Chris Comell: Berlin, ColumbiaFritz


EIN ABEND, DEM MAN SICH MIT DIESEM DIFFUSEN SILVESTER-GEFÜHL NÄHERT. Nicht unbedingt wegen der zu erwartenden Kracher, sondern weil man viele gute Vorsätze mitbringt und wünscht, sie länger als nur bis drei Minuten nach Mitternacht beherzigen zu können. Es rattert die Gebetsmühle aller toleranten Menschen, die die brennenden Leidenschaften ihrer einstigen Rebellentage hinten anstellen: „Natürlich macht Chris jetzt sein eigenes Ding. Natürlich muß man den Künstler einzig an seinem aktuellen Werk messen. Natürlich war es ein richtiger, weil konsequenter Schritt, als sich Soundgarden rechtzeitig vor der eigenen Stagnation im Superstardom auflösten.“ Keine Reue also, keine Tränen. Schließlich steht hier nicht mehr Chris Cornell, die langbemähnte, wutverzerrte Sirene des Grungerock auf der Bühne, sondern Chris Cornell, der vom Leben geläuterte Songwriter, dessen eigener Anteil an der Pop-Historie groß genug ist, um sich einen bescheidenen Verweis auf Beatles, Neil Young oder Nick Cave zu erlauben. Meist bewegungslos, die Augen verzückt – verzerrt zur Hallendecke gerichtet, bietet Cornell das Bild eines tieferschütterten Mannes, dem man gar die Last des Mikrophones aus den Händen nehmen möchte. Als Stützen an seiner Seite hat er den effektiven aber unscheinbaren Gitarristen Alain Johannes und Keyboarderin Natasha Shneider von der Band Eleven, die schon das Album „Euphoria Mourning“ im Boden der Tatsachen verankerten. Die durchgängig melancholische Stimmung dieser Platte bildet den Kern eines Konzerts, das man so gern ohne die Erinnerungen an Vergangenes betrachten möchte. Aber Cornell hat seine Selbstsicherheit längst nicht weit genug konsolidiert, um in der neuen Rolle des Bandleaders zu überzeugen. Konnte man ihm einst seine Mission von den bohrenden Augen oder den geblähten Halsschlagadern ablesen, gibt ihm heute das Leid allein noch keine Richtung. So bleibt Cornells Solo-Version von Soundgardens „Fell On Black Days“ ein Schatten ihrer selbst, was sicher nicht daran liegt, daß er den Song nur in Begleitung seiner Stratocaster interpretiert. Man denkt endgültig, es sei drei Minuten nach Mitternacht, als Chris Cornell im Zugabenteil „All Night Thing“ von Temple Of The Dog auspackt. Während die um Andrew Woods Tod trauernde Kooperation von Soundgarden- und Pearl Jam-Musikern seinerzeit tief zu bewegen vermochte, döst der Song heute in einem Zustand, der unangenehme Erleichterung darüber aufkommen läßt, daß sich Cornell nicht am emotionalen Monster „Hunger Strike“ versucht hat. Er wäre gescheitert.