Burning Spear – Sensibler Pragmatiker
Spear ist ein komplizierter, schwieriger Mensch. Von Stimmungen abhängig, wie kaum ein anderer Reggae-Künstler. Gute Unterhaltung für den Preis einer Eintrittskarte garantiert er kaum, trotzdem sind seine meisten Konzerte von hoher Intensität und seine zweite Europa-Tournee war ein Erfolg.
Noch 30 Kilometer bis Düsseldorf“, signalisiert der Busfahrer. Nach der gähnenden Langeweile einer stundenlangen Autobahnfahrt: setzt nun angesichts der rußgeschwärzten Bohrtürme, Kohlehalden und Raffinerien eine hektische Betriebsamkeit ein. Die Vorboten der rheinischen Schwerindustrie nötigen den überwiegend jungen Mitgliedern von Spears „Burning Band“ nachhaltig Respekt ab. Lediglich Drummer Nelson Miller zeigt sich von der geballten Präsenz babylonischer Infrastruktur unbeeindruckt und blättert derweil interessiert eine altere ME-Ausgabe durch, wo er unversehens … auf Matthais Strzodas HAIL HIM-Rezension stößt. „5 stars“, stellt er hocherfreut fest. „Irie, dem brother is really nice… ‚Tourneealltag. Babylon by bus. Man demonstriert nach der wohlwollenden Resonanz des vorabendlichen BRD-Auftaktgigs in Mannheim verhaltenen Optimismus, lediglich Winston Rodney scheint dem Elan der Crew sichtlich nichts abgewinnen zu können. Durch Coochy, Koch und Ansager in einer Person, vom Rest der Mannschaft hermetisch abgeschirmt, verharrt Spear während der ganzen Fahrt regungslos in seinem Sitz und wirkt vollkommen unansprechbar. Bei der Ankunft im Graf Adolf-Hotel, einem jener gesichtslosen Nobelschuppen in der Düsseldorfer Innenstadt, wartet er zunächst einmal bis die anderen eingecheckt haben, bevor er sich von Coochy zu seinem Zimmer geleiten läßt. Die Musiker vertreiben sich indes die Zeit bis zum Soundcheck mit einem kleinen Fußballmatch in der Rezeption. Was den grauhaarigen, distinguiert wirkenden Portier, der schon angesichts des exotischen Anblicks seiner neuen Gäste irritiert schien, bald zur Verzweiflung treibt. Er bietet seine ganzen Englischkünste auf, um die Rastas von der Notwendigkeit zu überzeugen, ihre Partie im Freien zu beenden und die eilig das Foyer durchquerenden Geschäftsleute und Messegäste haben alle Mühe, dem Bombardement der Hobby-Kicker auszuweichen.
Kurz darauf nimmt Spear die erste Inspektion der Arena vor. Dank der riesigen Obstkörbe, die in der Garderobe bereitstehen, hellt sich seine maskenhafte, von einer überdimensionalen Sonnenbrille verdeckte Miene allmählich auf. Unverhofft überrascht er mich dann mit der Feststellung, daß er nicht ein einziges Plakat für das heutige Ereignis in der Düsseldorfer City ausmachen konnte. Oh, die Tour habe sich erst sehr spät konkretisiert, versetze ich diplomatisch. Es nützt nichts. Spear ist in seiner herben Kritik am babylonischen Propagandawesen nun nicht mehr zu bremsen. „Wenn der Veranstalter rechtzeitig gezielte Werbung lanciert hätte, waren gestern mit Sicherheit mehr bredren (Brüder) gekommen“, entfährt es ihm wütend, während er sich für heute den ersten Spliff genehmigt. Er zündet sich das zigarrendicke Rauchgerät genüßlich an, inhaliert zweimal kräftig und setzt seinen Monolog fort: „Unsere Italien-Tournee war ein wahrer Triumphzug. Allein in Rom kamen 20000(!) Zuschauer. Natty take over. ..“Er pausiert und erkundigt sich dann urplötzlich nach den Verkaufszahlen von HAIL H.IM Mir bleibt nicht erspart, ihm zu beichten, daß die Plattenfirma bislang keine Veranlassung sah, sein letztes Werk hier zu veröffentlichen. Raasclaaat!!! Spear explodiert regelrecht, und ich glaube, wenn zu dieser Stunde ein Vertreter seiner Company aufgekreuzt wäre, dann hätte der seine Freikarte für die Show mit einem Liegeplatz in der Intensivstation des Hallenlazaretts vertauschen können.
Winstons unkontrollierte Temperamentsausbrüche mögen nun vorschnell zu dem Trugschluß verleiten, man habe es hier mit einem patriarchalischen Despoten zu tun, mit einem realitätsfernen Einzelgänger und aufgrund seiner Unnahbarkeit vielleicht sogar mit einem ausgemachten Rassisten. Um diese Bedenken zu zertreuen muß man versuchen, Spear nicht als ein weiteres Ventil im Getriebe der babylonischen Unterhaltungsindustrie zu betrachten; als einen (aus hiesigem Blickwinkel) Nobody, der sich im Anflug von Größenwahn mit den ungeschriebenen Verhaltensvorschriften des großen Rock’n‘-Roll-Zirkus überwirft. Vielmehr haben ihn schlechte Erfahrungen mußtrauisch gemacht. Spear hat im Laufe von 15 Jahren wahrscheinlich seine Lektion gelernt. Seine musikalische Laufbahn ist geprägt von rip offs; faulen Verträgen, zugesicherten, aber nie ausgezahlten Provisionssätzen. „Es wird mit skrupellosen Mafia-Methoden gearbeitet“, bemerkt er düster. „Was mich jedoch am meisten deprimiert“, fährt Spear dann hustend fort, während er eine riesige Rauchwolke aus seinen Lungen preßt, „ist der fehlende Argwohn und die Leichtgläubigkeit vieler Jamaikaner. Nur dem ist es zuzuschreiben, daß sie im Clinch mit profitorientierten Konzernen immer wieder den Kürzeren ziehen.
„Winston scheint sich allmählich seinen Arger von der Seele geredet zu haben, wirkt nun zusehends gelöster und kooperativer. „Dies ist die Burning Band“, stellt er seine mittlerweile eingetroffenen Begleitmusiker vor. Er berichtet von der Gründung seines eigenen Labels, Burning Music Productions. Ein neues Live-Album ist im Gespräch, aber: „I leave it up to I & I feelings“. Mit Genugtuung ergeht er sich dann in Erinnerungen an seine erste Europa-Tournee vor zwei Jahren. Die hatte er mit der Aswad-Rhythmussektion unternommen, da sich der Transport der eigenen Band damals als zu kostspielig erwiesen hatte.
Spear setzt jedes Wort sehr bewußt und vergewissert sich immer wieder, welche Wirkung sein Vortrag auf die Anwesenden ausübt. Schlagartig ist er dann bei seinem Lieblingsthema angelangt: „Ein Volk, das weder seine Geschichte noch sein Erbe kennt, ist wie ein Baum ohne Wurzeln“, zitiert er frei nach seiner größten Inspirationsquelle, Marcus Mosiah Garvey.
Und nun, da er die Verdienste von Garveys UNIA (United Negro Improvement Association) würdigt und die Karriere des „schwarzen Moses“ über das in die Tat umgesetzte Repatrierungsprogramm bis hin zu seinem Ausweisungsprozeß rekapituliert, wird verständlich warum Spear innerhalb Brotherhood eine derart entscheidende Position innehat. Sein profundes Wissen und sein historischer Überblick erlauben ihm Zusammenhänge und Entwicklungen des gegenwärtigen Stadiums der afro-karibischen Kooperation exakt zu analysieren. Er bekennt sich nicht zu dem reformwilligen Flügel der Rasta-Bewegung, der ein außerparlamentarischer Machtfaktor innerhalb des jamaikanischen Staatswesens vorschwebt. Spear ist ein glühender Verfechter von Garveys Erlösungs-Prognostik, kein hoffnungsloser Idealist, eher ein Pragmatiker, der über den Umweg des Afrikanisierungsprozesses an die Erfüllung dieser Prophezeiung glaubt. Und obwohl die Grundlage seines ideologischen Manifests in der Jahrtausende alten, nicht unumstrittenen Königslegende wurzelt, die Herkunft und Status Haue Selassis als Novum voraussetzt, ist sein Toleranzlevel erstaunlich hoch. Ihm geht es nicht darum, dogmatisch und unzensiert seiner religiösen Beflissenheit Ausdruck zu verleihen. Spear bringt viel taktisches Geschick auf, stets ist er bemüht, seine Lösungsvorschläge und Perspektiven auch Andersdenkenden plausibel zu machen.
Schließlich ist es, Coochys Worten zufolge, Startime. „From Kingston, JA…the master of roots: Burning Spear! Nach einer kurzen, andächtigen reasoning, gesellt Spear sich zu seinen Musikern auf die Bühne. Als tief emotional geprägter Mensch läßt er sich ausschließlich von seiner Intuition leiten. Keine Bewegung, keine Strophe, keine Ansage ist vorausgeplant. Manche Titel werden endlos ausgedehnt einzelne Textzeilen durch spontane Improvisationen und Gefühlsausbrüche ersetzt. Die junge Band geht nahezu blind auf die vibes ihres Leaders ein, ihr Aktionsradius erscheint nahezu unbegrenzt, lediglich der Einsatz der kraftvollen Unisono-Bläsersätze von Hermann Marquis und Bobby Ellis ist im Notenbuch festgelegt. Spears rauchige Stimme mag rein technisch limitiert sein, dafür besitzt sie jedoch ungeheuere Tiefe, Ausdruck und Überzeugungskraft.
Meist mit geschlossenen Augen vor dem Mikrophon aufgebaut, die Hände in den schulterlangen Dreadlocks vergraben, singt er konzentriert und beseelt. Die Bedeutung seiner Songs spiegelt sich in seiner Gestik wieder. Er verstellt seine Stimme, zwitschert beim verballhornten jamaikanischen Stabreim he free like a bird in the tree – wie ein Vogel und limitiert im nächsten Augenblick mit schauerlichem Gebrüll den König der Tiere. Wenn er die Bürde des kolonialen Erbes geißelt, bei „Slavery Days“ in die Knie geht, nach Luft schnappt und markerschütternd schreit, dann glaubt man den Widerhall eines Peitschenhiebes im Zeitraffer zu durchleben, den Kunta Kintes Leidensgenossen einst einzustecken hatten. Es geht hier, um Mißverständnisse zu beseitigen, nicht darum, seine überzeugend dargebotene Märtyrerpose auf den Wahrheitsgehalt der einseitigen Aussage zu durchleuchten. Inwieweit Spears Ambitionen und Motive das Publikum tangieren, ist schwer einzuschätzen. Die Art und Weise seines Vortrags schaukelt die Leute jedoch allmählich in eine meditative Trance hinüber.
Burning Spear ist kein Entertainer, keine programmierte Maschine, die Unterhaltung für den Preis einer Eintrittskarte garantiert. Dafür ist sein Wesen allzu häufig Stimmungsschwankungen unterworfen. Beim Gig am folgenden Abend in der Rotation in Hannover macht er dann auch nach 45 Minuten lustlos Schluß; seine Band spult phlegmatisch ihr Pflichtprogramm hinunter. Ob es daran lag, daß er, vollgepumpt mit Antibiotika, unter den Nachwirkungen einer hartnäckigen Erkältung litt, an den Hakenkreuzschmierereien in der verdreckten Garderobe oder am gedämpften Beifall des distanzierten Publikums? Die Intensität seiner Performance hatte jedenfalls gelitten und Spear flüchtet sich anschließend in eine wahre Flut von Verwünschungen: „No bloodclaat vibes, no herb, no bloodclaat food, no respect to I & I in ‚dis bumbacloot hole…“