Before Sunrise
Die Kritiker der Berlinale wittern ein Politikum, doch die Realität ist viel romantischer: July Delpy und Ethan Hawke brillieren als ungleiches Paar
Zwei oder drei Dinge in diesem Film sind völlig unmöglich. Unter normalen Umständen zumindest. Daß er 100 und eine Minute lang nichts weiter zeigt als eine Unterhaltung zwischen einer Frau und einem Mann, wird sicherlich nicht jeder Kinofreund im Zeitalter von ‚Speed‘ und ‚Naked Gun 33 1/3‘ für eine gute Idee halten. Wieso sollte man den Film von ‚Dazed and Confused‘-Macher Richard Linklater dennoch sehen wollen? Weil July Delpy (‚Homo Faber‘) und Ethan Hawke („Reality Bites‘) zwei Charakterdarsteller sind, denen man gerne zusieht. In jeder Lebenslage. Mit profillosen Schauspielern wäre der Film ein Desaster. Mit den beiden ist der Film wie eine betrunkene und magische Nacht unter Freunden, an die man sich gern und lange erinnern wird. Es beginnt damit, daß der amerikanische Lebenskünstler Jesse in einem Zug die bleiche Schönheit Celine trifft, ihres Zeichens Studentin aus Paris. Er überredet sie, mit ihm zusammen in Wien den Zug zu verlassen und die Nacht gemeinsam zu verbringen. Das tun sie dann auch: Sie spazieren durch Wien, berauschen sich an der morbiden Pracht der österreichischen Metropole und an ihren eigenen Traumbildern. Sie gehen aufeinander zu und entfernen sich wieder, immer in der Angst, zu viel von sich preiszugeben. Und 14 Stunden später, als sie ununterbrochen über sich und ihre Anschauungen gesprochen haben und trotzdem alle Fragen offen sind, scheint alles möglich. In einem Interview sagte Hawke: „Kennen Sie die klassische Wunschvorstellung eines durchschnittlichen Amerikaners? Er lernt eine Französin kennen, belabert sie, legt sie flach und sieht sie nie wieder, kann aber vor seinen Freunden ein Leben lang damit protzen. Genau das hat uns nicht interessiert.“ Stimmt: einfache Lösungen mutet ‚Before Sunrise‘ dem Publikum nicht zu. Hier versuchen zwei Menschen, sich zu verständigen. Daß es sich dabei um Vertreter zweier Nationen handelt, wurde auf der Berlinale zum Politikum hochgeredet. Dabei ist es so einfach: Jesse und Celine verlieben sich ineinander. Wir können dabei zusehen. Fast zwei Stunden lang. Daß wir gern länger dabei wären, spricht sicher nicht gegen den Film.