August 1996 – E-Bow The Letter


auf NEW ADVENTURES IN HI-FI Klanglich geprägt von dem Gerät, das der Titel erwähnt, ist „E-Bow The Letter“ ein typischer Vertreter von R.E.M.s schamloser Anti-Single-Singles-Strategie – schwer gepanzerter Avant-Folk-Roclc ohne das geringste Zugeständnis an Radio-Erwartungen. Der Gastgesang von Patti Smith unterstreicht MichaelStipes leidenschaftlichen, wortreichen Text, der auf einem nicht verschickten Brief an eine(n) Unbekannte(n) beruht. Was die beiden da so quält, ist für den Hörer nicht zu entschlüsseln. Überhaupt wirkt der Song, so seltsam faszinierend er auch ist. wie ein bewussterVersuch, überzählige Fans loszuwerden. Für devote und geduldige Fans ist er hingegen ein gefundenes Fressen.

PETER BÜCK: Ein „e-bow“ ist ein kleiner Magnet, der die Saiten vibrieren lässt und so einen eher klagenden, oboenmäßigen Klang abgibt. Robert Fripp hat ihn oft verwendet. Während der Punk-Ära war das Gerät absolut un-hip; das war auch der Grund, wieso ich mich dafür interessiert habe. Mike mills: Patti Smith haben wir 1995 kennen gelernt. Wir hatten sie schon bei einem früheren Song gebeten, mitzusingen, aber ihr Mann Fred, der damals noch lebte, hat sie ziemlich abgeschottet; er hat ihr nicht erlaubt, zu arbeiten, und ich bin nicht sicher, ob sie überhaupt wollte. Dann, ein paar Jahre später, hat sie darüber nachgedacht, wieder was zu machen, und wir haben sie zum Singen eingeladen – im „World Theatre“ in Chicago hat sie „Dancing Barefoot“ mitgesungen. Und nicht viel später willigte sie ein, bei „E-Bow The Letter“ mitzumachen.

Peter Bück, Mike Mills und Michael Stipe sprechen über ihre Zehn besten Singles. Einführungstexte david stubbs/uncut/ipc syndication Michael stipe: Wir waren groß darin, die unpassendsten Songs zu veröffentlichen, bloß um die Spannbreite des Radioprogramms zu erweitern, mehr gute Musik ins Radio zu kriegen. Das hat geklappt… für eine gewisse Zeit. „E-Bow The Letter“ hat uns in dieser Hinsicht den Todesstoß versetzt. Aber ich denke, es gehört zu den besten Sachen, die ich geschrieben habe.

9 Bad Oay

Oktober 2003 auf IN TIME – BEST OF R.E.M. 1988-2003) „BadDay „fügt sich in die Sammlung in time weniger ein, es ragt vielmehr kantig heraus. Ähnlich wie Wire in jüngerer Zeit auf die Schärfe und Härte ihrer pjnk-FLAG-Tagezurückgreifen, zieht „BadDay „seineEnergie aus der kollektiven Wut der Band über die Politik von George W. Bush und seinen neokonservativen Raufholden, besonders nach dem n. September2001.

MILLS: „Bad Day‘ ist mit Sicherheit ein zorniger Song, und wir sind mit Sicherheit wütend über unsere Regierung. Aber das Problem ist auch die Unterwürfigkeit der U S-Presse. Es ist deren Aufgabe, die Regierung in Frage zu stellen, und die plappern einfach munter alles nach, was Bush sagt. Es ist schrecklich. Amerika kippt zurzeit definitiv auf sehr böse Weise nach rechts. STIPE: Die Songs, die wir am Ende für das Best-of-Album ausgewählt haben, waren viel lauter, viel härter und direkter. Es ist derzeit nicht einfach, Amerikaner zu sein. Ich behaupte nicht, dass ich einer von diesen so genannten Experten in den 24-Stunden-Nachrichten-Kanälen bin, aber rein gefühlsmäßig würde ich sagen, das Land geht durch ein … Na ja, wir sind nun mal ein junges Land, und weil wir so beschissen mächtig sind, vergessen die Leute, dass es uns erst ein paar hundert ]ahre gibt. Wir sind wie Teenager: unverschämt, laut, eigensinnig; wir sind irgendwie großartig und gleichzeitig echt bescheuert, und dieses Land hat nie einen Verlust der Unschuld in dem Ausmaß erlebt, wie ihn dem. September brachte. Das wäre eine Tragödie gewesen, wenn es irgendwo auf der Welt passiert wäre, aber weil es in Amerika passiert ist… Die ganze Nation ist verhätschelt, kurzsichtig und geografisch derart abgeschnitten – so werden wir erzogen. Wenn du nicht sehr reich bist und eine ausgezeichnete Schulbildung genossen hast, ist das die Weltsicht, die dir eingetrichtert wird. Mexiko existiert nicht – das ist nur diese braune Drecklache unterhalb von Texas. Kanada ist dieses große, graue Hinterland über Detroit. Wir lernen nichts über die Welt. Der Anteil der Amerikaner, die einen Reisepass besitzen, ist schockierend klein. Und von Pearl Harbour mal abgesehen, war das effektiv das erste Mal, dass wir in unserem eigenen Land angegriffen worden sind. Ich glaube, zu einem bestimmten Grad werden wir von unserer derzeitigen Regierung verraten und betrogen, wenn es darum geht, warum Dinge irgendwo auf der Welt geschehen und warum gewisse Dinge bei uns geschehen. Sie arbeiten mit diesem ganzen Gefühlszeug, aber sie beantworten nicht eine einzige Frage, etwa warum das alles überhaupt passiert ist. Es geht nicht darum, unter die Oberfläche zu sehen, sondern man _ nimmt einfach die Wut, Frustration und Angst und bastelt daraus eine bestimmte Agenda. bück: „Bad Day“ war sicherlich die erste Chance, die wir hatten, unsere Meinung zu dem zu sagen, was zur Zeit in der Welt los ist. Es geht darum, dass die Medien alles und jeden dermaßen bestimmen, dass niemand mehr eine Wahl hat; man kriegt einfach gesagt, was man zu tun hat. So ungefähr: Hey, das und das ist dieses Jahr patriotisch, du musst damit einverstanden sein. Well – ich bin nicht einverstanden! Es treibt mich in den Wahnsinn, wie sie im heutigen Amerika alles hingedreht haben – wenn du mit dem „Präsidenten“, der gar nicht wirklich gewählt wurde, nicht einverstanden bist, bist du kein Patriot. Darüber hinaus sollte man denken, dass die Unterstützung der US-Truppen Aufgabe der Regierung ist. Doch während diese jungen Leute drüben im Irak sind und getötet werden, hat die US-Regierung neue Steuergesetze erlassen, die die Leistungen für Veteranenrenten und Schulen für Soldatenkinder beschneiden. Wenn ich da drüben wäre, bei 60 Grad Hitze, und mein Leben riskieren würde, um Ölfelder zu sichern, wäre ich ein bisschen sauer darüber, dass meine Rente verschwindet, damit Multimillionäre Steuergeschenke kriegen. Die zu kriegen ich übrigens das Glück habe!

8 Electrolite

Dezember 1996 auf NEW ADVENTURES IN HI-FI Verpackt in einfaches, aber bewegendes Pianospiel von Mike Mills, erwies sich „Electrolite“ als mäßiger Erfolg fürR.E.M., vielleicht nicht zuletzt deshalb, weilesan ihre besten frühen Sachen erinnert – mit Anklängen zum Beispiel an „(Don’tGo BackTo) Rockville“. In einem lufibildartigen Streifzug durch Hollywood und seine Ikonen erwähnt ein heiserer Stipe Jimmy Dean und Martin Sheen, wirkt dabei aber wie jemand, der sich zurückzieht, das 20. Jahrhundert verlässt: „I’m outta here“, krächzteram Ende und gibt damit dem Song»-}

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und dem Album, das der Song abschließt, ein Gefühl von Abschied.

stipe: Bei NEW adventures in hi-fi, schon als wir mit der Platte angefangen haben, sagte Peter: Dieses Album wird uns von einer ruhigeren, dunkleren Seite zeigen. Und ich sagte: Du meinst, so wie Nebraska? Und er sagte: Ja, genau. Also versuchten wir, NEBRASKA zu machen. Und er sagte, diese Bilder, die man aus einem Autofenster sieht, so sollte das Artwork für diese Platte sein. Eineinhalb Jahre später war das der Vorstellungshorizont, der zur Einordnung der Platte benutzt wurde.

7TheGreat Beyond

Dezember 7999 [auf MAN ONTHE MOON Mit „The Great Beyond“ macht sich Stipe zum zweiten Mal an das Thema, dem er zuerst den Song „Man On The Moon „gewidmet hatte, der Milos Forman zu seinem Film über das Leben des verstorbenen US-Komikers Andy Kaufinan inspirierte (und an dem Stipe als Executive Producer mitwirkte). Mit seiner großen, elektrisierenden Pop-Melodie ist es ein klassisches Beispiel fiir die Verschmelzung der zwei Dimensionen von R.E.M.: Qualität und Massen wirkung.

BUCK: Ich denke, Michael versuchte in dem Song eher andeutungsweise herauszuarbeiten, was Andy ausmachte, als es direkt beim Namen zu nennen. Ich mag den Song sehr. Ich denke, er hat was von Andy eingefangen. Er setzt sich richtig im Gedächtnis fest. stipe: Es war großartig, mit Milos Forman zu arbeiten, auch mit Jim Carrey, Courtney Love – Danny De-Vito ist ein absoluter Profi. Ich bewundere Ehrgeiz sehr, und wenn es ein Ehrgeiz ist, von dem man nicht weiß, woher er kommt und wo er hinführt, dann nimm ihn und benutze ihn, um etwas zu schaffen dafür sind wir hier, um etwas zu schaffen, also verdammt noch mal, tu es! Schluss mit dem Gerede! Und die Leute, die ich erwähnt habe, haben das erkannt. Wie alle Künstler fallen sie von Zeit zu Zeit auf die Schnauze, treffen falsche Entscheidungen und müssen sie öffentlich treffen, was den Preis noch erhöht aber, wow, das war eine tolle Erfahrung. Für uns als Band war es wichtig, an etwas zu arbeiten, etwas zu tun, ohne den Druck eines R.E.M.-Albums. Einen Film zu vertonen, für jemand anderen Musik zu schreiben, das war großartig, und es hat uns in eine Lage versetzt, in der wir dann fähig waren, REVEALzu machen. Ein wunderbarer Abstecher, der uns als Band echt gefordert und wieder zueinander gebracht hat. Es hat uns den Glauben zurückgegeben – unsere Überzeugung: Scheiß auf die Schwierigkeiten, scheiß auf alles, ich will mit euch in dieser Band sein.

6 Stand

August 1989 aufGREENl Mit beinahe Square-dance-artigen Tanzanweisungen und vokalen Einwürfen von Bill Berry und Mike Mills ist „Stand“, wie viele Tracks auf Green, eine leicht angeschrägte, aber effektive Übung in musikalischem und textlichem Erfindungsreichtum, die entweder als ein Haufen cleverer Blödsinn oder als existenziellei; persönlicher oder politischer Ruf zu den Waffen funktionieren kann. Alles hängt davon ab, wie ernst man es nehmen mag -jedenfalls ist der Song ein weiteres Beispiel fiir R.E.M.s Zwiespältigkeit in einer Zeit, als sie nicht ganz sicher waren, an welcher Position in der Pop-Nahrungskette sie standen, und sehr vorsichtig mit ihrem Erfolg umgingen.

mills: Das ist ein großer, stupider Popsong und auf seine Art sehr dumm. Dennoch ist die Botschaft, die er übermittelt, gut. Hüte dich vordem, was du bist, wo du bist und warum du dort bist. Allumfassender kann man nicht werden. Bedenke, was du tust und warum. Es ist fast eine Art „carpe diem“-Song. buck: Ich habe das Gefühl, dass es in dem Song vor allem darum geht, dein Leben unter Kontrolle zu bekommen, zu sehen, wo du stehst, und dann da zu sein, was du bist. Wenn man den Song vor 10.000 Leuten spielt, ist es wieder was anderes – oder man kann ihn auch auf einer Party spielen und dazu tanzen. 1987 waren wir auf Tour, und in Amerika haben wir in richtig großen Hallen gespielt. Das und dass wir eine neue Plattenfirma hatten und einen ziemlich neuen Produzenten, hat uns auf den Gedanken gebracht: Hey, holen wir das Schlagzeug mal so richtig nach vorne. Ich könnte das ganze Album neu mischen und eine viel wärmere Platte draus machen. Bei GREEN haben wir aufgehört, allein unserer Eingebung zu folgen, und begonnen, darüber nachzudenken, was wir tun. STiPE:Esistein Weckruf- ich denke, damals fand ich das nötig. Politisch und überhaupt.

5 Man OnThe Moon

November 1992 lauf AUTOMATIC FÜR THE PEOPLE Der Song über den Comedian Andy Kaufmann mit den breiten Slide-Gitarren und seiner epischen Simplizität gehört zu den wärmsten, zärtlichsten R.E.M.-Songs überhaupt. Erhaben und nostalgisch scheint der Song Kaufmann, der einige Jahre vorher an Krebs gestorben war, weniger zu betrauern als ihn zu neuem Leben zu erwecken was er letztlich auch tat, denn er verschaffte dem Komiker postum ein höheres Ansehen als zu seinen Lebzeiten, als er das Fernsehpublikum mit ausgefeilten Possen und ringenden Frauen quälte.

stipe: Es war nie meine Absicht gewesen, ihn so sehr wiederzubeleben, wie ich es tat, indem ich diesen Song schrieb. Ich hatte auch keine Ahnung, dass der Song so wirkt, wie er dann gewirkt hat. Er war absolut einzigartig. Ich glaube nicht, dass ich mit dem Kerl gerne an einem Tisch beim Abendessen sitzen wollen würde, aber aus einer gewissen Entfernung … Er hat im Fernsehen das gemacht, was ich vorher gemeint habe, was ich im Radio erreichen wollte. Er hat einfach die Türen weit aufgerissen. mills: Andys Ruf ist bestenfalls zweidimensional, besonders in Großbritannien, wo man ihn, wenn überhaupt, höchstens als Latka in „Taxi“ kennt. Aber in Amerika war er richtig unpopulär. Ein echter Komiker war er gar nicht, sondern ein Performance-Künstler, der manchmal lustige Sachen gemacht hat, ein Agitator, ein Provokateur. Er liebte es, die Leute an der Nase herumzuführen und sie wütend zu machen. Bei „Saturday Night Live“ ist er rausgekommen und hat sich aufgeführt wie Mighty Mouse. Schließlich ist er aber so unbeliebt geworden, dass die Show, wahrscheinlich angestiftet von Andy selbst, eine Abstimmung durchgeführt hat, bei der die Leute gefragt wurden, ob er wieder auftreten solle. Und sie entschieden sich für Nein. BUCK: Wir alle haben ihn wirklich sehr gemocht. Und weil er unter Musikern generell so beliebt war, habe ich einige Zeit gebraucht, um zu erkennen, wie wenig die Welt insgesamt mit ihm anfangen konnte. Er hat nie aufgehört, die Sache immer weiter zu treiben, bis zu dem Punkt, an dem man sich ehrlich gefragt hat, ob er tatsächlich wahnsinnig oder schizophren ist, so weit war er jenseits der Norm dessen, was man tun darf. Muss man sich das mal vorstellen – ein Komiker, der dich nicht zum Lachen bringt. Na gut, wenn man die Sache bedenkt, gibt es davon schon noch ein paar, aber: ein Komiker, der nicht mal versucht, dich zum Lachen zu bringen, der es darauf anlegt, dass du dich unbehaglich fühlst.

U Radio Song

November 1991 auf OUTOFTIME] Wie signifikant und innovativ dieser Rap/Rock-Crossover mit dem Beitrag des HipHoppers KRS-One war, wurde damals kaum bemerkt, besonders in Großbritannien, woeineVielzahlvon Rockbands gerade dabei waren, ziemlich überstürzt irgendwelche „Dance-Elemente“ in ihrer Musik zu entdecken. Es war aber kein Versuch des Ausverkaufs, um mittels einer Image-Änderung mit der Mode Schritt zu halten, sondern eher ein einmaliges Experiment, das weitgehend ungenützte Kapazitäten zeigte, in Sachenfunky Riffs Höchstleistungen abzuliefern. Der Gast-Rap von KRS-One unterstreicht das Thema des Songs, das Stipe umkreisteine gemäßigte Variation von Morrisseys „Hang the DI „-Wortschwall. -»

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bück: Das war lustig: Als wir für Pressetermine nach Großbritannien kamen, sagten alle: „Oh, das klingt total baggy!“ Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was „baggy“ heißen soll. Ich dachte, das ist eine Beleidigung; was weiß ich, so wie ein alter Mann „baggy “ ist oder irgend so was. STIPE: Ich mag den Song. Vor ein paar Jahren hab ich einen HipHop-Track gemacht, der noch nicht veröffentlicht ist – ich bin als Backgroundsänger zu hören. Der Typ, der das produziert hat, ist ein guter Freund von mir. Und er hat mir was gesagt, worauf ich nie gekommen wäre, nämlich dass wir die erste weiße Band waren, die jemanden aus dem HipHop in ihre Musik reingebracht hat. Und ich: Moment maL- was ist mit Run DMCund Aerosmith? Und er meinte: Nein, da haben Run DMC „WalkThis Way“ gecovert und Aerosmith dazugeholt. Und nicht nur das, ihr seid zum Paten selbst gegangen, zu KRS-One, dem Kerl, der die Sache definiert hat.

bück: Ich glaube nicht, dass die Leute kapiert haben, was es bedeutete, KRS-One dazuzuholen. Das hat auch damit zu tun, dass der Song nicht im Radio laufen durfte, weil ein Rap drauf war. Und überhaupt ist das kein Rappen, sondern Toasring. Zweitens nimmt der Rap nicht einen so großen Teil des Songs ein, sondern ist nur im coolen Part zu hören. Ich fand, es war cool, das zu machen, ein Weg, um zu sagen: Hey, wir sitzen alle im selben Boot.

MILLS: Ob wir so was noch mal machen könnten? Schon möglich. Es müsste aber auf natürliche Weise passieren und sich gut anfühlen. Niemand fände es okay, wenn so was erzwungen wirkt oder so, als ob man mit Gewalt versucht, trendy zu sein. Aber dass wir das vor zwölf Jahren gemacht haben, macht die Sache okay. Niemand kann uns vorwerfen, wir seien auf den Zug aufgesprungen, weil wir’s schon vor so langer Zeit gemacht haben.

STIPE: Wenn man zurückgeht bis etwa 1968 – da gab es einen wilden Moment, als beim Radio Spießer und Langweiler das Sagen hatten, die überhaupt keine Ahnung hatten, was los war, und deswegen Leute anheuerten, damit die ihnen zum Beispiel sagten, dass Jim Morrison ein guter Sänger ist. Aber Ende der 60er hat sich das geändert, und seitdem sind die Radioprogramme in Amerika totaler Mist. Sogar in Großbritannien hat es seine Grenzen, aber die Geschmäcker sind viel unterschiedlicher, und die Leute haben keine Angst, Dinge zu mischen.

3 Everybody Hurts

April 1993 (auf AUTOMATIC FOR THE PEOPLE Ein R.E.M.-Song, derein langes Nachleben hatte. Seine Botschaft wird schon im Titel auf den Punkt gebracht. Sie ist ungewöhnlich einfach, direkt und ungetrübt uon Anspielungen und freien Assoziationen. DieTransparenz dieser Botschaft ist ihre Stärke. Getragen wird sie respektvoll uon einem Stadion-Rock-freundlichen Arrangement, das aberfrei ist uon Bombast, Wichtigtuerei und billigen Crescendos. Neue Bedeutung gewann der Song Mitte der neunziger Jahre, als Kurt Cobains Tod und das Verschwinden von Richey Edwards (Manie Street Preachers) die unterschwellige Stimmung von unerbittlichem Nihilismus und Verzweiflung bewusst machten. Viele junge Menschen waren damals von dieser Stimmung erfüllt, trotz des politischen Tauwetters und trotz des relativen Wohlstands in jener Zeit. Der „Kult derVerzweiflung“ warfür kurze Zeit ein großes Thema in den Medien, und dann, nach dem Abklingen der Kampagnen, wurde „Everybody Hurts“ zur universellen Hymne des Trostes in einer scheinbar spaßigen, hedonistischen undherzlosen Welt. Michael Stipe, der persönlich oft scheu, exzentrisch und verschlossen wirkt, ist hier verantwortlich für einen der großen Momente von Mitgefühl undVerbindungzu einem Massenpublikum in der Rockmusik.

MILLS: Michael hat mit Sicherheit einen guten Riecher für das, was geschrieben werden muss, aber ich bin da ein bisschen zurückhaltend. Von heute aus betrachtet, gab es da auch ein Zufallsmoment – es ist nicht so, dass wir vorhersehen hätten können, was, sagen wir mal, mit Kurt Cobain passieren würde. Rückblickend muss man feststellen, dass der Song in Einklang mit der Zeit stand, aber ich glaube nicht unbedingt, dass das unser Verdienst war. STIPE: „Everybody Hurts“ war eine Anspielung auf „Love Hurts“ (geschrieben von Country-Komponist Boudeleaux Bryant, gecovert von Nazareth und den Everly Brothersj. Wir waren uns nicht wirklich bewusst, was wir da angerichtet hatten. Ich liebe diesen Song und kann ihn nicht mal mehrals meinen eigenen bezeichnen. Ich habe das Gefühl, er gehört jetzt der ganzen Welt. Er ist schwer zu singen, besonders im Mittelteil – aber wir haben ihn live gespielt, und ich glaube, ich habe inzwischen einen Weg gefunden, wie es funktioniert: indem das Publikum die hohe Stimme singt und ich die tiefe. buck: Das ist die R.E.M.-Nummer, die immer wieder für Spendenaufrufe angefragt wird. Daher hören Leute, die sonst überhaupt nichts mit Rockmusik am Hut haben, immer diesen Song, meistens- ohne mich jetzt darüber lustig machen zu wollen – in Verbindung mit Fährunglücken oder Kampagnen für Erdbebenopfer. „Everybody Hurts“ taucht also immer an sehr unrock’n’rolligen Orten auf. Wir nehmen kein Geld für Verwendungen dieser Art. Wenn ich manchmal ältere Leute in Flugzeugen treffe und sie mich über R.E.M. ausfragen, merke ich, dass sie immer diesen einen

Song kennen, und sie verbinden ihn immer mit einer schrecklichen Katastrophe.

STIPE: Ich habe lange gebraucht, bis ich eingesehen habe, dass ich, wenn ich etwas fühle, mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht der einzige Mensch auf der Welt bin, der das fühlt. Und wenn ich furchtlos genug bin, zuzulassen, dass das Gefühl sich in einen Song hineinarbeitet – mein Beitrag zu dem, was wir machen -, dann treffe ich normalerweise genau ins Schwarze. Yeah, heute schwenken sie Mobiltelefone dazu. Das ist reizend. Ich war schon ein paarmal Empfänger von solchen Anrufen!

BÜCK: Ich weiß noch, wie Mitte der 90er Kokain wieder aufkam, so richtig im großen Stil. Das ist mit Sicherheit ein Zeug, das viele Leute in die Verzweiflung treibt. Und ich spreche nicht nur von kaputten Musikern, ich spreche davon, dass es sich bis weit in die Gesellschaft hinein verbreitet hat, an Orte wie die Wall Street, wo alle Koks und so Zeug genommen haben. Ich bin überzeugt, dass das wirklich eine gewaltige soziale Wirkung hatte. Du haust dir jede Menge von dem Zeug rein, und nach einer Weile machen deine natürlichen Glückszentren, die Endorphine, einfach zu. Du kannst kein „echtes“ glückliches Hochgefühl mehr empfinden, weißt du, wenn du zum Beispiel im Park spazierengehst oder was auch immer.