Culture
Alles ähnelte ein wenig dem spektakulären Konzert, mit dem Bob Marley 1975 in London zur Eroberung Europas ansetzte. Culture, drei Außenseiter aus Jamaika, beendeten eine teilweise ausverkaufte England-Tournee mit einem umjubelten Auftritt vor 2000 Leuten im Londoner "Rainbow". Überall wurde getanzt, und kaum jemand konnte die bekanntesten Songs nicht mitsingen. Ist Culture also das nächste große Reggae-Ding? Soon come, sagt man dazu in Jamaika...
Der Reggae hat sich im abaufenden Jahr 1978 gewandelt. Der Trend zu einer anglo-amerikanisierten Form der jamaikanischen roots-Musik setzte sich mehr und mehr durch. Bob Marley stand mit der LP „Kaya“ an der Spitze dieser Bewegung, und der renommierte jamaikanische Produzent Karl Pitterson spuckte einen ganzen Berg Platten mit einer Art Disco-Reggae aus. Culture aber gingen genau den entgegengesetzten Weg. Zurück zu den roots, zurück nach JA. Ihr Anfang ’78 in England veröffentlichtes Album „Two Sevens Clash“ hatte noch starke Pop-Elemente enthalten. Der brandneue Nachfolger „Härder Than The Rest“ (siehe ME 9/78) dagegen orientiert sich wieder stärker an den typischen Sounds der karibischen Insel, setzt wieder mehr auf die Faszination kräftiger Baßlinien und einfacher Melodien und verweist die Zugkraft europäischer Rock-Arrangements auf den zweiten Platz. „Harder Than The Rest“ das ist ein bemerkenswertes Rock-Album. „Harder Than The Rest“ – das ist zugleich ein Stück Kultur aus der Dritten Welt, das uns ausgelaugten Auto/TV/Coke-Menschen eine Alternative aufzeigen kann. Vorausgesetzt, wir schaffen es nicht, sie vorzeitig zu verwässern. Vorausgesetzt, unsere Sinne sind noch nicht verkleistert und unsere Antennen noch intakt für Impulse, die uns zur Besinnung rufen. Denn in der Musik von Culture spürt man Menschlichkeit und Liebe. Und während wir hierzulande einem zweifelhaften Leistungsprinzip nachjagen und stets den Stärkeren siegen lassen, singen die Nachfahren der von unseren Vorfahren verschleppten Sklaven „Stop The Fussing And Fightin“ – „Hört auf herumzuhetzen und euch zu bekriegen“.
Zu Culture gehören drei Sänger: Joseph Hill, Kenneth Paley, Albert Walker. Im Studio und auf Tourneen arbeiten sie mit Sessionmusikern; eine feste Band gehört nicht zu ihnen. Haben wir es also hier mit drei Predigern aus dem Urwalt, mit exotischen Friedensaposteln zu tun? Was Joseph Hill sagt, ist auch in unseren Breiten nichts Neues: „Solange die Führer der Welt dabei bleiben, Raumschiffe zu bauen mit jenem Geld, das die Bedürftigen versorgen, den Blinden helfen, die Hungrigen füttern und die Nackten bekleiden soll, sieht es überall bös‘ aus. Wir brauchen keine Raumschiffe. Mit dem Geld für ein Raumschiff können wir fünfhundert Schulen bauen.“
Es gibt bei uns genug einheimische Schlauköpfe, die uns auch auf diese Weise ins Gewissen reden. Nur: sie halten Vorträge auf irgendwelchen unwichtigen Kongressen und schreiben Bücher, die Politiker bei passender Gelegenheit wohlwollend zitieren. Culture aber kommen zu uns und bringen ihre Botschaft als Teil der Musik, die wir lieben. Was sie glauben, was sie wollen, was sie können als kreative Künstler, das ist ein- und dasselbe. Rock und Reggae und Rückbesinnung. Diese Botschaft kann uns tatsächlich erreichen, weil sie auf unserer Wellenlänge liegt. Wir nehmen sie auf, während uns drei Sänger unterhalten mit einer Show, die Spaß macht. Bei der sie zwei Stunden wie Derwische über die Bühne tanzen, ihre eingängigen Songs singen und dazu der Rhythmus unaufhörlich in unsere Köpfe und Beine fließt und uns befreit von all dem Blödsinn, der in unserer Umwelt passiert und den Herrn Kopeke in der Tagesschau verliest. Kultur muß nicht identisch sein mit Goethe und Schiller und Volkshochschule und den Montagsmalern. Kultur kann auch Culture heißen. Und Politik kann Spaß machen, wenn sie nicht im Kopf von Strauß oder Schmidt passiert, sondern auf der Bühne im Londoner Rainbow. Das ist das kleine Geheimnis, das im Reggae steckt, so wie ihn Culture bringt. Es ist eben harder than the rest…