Berliner Jazztage ’78


Frisches Blut sollte den Berliner Jazztagen, Deutschlands weltberühmtem Festival, in diesem Jahr zugeführt werden - mit der Unterhaltungsmusik afrikanischer Metropolen. Eingeflogen wurde daher aus Lagos samt 27 Ehefrauen und 14 Musikern der nigerianische Superstar und (ernsthafte) Präsidentschaftskandidat Fela Anikulapo Kuti. Doch das war eine Fehlbesetzung: Sein majestätisch strahlender Ruhm verblaßte neben mitteleuropäischen Talenten und Temperamenten.

Eine Augenweide bot zwar Kutis Show in der Philharmonie – musikalisch jedoch hatte das jazzkundige Publikum packendere Inhalte erwartet. Simple Rhythmen gaben die sechs Trommler vor. Vier Bläser mit Kuti am Tenorsaxophon legten darüber kurze, im Frage- und Antwortspiel hin und her geworfene, roh gehauene Riffs. Dazwischen zirpsten sechs Sängerinnen mit dünnen Stimmchen erotisierende Kontraste. Sechs Tänzerinnen wirbelten und stampften in einer szenischen „Gerichtsverhandlung“ über Kolonisatoren und Ausbeuter über die Bühne. Der delikate Karajan-Tempel wurde dabei zur frivolen Turnhalle degradiert.

In Naivität beschränkt, hatten die politischen Parolen von Parteigründer Kuti – der vorgibt: Meine Musik ist keine Unterhaltung, sondern dient der Revolution! – wenig Echo. Bei weiblichen Emanzen stieß er auf unverhüllte Mißachtung, weil Kuti seine Weibchen wie einen Harem behandelte. Als albern nahm sich sein Leibdiener aus, der ihm fortwährend angezündete Glimmstengel zusteckte und ihm, ohne ein Wort, das Saxophon reichte oder abnahm. Bei aller abzulehnenden europäischen Hochnäsigkeit gegenüber fremden Kulturen bleibt hier doch die Frage: Welchen Eindruck würde wohl Peter Alexander in Nigerias Haupstadt Lagos hinterlassen?

Dollar Brand, jetzt: Abdullah Ibrahim, vermochte in diesem afrikanischen Rahmen mit einer arabisch gegurgelten Gottesanrufung tiefer zu überzeugen. Sein Klavierspiel, obwohl an der europäischen Klaviertradition anknüpfend (die das Klavier als Orchesterersatz bemüht), bewirkt mit schwerer Süße und High-life-Melodik durchaus afrikanisch gefärbte Stimmung.

Liebeslieder voll von schmeichelnder Wärme, aber auch eine Würdigung südafrikanischer Freiheitskämpfer sang mit weichem, auf europäischen Geschmack abgestimmten Timbre Miriam Makeba. Zu einem kleinen Skandal kam es, als der gemeinsame Auftritt von Brand und Makeba mit 25 Minuten zu kurz geriet und das Publikum (2.200 Plätze) sich vernatzt fühlte. Klopapierrollen trudelten von den Rängen, die Bühne wurde besetzt. Erst nach ungeduldigen Sprechchören versuchte der künstlerische Leiter George Gruntz, die Veranstaltungsmechanismen – nicht erschöpfend zu rechtfertigen. Erfolg des Publikumsaufstandes: Die Unbefriedigten durften für den Makeba-Alleinauftritt im Saal bleiben.

Noch einen Protest gab es im Sonntagnachmittagskonzert, das in Berlin die Funktion einer Art von progressivem Sandkasten hat. Fünf Programmpunkte wurden hier durchgehetzt: Gunter Hampels Galaxie Dream Band, Christoph Spendel und Gordon Beck Solopiano, das Duo Christmann/ Schönenberg, die Gruppe von Eje Thelin aus Schweden und Uli Beckerhoffs Riot. Sie erhellten die aktuelle europäische Szene; deutlich wurde damit, wie stilistische Kristallisationen immer neue Facetten bilden. Der amerikanische Einfluß tritt gegenüber eigenständigen Gestaltungsprinzipien beständig weiter zurück (wofür schließlich auch der auf Afrika gelegte Schwerpunkt spricht). Dieses Konzert und der Auftritt des Trios Azimut aus London, war eine zwar wichtige, aber beklagenswert zu kurz geratene Seite des aus Afrika, Amerika (je vier Konzerte) und Europas programmatisch gebildeten „Dreiecks“ der diesjährigen Jazztage.

Zwei USA-Bigbands lieferten sich eine Schlacht, in der Thad Jones/ Mel Lewis mit sensibler wie vitaler Dynamik über die unerfahrenen Neulinge des Altmeisters Woody Hermann triumphierten.

Als neue Saxophon-Hoffnung empfahl sich der junge, weiße Amerikaner Benny Wallace, dessen urtriebhafte Schreie wie tief aus dem Bauch kamen. Nach solchen Talenten aufmerksamer zu suchen, müßte eher die Aufgabe der Jazztage sein, als merkwürdige Stars zu kaufen für teures Geld (man sprach von 200.000 und 300.000 Mark für Fela Anikulapo Kuti, verlangt haben soll er beim ersten Kontakt vier Millionen Mark!). Im Eröffnungskonzert begeisterte als Flöten-Derwisch auch Jeremy Steig, nur hatte er zeitweise Trouble mit den diversen Querflöten.

Ein schwaches Licht im Berliner Panorama war (im zweiten Konzert) Mike Brekker, den man auch von unzähligen Jazz-Rock-Platten her kennt; er wird wohl so leicht den Schund kommerzieller Platten nicht abschütteln können.

Schöne Melodien hatte sich der Gitarrist Pat Petheny ausgedacht; leider ertranken die jedoch in überquellenen Elektro-Sounds. Weniger Strom hätte in der akustisch hinreichenden Philharmonie mehr Genuß gebracht.

Mit einem Tribut an Charlie Parker klang das Mammutprogramm von neun Konzerten aus. Jay McShann, Dexter Gordon, Howard McGhee (alte Mitstreiter Parkers) und Charles McPherson offenbarten somit, wie weit der Einfluß des Bebop der vierziger Jahre in die gegenwärtige Jazzent Wicklung hinüberreicht.

Unberührt von solchen Strömungen wirkten die Musiker beim alternativen „Total Musik Meeting“ der Free Musik Produktion (FMP) im benachbarten Quartier Latin: Fred van Hove, Irene Schweizer und Elmar Krähling (jeweils Solopiano), das Trio Peter Brötzmann mit Harry Miller und Louis Moholo, Tristan Honsinger (Cello) mit Raphael Garrett (alles) und Radu Malfatti (Posaune), das Duo Albert Mangelsdorff/ Steve Lacy. Mit „Africa Djole“ war auch hier eine Gruppe aus Afrika, aus Guinea nämlich, zu hören: um einige Male urwüchsiger als Kuti. Abenteuerliche Intervallsprünge und rhythmische Verschachtelungen bot das Mangelsdorff/Lacy-Duo (Posaune/Sopransaxophon). Peter Brötzmann hat mit neuen Mitspielern zu weiterhin ungebrochener Kraft gefunden; auch bei ihm spielte mit Louis Moholo ein Afrikaner. Unbändigen Ulk, der jedoch die Problematik des Konflikts von Show und Kunst beinhaltete, verzapfte das Honsinger-Trio. Allerdings hätte dies beim „offiziellen“ Festival in der steifen Philharmonie kaum mehr als entrüstetes Erstaunen herausgefordert; in der hemdsärmeligen Kneipenatmosphäre des Quartiers aber geht’s, da machten einige verstreute Zuhörer sogar mutig mit.

Aufsehen erregte die Workshop Band von Uli Gumpert aus Ostberlin. Nicht nur, weil bis fast zur letzten Minute unentschieden blieb, ob sich der Eiserne Vorhang für sie öffnen würde. Während westdeutsche Freejazzer sich gern in unkontrollierten Kollektiveruptionen ergehen, hatte Gumpert eine komplexe Suite konzipiert. Zwischen den aus bodenständiger Volksmusik gespeisten Abschnitten – durchaus ernsthaft und eben nicht als Gaudi verarbeitet – brachen immer wieder Passagen mit Solo- und Kollektivimprovisationen auf, vorangetrieben von dem kraftstrotzend und einfühlsamen trommelnden Günter „Baby“ Sommer. Auf diesem Wege könnte sich in der DDR die improvisierte Musik individuell und fruchtbar weiterentwickeln.

Frisches Blut kam also nicht aus dem Süden, sondern aus dem Osten, und nicht zu den offiziellen Jazztagen, sondern zum alternativen, von Musikern selber durchgezogenen Total Musik Meeting. Das gibt zu denken.