Besser bechern: Woher kommt eigentlich der Coffee to go?


Überall begegnen einem die Pappbecher der To-go-Kultur. Wir haben festgestellt: Die Ursprünge des Kaffees auf die Hand liegen über 100 Jahre zurück.

Einmal war der Kaffeeautomat kaputt. Also nicht ganz kaputt: Eine der vier Brüheinheiten funktionierte nicht. Man kennt das vom menschlichen Herzen, da will manchmal eine Klappe nicht mehr, von einem Tag auf den anderen. Man kann die Herzklappe dann reparieren oder sogar austauschen. Geht bei der Kaffeemaschine auch, aber trotzdem: Wenn an einem Freitagmorgen in einem Coffeeshop an einem deutschen Großstadtbahnhof plötzlich ein Viertel weniger Kaffee ausgeschenkt wird als sonst, bildet sich eine Schlange. Eine ziemlich lange Schlange. „Fünf Minuten“, sagen dann die schmuck uniformierten Baristas und blicken bedauernd. Die Leute haben ja keine Zeit mehr. Vor allem nicht auf dem Weg zur Arbeit.

Coffee to go ist der Versuch, aus 24 Stunden 24 ½ zu machen

Keine Zeit. Darin liegt wohl die Ursache dieser ganzen Angelegenheit. Vielleicht auch in der bloßen Befürchtung, keine Zeit zu haben. Man versucht also, sie übereinanderzuschichten wie ein Trifle. Wer seinen Kaffee im Zug trinkt oder im Gehen oder während des Autofahrens, meint nun, nicht der Schwerkraft, aber doch der Uhr, ein Schnippchen zu schlagen. Der To-go-Konsum ist der Versuch, aus 24 Stunden 24 ½ zu machen. Gleichzeitig, und das ist das Schändliche, wird damit das Innehalten beerdigt. Der Espresso in der kleinen Bar an Bahnsteig 14. Am klebrigen Tresen heruntergekippt, dazu ein abgepackter Keks und ein flüchtiger Blick in den Sportteil. Die Tasse Milchkaffee im Café am Eck. 20 Minuten Ruhe vorm Hamsterrad Büro. Ein paar Blicke auf den Bürgersteig, wo die Sonne kleine Bilder malt. Zumindest die kurze Idee, da jetzt für immer sitzen zu bleiben. Diese Verhaltensweisen gelten heute als beinahe ungehörig.

Einen Coffee to go in der Hand zu haben, ist 2015 so normal wie die Hand selbst

Wo das alles angefangen hat, ist eigenartig unklar. Sicher, man kann Indizien sammeln, am besten in der eigenen Biografie. Die Stationen abfragen, die man im bisherigen Leben zurücklegte. Beim Schreiber dieser Zeilen wären das folgende: bayerisches Vorstadtgymnasium, Oberstufe, Mitte der 90er-Jahre. Den Kaffee holt man im gelben Kabuff im Untergeschoss beim mürrischen Herrn Krabbenhöft, er kostet 1,20 Mark. Aber man bekommt ihn im Porzellanbecher, den man danach freundlich zurückbringt. Papp-, Plastik- und Styroporbecher existieren, aber eher in einem Paralleluniversum. Wandertage, Exkursionen, rotwangige Witwenrunden im Eurocity. Der Habitus: wenig solide. Der Inhalt: alles Flüssige, vom Sekt bis zum Tee. Kaffee spielt noch keine große Rolle. Dann kam Starbucks.

Der sympathische Multiplayer aus den Staaten, über den wir später noch mehr erfahren werden, machte sich Anfang des Jahrtausends in Deutschland breit, und wo das mit der Breite nicht funktionierte, dienten Läden, die nach dem gleichen Prinzip aufgebaut waren, als Surrogat. Das Prinzip: riesige Becher. Viel Milchschaum. Schwere Möbel aus Leder und Polster. Und die Möglichkeit, seine Kaffeespezialität einfach mitzunehmen. Dass die riesigen Becher sehr viel Geld kosteten, sei der Vollständigkeit halber erwähnt, aber hey: Was Terminwarenhändler in NYC oder Musiklehrer in Seattle durch den Tag bringt, kann doch nicht schlecht sein!

Mit dem neuen Jahrtausend folgte dann die nächste Ebene des To-go-Genusses: die Postulierung als Normalität. Einen Coffee to go in der Hand zu haben, ist 2015 so normal wie die Hand selbst. Manchmal kostet er 75 Cent und schmeckt nach Pferdemist. Aber auch die Premium-Läden, die in Williamsburg, im Glockenbachviertel, in Omotesando oder in Södermalm vom handgeschreinerten Holztresen aus ihre Third-Wave-Spezialitäten ausschenken, verkaufen einen guten Teil ihrer Ware auf den Bürgersteig hinaus. Hipster hetzen bisweilen ebenfalls.

Schuld trägt (unter anderem) die Spanische Grippe. Und Lawrence Luellen

Wir müssen uns korrigieren. Eigentlich ist völlig klar, wo das alles begann. 1907 erfand Lawrence Luellen den Pappbecher der Gegenwart. Keinesfalls, um ihn mit Kaffee zu befüllen. In den USA der Jahrtausendwende gewannen Abstinenzler zunehmend Einfluss auf den Lebensstil der Bevölkerung: Wasser wurde als gesunde und bekömmliche Alternative zu Bier und Schnaps postuliert. Die ersten Modelle Luellens wurden also in Kombination mit einem Wasserspender ausgeliefert und waren noch recht fragil. Gute zehn Jahre später fegte die Spanische Grippe einmal um die Welt. In den USA starben mehr als 500 000 Menschen. Die hygienischen Vorteile des Papierbechers wurden ungeplant zum Verkaufsargument. Zur gleichen Zeit trat Kaffee seinen Siegeszug durch die Vereinigten Staaten an. Zu einem Getränk für die breite Masse wurde die Bohne allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Preise für Ware, Transport und Verpackung fielen.

Es dauerte noch einmal 20 Jahre, bis der erste Coffee to go über den Tresen wanderte. Eine Filiale der Kiosk- und Imbisskette 7-Eleven im New Yorker Stadtteil Long Island fing 1964 damit an, Heißgetränke zum Mitnehmen auszuschenken. Damals noch das Material der Wahl: Styropor oder Kunststoff. Drei Jahre später wurde der Deckel erfunden. Damals übrigens noch ohne diesen Buckel, den wir heute kennen: Den brachte eine weitere Dekade später Starbucks ins Spiel, ein 1971 in Seattle gegründetes Handelsunternehmen, das ab den 80er-Jahren Kaffee nicht nur verkaufte, sondern auch aufbrühte und innerhalb von 15 Jahren über 600 Filialen eröffnete. Der Sinn des Buckeldeckels: Platz für Milchschaum zu schaffen. -Starbucks-Manager Howard Schultz hatte auf einer Italien-Reise Espresso, Cappuccino und Latte Macchiato kennengelernt und war begeistert. Heute verkauft alleine seine Kette vier Millionen Kaffee pro Tag.

640 000 Dollar für einen Coffee to go

Manchmal hat Coffee to go seine Tücken. Nicht nur oben erwähnte ideologische, sondern auch ganz handfeste. Wer sich und seinen Kaffeebecher allzu unvorsichtig bewegt, muss mit der Schwerkraft rechnen. Ein Drittelliter Kaffee raus aus dem Becher, rauf auf Hose, Tasche, iPhone, U-Bahn-Sitz. Nicht schön, manchmal sogar gefährlich: 1994 fügte sich Stella Liebeck, eine ältere Dame aus New Mexico, mit einem Coffee to go von McDonald’s so starke Verbrennungen zu, dass sie operiert werden musste. Sie erstritt vor Gericht 640 000 Dollar. Bitte trinken Sie mit Bedacht!

Dieser Artikel ist in der ersten Ausgabe von me.URBAN erschienen – seit 23. April 2015 am Kiosk erhältlich!

>>> zur Direktbestellmöglichkeit

>>> Folgt me.URBAN jetzt auf Facebook!