Auf Den Erfolg Folgte Die Selbstfindung


Kreative Verwirklichung und göttliche Erleuchtung- anderthalb Jahre nach ihrem 'Throwing Copper'-Erfolg geben sich Live gereift

Ed ist erkältet. Mit heiserer Stimme versucht er, die hohen Töne von ‚Turn My Head‘ zu treffen. Vergeblich. Bei ‚Lakini’s Juice‘ schmeißt er schließlich das Handtuch, nichts geht mehr. Die übrigen drei – Chad Taylor, Patrick Dahlheimer und Chad Gracey – wirken besorgt. Es ist Mitte Januar im frostigen Lancaster, eine halbe Flugstunde von Philadelphia entfernt. Im einzigen Venue der Stadt, dem ‚Chameleon Club‘, proben Live die Songs ihres neuen Albums ‚Secret Samadhi‘ für ihre kommende Welttournee, die sie bis Ende 1998 gleich mehrfach um den Globus führen soll vorausgesetzt Eds Stimme spielt mit.

Interviews kann der junge Mann mit dem rasierten Schädel allerdings noch geben. Ed Kowalczyk, 24, ist ein ruhiger, spiritueller Mensch. Seit einigen Jahren ist er Jünger des Gurus adi-da, der eine moderne Version des Hinduismus propagiert. „Ich bin praktizierender Daist“, erklärt er schüchtern. „Allerdings bin ich darauf nur zufällig – oder eben durch göttliche Fügung – gestoßen. Und zwar durchs Internet – ich bin quasi sofort konvertiert.“ Glaubensbekehrung via Multimedia? Willkommen in den Neunzigern. Dabei stammen Live aus einer Umgebung, die ohnehin stark religiös geprägt ist: Pennsylvania ist die Heimat der Amish People, jenen Nachfahren niederländischer Einwanderer, die sich als Verfechter des reinen Glaubens verstehen und jegliche Technologie verteufeln. Kein Wunder also, daß Kowalczyk eine ausgeprägte Aversion gegenüber religiösen Fanatikern, Provinznestern wie sein Heimatdorf York und kleinbürgerlichen Mief hegt. Das sind genau die Themen, die ihn seit der Highschool beschäftigen und auch jahrelang die lyrische Seite der Band prägten. Doch damit ist jetzt erst einmal Schluß. „Unsere Texte sind kryptischer und weniger zugänglich geworden“, sinniert Ed. „Es sind Fragmente aus einer tieferen, befreiten Ebene meines Bewußtseins. Schließlich kann man mit Gefühlen viel besser kommunizieren, als mit Worten.“ Will sagen: Statt der symbolträchtigen, doch in sich geschlossenen, konzeptionellen Kurzgeschichten der ersten Alben ‚Mental Jewelry‘ und ‚Throwing Copper‘ offeriert der unscheinbare Sänger, der sich auf der Bühne zum emotionalen Monster wandelt, nun ein Stream Of Consciousness-Skelett aus bedrohlichen Visionen, Gedanken-Extrakten verschiedener Religionen, mystischen Figuren und bizarren Metaphern.

Ein spröder, nicht eben kommerzieller Ansatz, der allerdings mit Kowalczyks Skepsis gegenüber dem Überraschungserfolg der Jahre 1994/95 korrespondiert. Damals – so betont Mr. Ed – sei alles viel zu schnell gegangen. Folgerichtig wäre es nun an der Zeit, die Maschinerie zu bremsen und einen Richtungswechsel zu vollziehen. „Wir können jetzt viel relaxter sein. Der Erfolg hat es uns ermöglicht, unsere Musik auf eine neue Ebene zu führen.“ Erfolg macht frei. Nach der Trennung von ihrem langjährigen Stamm-Produzenten und Mentor Jerry Harrison (kein Talking, aber Heads) entledigten sich die vier auch gleich ihres Faibles für allzu pathetische Rock-Dramen. Einfach so – Strickmuster ausgereizt. ‚Secret Samadhi‘ bricht mit allem und jedem. Live nutzen den Erfolg ihres Platin-Seilers „Throwing Copper‘, um sich kreativ freizustrampeln und ihren Horizont zu erweitern. „‚Samadhi‘ ist auf jeden Fall weniger provinziell und ortsgebunden. ‚Throwing Copper‘ setzte sich in erster Linie mit der Umwelt auseinander, aus der wir kommen: York, Pennsylvania. Dieses Album hingegen wurde von einer Band geschrieben, die um die Welt getourt ist und viele Erfahrungen gemacht hat.“

‚Secret Samadhi‘ ist ein Befreiungsschlag, eine regelrechte Flucht aus dem Ghetto des Alternative Rock, ein musikalisches Experiment. Dabei gehen Live allerdings ein Risiko ein: Echte Hits enthält das Album auf den ersten Blick nämlich keine. Dafür ist das Werk viel zu anspruchsvoll und komplex. ‚Secret Samadhi‘ fordert vom Hörer ein nicht unwesentliches Maß an Konzentration. Und genau das ist definitiv nicht die Stärke der MTV-Generation mit ihrer Lust an oberflächlicher Kurzweil. „Wir sind einfach unfähig, Hits auf Bestellung zu schreiben“, sagt Kowalczyk mit einem Achselzucken. „Das einzige, worin wir wirklich gut sind, ist uns selbst immer wieder neu zu erfinden. Darauf können wir uns verlassen.“

Doch so sehr sie auch von der Notwendigkeit dieser ihrer Entwicklung überzeugt sind, so unsicher scheinen sie bezüglich ihrer Massenwirksamkeit. „Ob nun 100 Leute das Album kaufen oder 100.000 – das Wichtigste ist doch, daß diejenigen, die es kaufen, auch Qualität erhalten“, floskelt Gitarrist Chad ausweichend – um einen hochgeschraubten Anspruch anzufügen: „Etwas, das ihr Leben wirklich beeinflußt – genau wie es uns beeinflußt hat.“ Entweder wird ‚Secret Samadhi‘ ein Mega-Flop oder ein Giga-Seller. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt – Live spielen eben gern volles Risiko.