Charismatiker sind rar im schnelllebigen Geschäft mit der Popmusik. Gut also, dass es Leute gibt wie Michael Stipe. Der Sänger von R.E.M. mag zwar nicht bequem sein, wenigstens aber hat er eine Meinung.


Ein schmuckloses New Yorker Büro, Stereoanlagen, Fernseher, CD-Regale. Michael Stipe steht stumm vor einem Plakat für Madonnas Album „Music“. Hältst du gerade Andacht?

Dazu hätte es vor zwei Jahren bessere Gründe gegeben. Ich mag „Music“ nicht so besonders, aber damals mit „Ray Of Light“ hat mich Madonna wie viele andere echt überrascht. Vor allem hatte ja keiner wirklich erwartet, dass sie solche Songs schreiben kann. Bei denen dann alle nur noch dastehen und „Wow!“ sagen.

Als du Promotion für euer letztes Album „Up“ gemacht hast, standen sie alle da und wollten nur wissen, weshalb Bill Berry gegangen war und wie es ohne ihn weitergeht. Wie ist es denn nun weitergegangen, bei den Aufnahmen von „Reveal“?

Nun, wir haben seither alle ziemlich viel über uns gelernt – vor allem aber, wie man als Trio ein gutes Album macht. Damals hatten wir zuerst überhaupt nicht ehrlich miteinander darüber geredet, was eigentlich passiert war. Deshalb ist die Band ja auch gleich nach den Sessions.also noch vor dem Mix, mehr oder weniger zerfallen, und wir fanden erst ganz langsam wieder zueinander. Danach sind wir dann als Trio, wie man so schön sagt, durch dick und dünn gegangen, bis wir dazu bereit waren, an ein nächstes Album zu denken.

War das Vergnügen oder Qual?

Währenddessen war es eine schwere Zeit für uns. Jetzt empfinden wir es zwar alle als einen Akt der Befreiung, aber das bemerkst und siehst du nicht, wenn du noch mitten in der Sache steckst. Das Erste-und Beste-aber, was wir taten, war die Entscheidung, für das neue Album keinen Zeitplan zu erstellen. Den hatte es früher, auch wenn manche Leute das nie geglaubt haben, bei uns immer gegeben. Die Aufnahmen mussten diesmal einfach so lange dauern dürfen, wie wir das wollten. Und wir wussten auch schon zu Beginn der Arbeit, dass es hinterher keine Tour geben sollte. Mir bedeutete vor allem der Verzicht auf diesen Stundenplan sehr viel, denn zum ersten Mal nach fast zwanzig Jahren konnte ich zwischendurch regelrecht entspannen.

Lass mich raten: Du findest, dass das den neuen Songs anzuhören ist.

Klar, sonst gäbe es ja jetzt keinen Grund, sich nachträglich zu freuen. Aber im Ernst, ich bin die ganze Zeit nicht zu irgendwelchen Textlieferungen ermahnt worden, und deshalb sind die Songs eben auch gut geworden. Weshalb ich da so sicher bin? Nun, ich habe mir während der Arbeit an „Reveal“ immer wieder alte Sachen angehört, und ich musste dabei viel zu viele Songs entdecken, die sich nach harter Arbeit unter Druck anhörten. Wirklich lieben aber tue ich nur die Songs, über die ich kaum nachgedacht habe, die eher wie von selbst entstanden sind. Und von denen gibt es auf dem neuen Album, sagen wir mal, spürbar mehr als fünfzig Prozent. Eine tolle Quote!

Das führst du aber nicht alles auf Bills Fortgang zurück?

Hauptsächlich schon, obwohl sich das immer so arrogant und wie ein böses Grinsen anhört. Ich habe nach wie vor größten Respekt vor ihm als Musiker, und ich liebe ihn geradezu als meinen Freund, der er auch noch immer ist. Trotzdem war sein Abschied für die Band ein Glücksfall, eine extreme Befreiung für uns drei. Er hat unsere Studioarbeit fast schon dramatisch verändert. Wir verausgaben uns seither nicht mehr, jeden Tag im Studio wie einen Live-Gig klingen zu lassen, was früher ja unser Ideal war. Die letzten beiden Alben und besonders das neue dokumentieren viel eher, wenn ich’s mal flapsig sagen darf, wo mein Computer und ich heute musikalisch stehen.

Auf jeden Fall ja ziemlich fern von elektronischen Sounds. Klingt „Reveal“ vielleicht auch deshalb anders, weil du dir inzwischen bewusst bist, dass auch für euch nach zwölf Alben die Gefahr besteht, zu eurer eigenen Kopie zu werden?

Ich mache mir, ganz ehrlich, über kaum etwas weniger Gedanken als über die Frage, ob ich mich oder wir uns kopieren oder nicht. Alfred Hitchcock hat mal gesagt, Stil zu haben bedeute gelernt zu haben, sich selbst elegant zu bestehlen. Das gilt so für R.E.M. natürlich nicht. Aber die Tatsache, dass wir alle schlicht und einfach keine Lust haben, uns ständig zu wiederholen, reicht als Prophylaxe meiner Meinung nach völlig aus. Ich bin mir sicher, dass es uns keine zwei Wochen kosten würde, um heute ein komplettes Album mit Songs wie „The One I Love“ einzuspielen. Aber was für grausame zwei Wochen wären das wohl? Für mich ist unser Backkatalog ein Ding, das mich zufrieden macht und erschreckt zugleich. Da entdecke ich Fehler, die ich nie, nie wieder machen will, und da finde ich auch Songs, die ich so mit 25 geschrieben habe und zu denen mir bis heute keine Verbesserungsvorschläge einfallen.

Für deine Bühnenauftritte scheint da anderes zu gelten, da bist du ja kaum wieder zu erkennen. Färbt das inzwischen auch auf deine Songs ab?

Nein, absolut nicht. Für mich als Sänger hat es nie ein Crossover oder auch bloß die Vergleichbarkeit von Studio-Aufnahmen und Live-Performance gegeben, das sind Äpfel und Birnen. Beide sind wichtig und machen auch unheimlich Spaß, das ist völlig klar. Aber unsere Alben empfinde ich eher als musikalische Entdeckungsreisen der sanften Art, während ich nach wie vor darauf poche, dass R.E.M. auf der Bühne eine lupenreine Rock ’n ‚Roll-Band ist. Ich glaube auch nicht daran, dass sich beide Tiere gegenseitig befruchten können. Und wenn ich dann so Bands sehe, die gerade eine hübsche Platte für kürzere Autofahrten durch langweilige Gegenden gemacht haben und nun auf der Bühne die Komiker geben und schlicht dumm und lächerlich ‚rüberkommen, dann glaube ich noch ein bisschen fester daran, in diesem Punkt voll und ganz Recht zu haben.

Hast du denn deine Wandlung auf der Bühne überhaupt bemerkt?

Naja, ich hoffe doch auf jeden Fall, nicht mehr derselbe zu sein wie vor zehn oder fünfzehn Jahren, dann hätte ich ja irgendwas ganz furchtbar falsch gemacht. Aber wovon genau du sprichst, nein, das weiß ich nicht.

Du lachst zehnmal so viel wie früher und siehst nicht mehr so aus, als dächtest du die ganze Zeit an eine baldige Flucht.

Ich befolge halt nicht die goldenen Regeln des Showbusiness. Die besagen ja, dass keiner im Publikum es bemerken darf, wie du dich wirklich fühlst. Und selbst wenn dir nach nichts anderem als zum Kotzen ist. So ein Typ bin ich aber nun einmal nicht. Wenn ich einen Scheißtag habe, sollen die Leute das auch merken, und zwar möglichst gleich und ungeschönt.

Und dann lächelst du, was das Zeug hält?

Ach was, aber so können meine Auftritte halt von einem Tag auf den anderen völlig unterschiedlich sein. Und dann steht eben manchmal am nächsten Tag in der Zeitung, der Typ wird schon arrogant, der spielt jetzt mit dem Rücken zu seinen Fans. Gut.ja, das habe ich gemacht! Aber, Mann, da war ich 23 und das waren, nach lauter scheißkleinen, dunklen Clubs, auf einmal 5000 Leute da vorne! Hey! Ich hatte ’ne schlechte Haut und reichlich ulkige Haare, wer hätte da wohl zwei Stunden lang gelächelt? Gut, Britney Spears vielleicht,aber ich bin nicht Britney Spears!

Das wollen wir auch gar nicht behaupten. Aber kommt noch eine Erklärung für den heiteren Michael der letzten Jahre?

Nicht ungeduldig werden! Also, 1995 traf ich Patti Smith, mit der ich inzwischen sehr eng befreundet bin. Als sie wieder live auftrat, hat mich das umgehauen. Sie packt so viel Intensität und Intimität hinein, du glaubst bei jedem Song, ihn nie vorher gehört zu haben. Und die muss dafür noch nicht mal arbeiten, das ist ein ganz natürliches Ding. It just happens! Und zwischen den Songs redet sie mit den Leuten, macht Witze und so, phänomenal. Sie lebt den Moment und stellt damit die Musik auf einen Platz, wo man sie richtig schön feiern kann. Als ich das sah, wollte ich unbedingt lernen, diesem Zustand ein bisschen näher zu kommen. Und mein Lächeln ist dabei vielleicht mein erster Erfolg.

Patti Smith hat einen Teil ihrer Arbeit, nämlich das Schreiben, ja lange unter intellektuellen Vorzeichen betrieben. Siehst du dich auch als Intellektuellen, wenn du schreibst?

Ich sehe mich niemals als Intellektuellen,als Akademiker, ganz einfach weil ich keiner bin. Ich habe keine sehr gute Bildung genossen in Georgia, ich kann mich als Redner bis heute nicht sonderlich gut und geschickt artikulieren – was mir als Songwriter immerhin ein wenig besser gelingt. Warum das so ist, weiß ich allerdings nicht zu sagen. Ich hinterfrage das aber auch nie. Wer weiß, ob dieser seltsame Umstand eine Fragestunde aushalten könnte? Vielleicht bin ich ja auch bloß ein ganz empfindliches Medium, durch das mysteriöse Kräfte sich verbreiten über die Welt.

Dann hast du vermutlich auch Angst davor, die zahlreichen Versuche zu lesen, deine Arbeit als geistiges Schaffen zu beschreiben?

Nein, die lese ich schon, und normalerweise fühle ich mich dadurch sogar geehrt. Ist doch immer wieder schön, wenn ein Gelehrter mit den unbedeutenden Worten eines mehr oder weniger Unwissenden etwas anfangen kann. Aber im Ernst: Ich will mich hier nun nicht als dummen Jungen darstellen,ich halte mich nämlich schon für einen „smart guy“. Ich wünsche mir auch nicht jeden Morgen, einer Familie großer oder noch größerer Dichter und Denker entsprungen zu sein. Ich wünsche mir lediglich manchmal, ein paar Bücher mehr gelesen zu haben.

Ist man, nach zwei Jahrzehnten im Geschäft, nicht auch zunehmend mit Überlebensfragen befasst und mit solchen nach dem Verbleib im Zirkus?

Das wäre man ganz sicher, wenn einem ständig die eigene Vergangenheit im Nacken säße. Aber mit der beschäftigen sich ja andere Leute weit intensiver als wir. Peter, Mike und ich richten eigentlich, das kann ich schon sagen, unsere Blicke vornehmlich nach vorne. Der einzige Grund für gelegentliche und meist kurze Rückblicke ist unser ständiges Bemühen, besser zu werden. Was uns übrigens, glaube ich, ganz gut gelungen ist. Es gibt schließlich nicht allzu viele Bands, die so lange zusammen geblieben sind wie wir und dabei die ganze Zeit einigermaßen relevante Musik gemacht haben. Das gilt besonders für unsere letzten beiden Alben. Deshalb mag ich auch diese ständigen Vorwürfe, wir hätten uns nur auf unseren Lorbeeren ausgeruht, nicht so sehr. Dummerweise haben wir uns halt ein Medium ausgesucht, das fälschlich oft die Jugend als ihren einzigen Motor und Maßstab sieht. Brad Pitt und Tom Cruise sind gerade mal zwei oder drei Jahre jünger als ich, aber niemand käme auf die Idee, sie als Veteranen zu bezeichnen.

Vielleicht weil es da noch ein paar Jüngere wie zum Beispiel Robbie Williams gibt?

Stimmt, und ziemlich gut ist der ja noch dazu! Der Typ kommt mir echt vor wie Tom Jones, den man mit David Lee Roth gekreuzt hat. Heraus gekommen sind dabei 150 Prozent Entertainment, ready to roll. Mir gefällt das – wahrscheinlich auch, weil ich das so nicht kann.

Zehn Millionen Exemplare eines einzigen Albums verkaufen konntet ihr zuletzt auch nicht mehr- rettet ihr euch in die Gewissheit, Qualität zu produzieren, oder gibt es für eine Band wie R.E.M. so etwas wie Erfolgsdruck, wenn die Auflagen sinken?

Nicht wirklich. Aber es ist schon ein bisschen enttäuschend, wenn sowas passiert. Jeder Musiker möchte soviel gehört werden wie möglich, eine alte Binsenweisheit, aber ziemlich wahr. Bekanntermaßen gibt es in unserer Zunft nur sehr,sehr wenige Leute mit einem schwach entwickelten Ego. Ich gehöre bestimmt nicht dazu, und deshalb finde ich es auch nicht erstrebenswert, anderthalb Jahre an einem Album zu arbeiten, das ich danach meinen besten Freunden vorspielen kann, das aber ansonsten keine Sau interessiert. Andererseits stehen hier in dieser Firma tausende von Platten, für die sich jemand anderes auch Anerkennung wünscht, und hier im Raum stehen über 200 davon, und eine zum Beispiel ist von David Gray, da oben, und der hätte es wirklich verdient, von der ganzen Welt gehört zu werden. Welche Ansprüche also soll ich da jetzt vertreten?

Und wichtiger noch: Auf welchem Kontinent willst du sie einklagen?

Richtig! Unsere letzten zwei Alben schienen ja eher nach dem Geschmack der Europäer gemacht zu sein, jedenfalls hat man sie in den USA weniger bemerkt. Dafür immerhin nimmt uns seitdem der US-Underground wieder wahr, und das ist für mich nun wirklich so etwas wie ein unbezahlbarer Triumphwas ich absolut nicht ironisch meine, vergiss das bloß nicht zu erwähnen!

Man hat euch also sogar auf scheinbar verlorenem Terrain wieder erkannt – kannst du benennen, welche Essentials jeden eurer Songs zu einem erkennbaren R.E.M.-Song machen?

Dazu gab es für mich 1997 so eine Art Schlüsselerlebnis. Ich spielte ein paar guten Freunden die Songs von „Up“ vor, und die kuckten erstmal seltsam und ihre Gesichter hellten sich erst auf, als meine Stimme kam. „Vorher war das kein R.E.M.-Song“, hieß es da, „aber jetzt, doch, ganz klar“. Mir war das peinlich. Ich hatte 17 Jahre lang erfolgreich verdrängt, eine offenbar leicht erkennbare und somit prägende Stimme zu dieser Band beizutragen. Ich wollte das einfach nicht sehen, wissen, bemerken. Dass diese Stimme mehr oder weniger die einzige Konstante ist finde ich noch immer etwas beängstigend.

Seitdem du das weißt, klingen eure Songs immerhin wahnsinnig entspannend, ohne sich dem Fahrstuhlführer zu empfehlen…

… was ich als wunderbares Kompliment empfinde! Ich halte es für echt wichtig, in einer Welt, die ganz und gar offenkundig aus den Fugen gerät, ach was, längst geraten ist und das wahrscheinlich auch weiterhin ständig tun wird, Musik zu liefern, die einen zumindest für ein paar wenige Stunden zurück auf den Teppich, ins Hier und Jetzt bringt.

„Reveal besteht aus Songs and nothing but songs. Habt ihr schon Angst vor den Leuten, die demnächst eure Rückkehr zu den Wurzeln bejubeln werden?

Dazu müsste mir erstmal jemand sagen, wann wir jemals ein Album gemacht haben, das nicht aus Songs and nothing but songs bestand!

Es waren aber nicht immer so kompakte, zwingende Perlenketten!

Was ja nun auch heißen könnte, es gebe hier bloß ein paar sehr simple Songs zu hören. Das stimmt für einige Stücke ja auch, für andere wieder absolut nicht. Ich sage dir, was wir wirklich getan haben: Wir haben einige der typischen R.E.M.-Zutaten über Bord geschmissen. Und zwar alles, was für den Song nicht unbedingt nötig war. Und das war weit mehr, als alle Außenstehenden und auch wir selbst vermutet hätten.

Was du, leider oder Gott sei Dank, wer weiß, nicht über Bord werfen kannst, ist dein Image. Was gefällt und missfällt dir an den Rollen als Vorbild, Idol oder auch, kein Veto gestattet, Sex-Symbol?

(lacht) Also, wenn es wirklich Menschen gibt, die auf ein Foto von mir masturbieren möchten, dann sollen sie das ruhig tun, solange ich nicht dabei sein muss. Aber ganz ehrlich: Ich finde diese Form der Götzenanbetung schon einigermaßen erschreckend. Als Vorbild zu dienen, das stört mich weit weniger. Immerhin bin ich ja schon eine ganze Weile dabei, und die Band hat mit mir zusammen ein gewisses und durchaus vertretbares Niveau nicht verlassen. Genauer gesagt: Wir sind jetzt zwanzig Jahre verdammt gut, oder etwa nicht? Und darauf bin ich fast so stolz wie auf die Tatsache, nie unser Image, unseren Namen oder auch nur einen unserer Songs an General Motors, Pepsi oder Marlboro verschachert zu haben. Und deshalb verlange ich jetzt auch, dass das gedruckt wird! Das ist very important, Mann!

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