch mehr von meinem weiblichen Sex zeigen zu können, ohne daß die Leute den Respekt verlieren.

Wenn ich mich also entschließe, bei einem Stück nur einen BH zur Hose zu tragen, gibt mir das ein sehr freies Gefühl — so als ob ein Mann sein Hemd auszieht, wenn ihm zu warm wird. Ich tu das einfach, weil ich es so will, basta. Mir ist es dabei auch reichlich egal, ob jemand meint, ich symbolisiere so die Ausbeutung der Frau. Ich will das so, weil ich das scharf finde, weil ich mich sexyfühlen will. „

Annies Freund Billy Poveda kommt, um seine Freundin abzuholen —- und um ihr sofort nahezulegen, von nun an möglichst ihre Stimme zu schonen; sie habe doch schon viel zu lange ihre kostbaren Stimmbänder strapaziert. Über Annies gescheiterte Ehe gibt’s keinen Kommentar, und der scheint auch überflüssig, da sich Miß Lennox und der Tänzer Billy offensichtlich prachtvoll verstehen.

Beim Rausgehen strahlt Annie noch mal über ihre Schulter: „Weißt du, das Tolle ist, daß ich heute niemandem mehr etwas beweisen muß. „