Charlie


Charlie. Bitte wer? Das verbreitete Achselzucken verwundert nicht. Charlie, in Wahrheit ein Prunkstück des englischen Rock, wurden von ihrem Rabenvaterland von Geburt an sträflich vernachlässigt. Schlichtweg nicht zu fassen! Als ob da jemand den Schnabel nicht weit genug aufgerissen hat.

Glücklicherweise hat es die Band hierzulande zum Geheimtip gebracht, der sich seit anderthalb Jahren in verschiedenen Gegenden hartnäckig hält. Und schließlich kamen die sechs Engländer Ende letzten Jahres zum ersten Mal nach Deutschland, um sich zweimal leibhaftig vorzustellen: eine dreiviertel Stunde lang in der „Radiothek“ des WDR und mit zwei Songs in „Szene ’78“.

Besser wissen die Amerikaner Charlie zu schätzen. In den USA ist die Londoner Gruppe seit dem Sommer ’77 groß angesagt. Seit sie im Vorprogramm der Doobie Brothers spielte und völlig unerwartet die mächtigen, bis zu 20.000 Mann und Frau starken Auditorien bei ihrer Musik förmlich explodierten. Charlie-Trommler Steve Gadd: „Damit brach für uns ein neues Zeitalter an. So etwas hatten wir noch nie erlebt.“ Nicht nur das; es bedeutete gleichzeitig die Rettung der Gruppe. Denn sie stand kurz davor, Schluß zu machen. Kommentiert Tastenmann Julian Colbeck: „Es macht auf die Dauer keinen Spaß, vor Leuten zu spielen, die einen nicht richtig mögen. Das demoralisiert.“

Wenn man weiß, daß Charlie seit Anfang der 70er alle erdenklichen Clubs und Hallen im Vereinigten Königreich ‚rauf und ‚runter gespielt hat, und wenn man sich dazu ihre drei hervorragenden Alben anhört, muß man sich buchstäblich fragen, ob die Briten nicht mehr alle Tassen im Schrank haben. Ob sie vor lauter lautem Punk bzw. New Wave (nichts gegen die Sex Pistols, Stranglers, Vibrators und Co.!) taub oder unempfänglich geworden sind für schöne Melodien und Harmonien. Beides schüttet Charlie über ihre Zuhörer in einer solchen Fülle aus, wie man es von Bands wie den Beatles, Steely Dan, Rare Birds, Caravan u.a. kennt.

„Summer Romances“, „Miss DeLuxe“, „Fantasy Girls“, „Please Let Me Know“, „Johnny Hold Back“, „Love Is Alright“, „Out Of Control“ und „1 Like To Rock And Roll“ sind Songs, die einem wohlige Schauer über den Rücken jagen. Sie finden sich verteilt über die drei Alben von Charlie: „Fantasy Girls“ (1976), „No Second Chance“ (1977) und „Lines“ (1978).

Während von „Fantasy Girls“ in den USA 25.000 Stück verkauft wurden, während ebenda von „No Second Chance“ über 100.000 Exemplare abgesetzt wurden, befand man diese beiden ersten LPs in der BRD für uninteressant, d.h. zu wenig profitträchtig, und überließ ihre Beschaffung der Importabteilung.

Dort kamen die Alben aber kaum dazu, Staub anzusetzen. Immer mehr Insider wurden auf sie spitz. Schwerpunkte bildeten München, Frankfurt, Berlin und NRW. So entschloß sich die Hamburger Polydor, das dritte Charlie-Album, „Lines , 1978 in Deutschland normal herauszubringen, und bei dieser Gelegenheit die beiden ersten LPs im Nachhinein zu veröffentlichen. Zur selben Zeit kletterte „Lines“ in die Liste der 20 meistgespielten Longplayers der US-Rundfunkstationen empor.

Die Stücke von Charlie stammen so gut wie alle aus der Feder eines einzigen Mannes – Terry Thomas. Er hat seinen Platz in der Galerie der großen Songschreiber des Rock bereits sicher. Die Musik fliegt ihm zu. Er muß sie sich nicht erarbeiten. Anders bei den Texten: „Ich schreibe über etwas, das ich gesehen oder erfahren habe und über etwas, an das ich glaube. Da stellt sich allerdings das Problem ein, daß man in einer ewig umherreisenden Gruppe den Kontakt zum Leben um einen herum verliert. Man lebt abgeschlossen in Hotelzimmern, Studios usw. Immer dasselbe. Früher orientierten sich meine Songs mehr an Erlebnissen, heute handeln sie mehr von persönlichen Einstellungen zu diesem und jenem.“

Und er hält mit seinen musikalischen Erlebnisberichten nicht zurück. In dem vielleicht schönsten Charlie-Song „Summer Romances“ erzählt er von mehreren fehlgeschlagenen Liebesabenteuern, wie er dieses und jenes Mädchen flachlegen wollte, und wie sie ihn jedesmal narrten.

Terry Thomas hat Charlie 1971 gegründet. Er ist der Leadsänger und spielt Gitarre. 1949 in London geboren hat er bis heute immer dort gelebt. Von einem verlängerten Montage-Aufenthalt in Portugal abgesehen. Er hatte es zum graduierten Elektro-Ingenieur gebracht und hauptsächlich in der Datenverarbeitung gearbeitet. Aber er hatte schon immer nebenher in Rockbands gespielt, seit seinem 12. Lebensjahr. Plattenfirmen begannen, sich für seine Songs zu interessieren, als ihn ein Computer-Job für 18 Monate nach Portugal verschlug. Auch dort spielte er bald wieder in einer Gruppe, mit der er sogar einen Nummer-Eins-Hit landete. Er sparte ein bißchen Geld, um nach seiner Rückkehr in London eine Band aufzubauen. Daraus wurde Charlie. Die Karriere als Elektro-Ing gab er aber erst im Alter von 26 Jahren auf. „Ich machte das nur so lange, bis ich die Chance sah, allein das zu tun, was ich eigentlich wollte – Musik.“

Von den vier Gründungsmitgliedern sind heute noch drei dabei. Charlie hat bis heute nur einen Abgang zu verzeichnen. Auf der anderen Seite stehen drei Zugänge. Der Reihe nach: Terry tat sich mit dem Trommler Steve Gadd, dem Baßmann John Anderson und dem Gitarristen Martin Smith zusammen. Auch sie hielten aus den schlichten Gründen des Überlebens noch lange an ihren bürgerlichen Berufen fest.

Steve Gadd, geb. 1949 in London, war sieben Jahre lang bei der „Sunday Times“. Nicht als Journalist sondern als Buchhalter. „Jeden Tag von 9.30 bis 17.30 Uhr. Ich bin verrückt geworden.“ Von Baß auf Schlagzeug umgestiegen, bewarb er sich als 15jähriger bei einer populären Nord-Londoner Band und bekam gegen die Konkurrenz von 20 anderen den Job. Die andern waren alle schon älter als 20, für den Teen und Schüler war’s wie ein Sprung ins Wasser. An sechs Abenden die Woche in London unterwegs. Manchmal spielten sie neben den Who. Bis zur Gründung von Charlie mischte Steve noch in fünf bis sechs anderen Bands mit.

John Anderson, geb. 1950 in London, begann sein Rockgruppenleben mit 16. Zwei Jahre später spielte er schon einmal mit Terry Thomas zusammen. Martin Smith, der andere Gitarrist, verließ Charlie während der Aufnahmen von „No Second Chance“ (1976) und ging mit einem Ex-Bowie-Trommler andere Wege.

Julian Colbeck, geb. 1952 im südenglischen Aldershot, stieß zur selben Zeit hinzu. Charlie holte ihn zu Piano-Sessions für dieselben LP-Aufnahmen. Die Band war von Julian so angetan, daß sie ihn bat zu bleiben. Er hatte mit acht Jahren am Klavier angefangen und wollte klassischer Pianist werden. Es langte aber nicht dazu. Er sah’s wohl früh ein, denn mit zwölf machte er schon seine erste Schüler-Rockband auf. Nach der Schule ging er ein Jahr lang auf die Kunsthochschule, ein Vorwand, um nach London zu kommen. Dann schloß er sich einer reinen Gesangsgruppe, dem Rock Choir, an. So kam er zu Auftritten in der Royal Festival Hall und in der Albert Hall. Und der Chor sang allmorgendlich im Kirchenfunk. Er scherte aus und gründete eine Rockband, die mit finanzieller Hilfe von Ex-Uriah Heep Gary Thain einen Auftritt im Marquee bekam, sogar noch paar Platten machte und dennoch bald zerfiel. Julian wurde musikalischer Leiter eines Theaters, fühlte sich aber dort als Mensch zweiter Klasse behandelt und wechselte nach einem Jahr in die Begleitband einer „sehr beliebten Popgruppe“. Nach abermals einem Jahr und regelmäßigem Einkommen ließ er sich auf das Abenteuer von mehr Freiheit, auf Charlie ein. Von ihm kann man neben Terry am ehesten neue Kompositionen erwarten. Auf dem kommenden Album „Fight Dirty“ ist er mit einem längeren klassich angehauchten Stück vertreten.

Eugene Organ, geb. 1951 in London, stach 50 andere Gitarristen aus, die sich auf die Anzeige im Melody Maker Anfang ’77 bei Charlie gemeldet und vorgespielt hatten. Die Band wollte wieder einen zweiten Gitarristen haben. Eugene spielt jazziger und ergänzt sich so glänzend mit dem kräftig rockenden Terry.

Shep Lonsdale, geb. 1948 in Hampton Court bei London, bedient ein zweites Schlagzeug. Von seinem trommelnden Vater früh ans Schlagzeug gesetzt, hatte er jedoch die letzten Jahre als Sound-Techniker bei diversen US-Bands zugebracht. Er blieb stets in der Übung, hatte mit Steve gejammt und eines Tages die Gelegenheit, dem verletzten Charlie-Trommler auszuhelfen. Um noch mehr Energie in ihren Rock zu packen, spannte Charlie später den Doobies ihren Techniker aus. Die Charlies von heute waren komplett.