Coldplay: So fern der Couch


Soundchecks zweckentfremden, Trennungsgerüchte dementieren, Menschen beglücken: business as ususal für Coldplay auf Tour. Schön, wenn man zwischendurch heim zu Muttern fliegen kann. Allen anderen bleibt die Methode von Bruder Ben.

Elvis has left the building und Ringo singt dazu. Eben noch standen Coldplay auf der Bühne und spielten den dritten Song ihres Zugabenblocks – „Fix You“ mit einer im Zusammenspiel mit der feierlichen Euphorie, die aus dem Rund der Mannheimer Maimarkthalle heraufschwappte, durchaus gänsehautfähigen vierstimmigen Gesangsleistung im Finale. Verbeugten sich dann unter tosendem Applaus Arm in Arm am Bühnenrand, während sich aus den Boxen als Outro-Musik „Good Night“ vom weißen Beatles-Album hereinschmiegte. Eine Minute später – Ringo hebt gerade mal zur zweiten Strophe an und die knapp 8.000 geben „richtig Gas“, die Band für eine zweite Zugabe weichzuklatschen – sitzen die vier Bandmitglieder und ihre engere Crew bereits in den Kleinbussen, die keine 40 Meter hinter der Bühne am Hallenhinterausgang mit dampfenden Auspuffen warten. Und ab. Eben noch feierlich, jetzt schon fort.

Bevor Coldplays „Twisted Logic“-Welttournee, die sie noch weit bis in 2006 hinein beschäftigen wird, übermorgen in Zürich weitergeht, ist ein freier Tag angesetzt. Und der wird für Heimaturlaub in London genutzt; drüben am Flughafen Frankfurt parkt der gemietete Privatjet für den flotten Sprung über den Kanal. Über eine zweite Zugabe hätte man freilich reden können, und etwas abgebrüht wirkt das ja. Aber daß die vier am Ende eines Arbeitstages am Ende eines deftigen Jahres mit der Aussicht auf die heimische Couch nicht mehr lange im Backstage abzuhängen geneigt sind, sondern zügig die Reise zu Frauen und Kindern antreten wollen, ist auch verständlich.

Und ein deftiges Jahr war das. Das anfing mit Aufregung über die verspätete Fertigstellung des neuen, dritten Albums X&Y, die legendärerweise den EMI-Börsenwert ins Wackeln brachte. Worauf nur noch mehr aufgeregte Energie in einen gigantischen Werbe- und Promo-Trara gepumpt wurde, der einen grotesken Erwartungsdruck auf das Album kreierte, dem dieses unmöglich gerecht werden konnte – und der Coldplay viele Antipathien einbrachte: Die Band, die zu Zeiten ihres zweiten Albums „A Rush Of Blood To The Head“ noch wenig falsch machen konnte, taugten 2005 sowohl als Projektionsfläche für feuchte Journalistenträume von der Neuerfindung des Pop als auch als Prügelknaben, an denen Beißreflexe trainiert wurden. „X&Y“ war dasjenige wichtige Album 2005, das die irritierendsten Diskrepanzen in der Kritikerwahrnehmung zeitigte: von der (selten vergebenen) Höchstwertung im englischen Magazin Q bis hin zum aufs derbste unter die Gürtellinie zielenden Komplettverriß in der New York Times.

Johnny Buckland ist sich bewußt, daß vieles nicht optimal lief. „Hype ist so etwas gefährliches“, sagt der frisch erkältete Gitarrist am Nachmittag vor dem Mannheim-Gig, „und wir haben immer unser bestes getan, ihn zu vermeiden. Aber dem waren wir nicht gewachsen. Wenn eine Platte so gehypet wird, erwarten die Leute irgendwann, daß das Ding Krebs heilen kann. Aber es ist letztlich doch nur eine Platte. „Mittlerweile habe man die Promotion deutlich reduziert, „man kann da auch zu viel machen und den Leuten auf den Keks gehen“. Am Rande der Tour gibt es nur einige wenige Kurzinterviews. Neben Buckland sitzt in dem kahlen Raum im Keller der Maimarkthalle Drummer Will Champion. „Das ist eben so ein Faktor“, sagt er, „wenn du als Band groß und größer wirst, bist du irgendwann nicht mehr nur Thema für die Musikpresse. Wir haben über uns immer in Musikmagazinen und den Musikteilen gelesen. Und plötzlich stehen wir in den großen Blättern…“ – „Im verdammten Wirtschaftsteil“, brummt Buckland dazwischen, „mit diesem ganzen EMI-Börsen-Scheiß da.“

Ein Hauptgrund für die Präsenz von Coldplay außerhalb der Popberichterstattung ist der Celebrity-Status ihres Sängers Chris Martin. Der, hört man, sei heute „verstimmt“. Bei der verspäteten Ankunft der Coldplay-Entourage im Backstage der Maimarkthalle war in der Tat etwas angedickte Luft und Nervosität spürbar. Das paßt ja haargenau zu den Trennungsgerüchten, die die Band nun schon seit über einem Jahr und – jüngst neu aufgeköchelt – auch auf Tournee begleiten. „Du meine Güte“, seufzt Champion, nimmt den vom Interviewer spaßeshalber mitgebrachten Ausdruck einer besonders vollmundigen diesbezüglichen Internet-Meldung („bad tempers and big egos are threatening to tear the group apart!“) zur Hand und liest. „Ha!“, lacht er, kann und mag aber eine gewisse Angenervtheit unter der Jovialität nicht verbergen. „Wir gehen uns momentan ziemlich auf den Sack. ‚Das habe ich nie gesagt! Im Gegenteil. Es ist sogar ziemlich gut im Moment. Du mußt dir darüber keine Sorgen machen.“ Spricht’s und zerreißt den Zettel säuberlich in Fitzelchen.

Und wenn zwischendurch auch auf Säcke gegangen würde: Eine Band, die sich nicht mehr riechen kann und die innere Kündigung unterschrieben hat, wird kaum nahezu jeden Soundcheck zu einer Songwriting-Session ausweiten. „Ja, es gibt neue Ideen für Songs“, sagt Champion. Zurück ins Studio komme man aber frühestens im Herbst 2006 – so lange werden sich die letzten Ausläufer der Tour hinziehen. Der heutige Soundcheck bleibt im Rahmen. Knappe 20 Minuten daddeln die vier mit einer reggae-artigen Melodie herum, die – sagen wir mal – noch ein Stück Weg wird gehen müssen, sollte sie einmal als Coldplay-Hit die Herzen der Massen erobern wollen. Eine Szene am Rande illustriert derweil die angenehm unaufgeregte Atmosphäre hinter den Kulissen: Als Coldplays Security-Chef, ein respekteinflößender Bär von einem Mann, einen Mitarbeiter der örtlichen Crew während des Soundchecks beim Knipsen erspäht, stürzt er sich nicht etwa polternd auf ihn, sondern guckt sich nach einer deutschen EMI-Mitarbeiterin als Dolmetscherin um: Sie möge ihrem Landsmann klarmachen, daß er die Bilder bitteschön von der Speicherkarte löschen möchte. Nach dem Soundcheck sieht man nicht mehr viel von der Band, die sich in ihre (gemeinsame) Garderobe zurückgezogen hat. Buckland, Champion und Bassist Guy Berryman nehmen später zusammen mit einigen Crewmitgliedern ihr Abendessen im Catering-Raum ein, wo die Koch-Crew „Eat To The Beat“ Feines auftischt (heute u.a. auf dem Speiseplan: Kräuter-Muscheln, Penne mit Huhn und Rucola, Lammkeule mit Pastinaken-Püree, Sherry-Trifle). Martin kommt erst später, nachdem er den Mannheimern in schönster Nettmensch-Manier persönlich die Vorband Goldfrapp angesagt hat: „Be nice to them!“

Während Coldplays Auftritt herscht hinter der Bühne dann schier gespenstische Ruhe. Es ist lustig: Nur wenige Meter entfernt biegen sich die Rockstars und vergießen Fans lange aufgesparten Schweiß und Adrenalin – und hier hinten im Dunkeln sitzen Lichttechniker an Bildschirmen wie in der Nasa-Zentrale, während ringsum auf Flightcases, unbeeindruckt vom Lärm, ein paar Roadies schlafen. Ihre Stunde kommt nach dem flotten Abgang der Band, wenn sie ameisengleich über die Bühne herfallen und sie in für den Laien atemberaubendem Tempo auseinandernehmen werden. Für den freien Tag der Crew am morgigen Freitag hat der Tourmanager unten im Cateringraum schon mal einen launigen, aber sicher nicht ganz unernst gemeinten Tip ausgegeben: „Die Show am Samstag muß ein Knaller werden“, steht auf einem Zettel bei den Kaffeekannen. „Also folgt morgen Brother Bens Beispiel: frühes Besäufnis und anschließend zehn Stunden Schlaf“ Wer immer dieser Bruder Ben ist: Er scheint Ahnung zu haben, wie man die Sehnsucht nach der heimischen Couch besiegt.