Asses for the masses


KÖLN – Kiepenheuer & Witsch dürfte sich in diesem Jahr gefühlt haben wie die britische Plattenfirma Decca, als diese 1962 den Beatles einen Plattenvertrag abschlug. Das Verlagshaus weigerte sich, das Literaturdebüt von Charlotte Roche zu veröffentlichen. Begründung: „Feuchtgebiete“ sei „pornografisch“. Reaktion der Autorin über ihr „zu 70 Prozent autobiografisches“ Buch: „Vielleicht ist das Buch wirklich ein Porno geworden, das wäre schön.“

Der 220-seitige Roman über die 18-jährige Helen Memel, die vom Krankenhausbett aus über die problembehaftete Beziehung zu ihrer Familie, ihren Körper und was man mit ihm nicht alles anstellen kann, nachdenkt, erschien schließlich bei DuMont. Kurz nach Veröffentlichung schoss der Titel auf Rang eins der Belletristik-Charts und wurde erst am 27. Oktober von dort verdrängt. Genau einen Monat zuvor hatte bereits die Theaterversion von „Feuchtgebiete“ Premiere gefeiert. Längst war das Werk zum Pop Phänomen des Jahres geworden. „Feuchtgebiete“ thronte sogar auf dem ersten Platz der internationalen Bestsellerliste des Online-Versandhauses Amazon. Bis Redaktionsschluss wurden 1,2 Millionen Exemplare verkauft. „Bild“ freute sich, endlich Rache an Roche üben zu können (Roche ist seit Jahren offen praktizierende Gegnerin der Zeitung): Das Blatt erfand einen „Zickenkrieg“ zwischen Roche und der Skandalrapperin Lady Bitch Ray und bescheinigte „Feuchtgebiete“ „minimales Niveau“ genierte sich allerdings nicht, dessen derbste Szenen auf www.bild.de zu kopieren.

Doch was bleibt, wenn sich der Sturm gelegt hat? Hat Röche tatsächlich eine Rebellion gegen Frauen auferlegten Hygienezwang angezettelt? Kehrt eine neue sexuelle Offenheit ein? Im März hob sich jedenfalls noch keine Hand, als Roche in „TV total“ die anwesenden Frauen, „bei denen am Poloch Haare sind“, dazu aufrief, sich zu outen. Ein Gesellschaftswandel braucht eben Zeit. Und den wird er auch haben. Denn „Perlenrüssel“ (Klitoris), „Blumenkohl“ (Hämorriden) und „Vanillekipferl“ (Schamlippen) werden 2009 Thema bleiben. Eine Verfilmung ist nur eine Frage der Zeit. Roche bestätigte bereits entsprechendes Interesse, stellte aber auch die Frage in den Raum, wer das denn sehen wolle. An einer Ausschlachtung ihres Erfolgs ist Roche nicht interessiert. Ihr Kommentar zum Vorschlag „Feuchtgebiete 2“: „Näääh, näh, mach’ich nich‘.“ Das wäre dann doch zu eklig.