Das Album nach dem Album
Incubus in der Stunde der Wahrheit. Die große Frage: Wie klingt das Album nach dem Hit? In ihrem Fall: eigenwillig und überraschend spröde.
Puh. Noch mal Glück gehabt. Der Mainstream-Popfalle entkommen. Man hatte ja befürchtet, dass es schief geht: Irgendein erprobter Donnerproduzent, ein paar kesse Mädchen-Balladen und wohl dosiertes Rocken zwischendurch, und schon ist sie im Kasten, die nächste Platte für den Massenmarkt. Der Trend schien eindeutig-. Nach zwei ambitioniert-verfrickelten Frühwerken stießen Incubus mit dem 2000er-Werk make yourself rein in die Nische zwischen klaren, druckvollen Gitarren-Ansagen und Melodien für Millionen von 12 bis 32. Und dann wurde glatt noch einer drauf gesetzt mit morning view – ein wohlfeil klingender Wonneproppen aus gekonnt temperiertem, jungem Ungestüm und einer sehr professionellen Balance zwischen Herz, Hirn und Hose. Mit einer minutiös gesetzten Punktgenauigkeit, klarer Dynamik und einem Sänger wie aus dem Luxuskörper-Bestellkatalog: Brandon Boyd. Der Brad Pitt des NuRock, oder so ähnlich. Ein feuchter Traum für schwärmende Mädchen und gestandene Rocker gleichermaßen, mit Stimme, Schneid, den dollen Augen und feuerroten Tribaltattoos auf fast allen Gliedmaßen.
Ein Bild von einem Kerl eben – wenn
gleich nicht heute. Da ist er mehr das Häuflein Elend. Mit eingefallenen Schultern, müdem Blick und gräulichem Teint kauert er tief in der Ecke des Sofas, pult verstohlen an den Fingernägeln, kratzt sich am zum Dutt gebundenen Langhaar. Und schiebt dann und wann sein rechtes Bein von links nach rechts. Jenes trägt Gips, tut weh (Achillessehne angeknackst, nichts Schlimmes) und ist zwischen uns aufgebahrt wie ein eindrucksvoller Abstandhalter für zu aufdringliche Fragen. Denn der Brandon hat keine Lust mehr. Natürlich: Er ist freundlich, sympathisch, versucht sich gelegentlich gar an einem Lächeln, aber das 14. Interview des Tages ist eben auch für einen Surferboy wie ihn kein rechter Spaß mehr.
„Nein, da war kein Druck, weil morning view so erfolgreich war. Außer einem: Das neue Album sollte dynamischer, intensiver werden.“ -„Es war großartig, Dinge aus dem Nichts entstehen zu sehen. Wir alle haben über unsere kommende Arbeit in den letzten zwei Jahren überhaupt nicht nachgedacht. Wir haben Kreativität fließen
(ossen. Ohne Richtungsvorgabe, ohne konkretes Ziel. Und dabei ist das beste Album unserer Karriere entstanden.“ – „Nein, ich mag meine Rolle als Blickfang der Band überhaupt nicht. Es verstört mich eher, wenn Leute mir sagen, dass sie mich verehren oder gar lieben. “ – „Die neue Platte ist das intuitivste Stück Musik, das wir je aufgenommen haben.“ Armer Kerl: Immer wieder dasselbe reden. Aber: Er muss das tun. Weil sie sich in den letzten zwölf Monaten hermetisch von der Außenwelt abriegelten, drang nichts über sie nach außen. Keine Vorabinformationen, keine Interviews, selbst die sonst gut informierte Incubus-Fanbase wusste im WWW außer ein paar Randinformationen nichts zu verbreiten.
Und die verhießen Indifferentes: Bassist
Dirk Lance verließ die Band, weil sich sein Lebensentwurf in eine andere Richtung entwickelte; Ersatz fand man in Ben Kenney, dem ehemaligen Bassmann von The Roots. „Wir haben ihnen Ben regelrecht geklaut“, grinst Brandon, „was uns auch Leid tut, aber unumgänglich war. Er passt einfach hundertprozentig zu uns, gab uns den inspirativen Kick, nach dem wir gesucht haben.“
Gitarrist Mike Einziger gönnte sich mit Drummer Jose Pasillas, einer guten Freundin und einem elfköpfigen Orchester das grenzwertig losfunkende Nebenprojekt The Time-Lapse Consortium, das Pink Floyd, Bootsy Collins und James Brown auf einen musikalischen Nenner bringt. DJ Kilmore legte in L.A. ein paar Platten auf, und Brandon vollendete sein erstes Buch „White Fluffy Clouds“, eine Mischung aus Gedichten, Fotografien und ein wenig Artwork… Es sind Dinge, die mir durch den Kopf schießen, die meinen Tag kreativ erfüllen. Ich tue all das ohnehin, auch wenn ich es niemals veröffentlicht hätte. Aber ich hatte das Gefühl, eine Sammlung beisammen zu haben, für die ich mich nicht schämen muss.“
Derart kreativ gestärkt wiederholten sie, was sich schon für morning view als probates Mittel erwiesen hatte: Sie mieteten ein Haus, nahmen im Wohnzimmer auf, mischten in der Küche und lebten, atmeten und dachten Musik. Über Monate. War es für morning view noch der sich vor dem Haus ausbreitende Strand, der sie inspirierte, zog es sie dieses Mal in die Berge oberhalb von Malibu – fernab jeglicher Zivilisation, „mit einem Panorama, dass dir schlecht wird“, wie Brandon scherzt. „Nenn mir einen Menschen, der nicht in der Lage wäre, Außergewöhnliches zu fabrizieren, wenn das Erste und das Letzte, was du jeden Tag siehst, die unberührte, wilde Natur Kaliforniens in fast schon obszönen Technicolor-Farben ist. Und so entstanden rund 20 Songs, deren Herkunft jetzt kaum noch erklärbar scheint. Es sei einfach geflossen, schier rausgebrochen nach den unendlichen Monaten in Hotelzimmern, Nightlinern und auf den großen Bühnen dieser Welt, erzählt Brandon. Und dann diese Konzentration auf Natur, Musik und Inspiration pur: „Es war die bis dahin beste Zeit unseres Lebens. Wir sind so eng zusammen gewachsen wie eine Familie. Wir hingen 24 Stunden am Tag aufeinander. Seit dieser Zeit weiß ich, dass ich theoretisch den Rest meines Lebens mit diesen Kerlen verbringen kann.“
Blieb die Frage: Was jetzt? was kommt danach? Nach Hits, Millionen verkaufter Alben, dem umgesetzten Traum von einer kreativen Keimzelle nachdem man also mit gerade mal Ende Zwanzig alles erreicht hat, was man sich als Rockmusiker wünschen kann? Bloß kein Druck. Schreiben, wenn es fließt. Und wenn es mal nicht fließt, einfach surfen gehen. Es galt, diesen spontanen, extrem direkten Vibe einzufangen. Und das hat funktioniert: a crow left of the murder überrascht auf ganzer Linie. Keine Hitsingles mehr, wenig, das einen anspringen würde, wie es das auf den voran gegangenen Alben noch zuhauf gab. Vielmehr regiert hier eine eigenwillige, oftmals vertrackte und herzlich kernig und rau klingende Rockmusik. Es gibt minutenlange Gniedel-Soli, kompromisslos Losbretterndes und dezent pluckernde Elektronik, es gibt um die Ecke gedachte Arrangements und einen Hang zu unkonventionellem Spielwitz. Der Sound erinnert an die trockene Souveränität eines californication, der Facettenreichtum an king FOR A DAY. FOOL FOR A LIFETIME; Und diese abgeklärte Nonchalance, nur zu tun, was man im Moment des Entstehens für richtig hält, nichts zu planen und es einfach laufen zu lassen, hat eine Menge von den Spätwerken Pearl Jams. Selbst Brandons Stimme und Melodieführung haben sich grundlegend verändert: Was früher, bei Hits wie „Drive “ oder „Wish You Were Here“, stimmlich wie ein vertrauter Spaziergang um den Block wirkte, mutet nun wie ein wilder Streifzug durch den Dschungel der Töne an. War das alles Vorsatz? Wollte man weg vom Image der Singleband – ein Umstand, der ihnen schon immer so verhasst war wie medientaugliche Auftritte auf roten Awardshow-Teppichen? „Darum ging es nicht“, so Brandon. „Wir haben kein Problem damit, eine gute Single zu schreiben und sie auch zu veröffentlichen. Aber es ist nicht das, was dieses Mal entstehen sollte. Es tut mir ja auch ein wenig Leid für die Plattenfirma, dass unsere Musik auf dem neuen Album einen kauzigen, ja unpopulären Charakter aufweist. Aber ich bin absolut sicher, dass unsere wirklichen Fans, also nicht die Trendhörer unserer kommerziellen Singles, diesen Richtungswechsel mitgehen werden. Sie werden das Album lieben – einfach, weil es ehrlich ist und zu hundert Prozent unserer kreativen Seele entspricht.“
Und so wird a crow left to the murder zu dem, was der symbolträchtige Titel verspricht: Ein abstraktes, oft surreal verzerrtes Abbild einer erfolgreichen, aber dennoch stets nach Neuem suchenden Band, die sich bewegt. Nicht wie die Deftones oder Korn, zwei Bands aus der gleichen musikalischen und geografischen Region mit ähnlicher Geschichte, die zuletzt auf hohem Niveau stagnierten. Nicht wie Soundgarden oder die Stone Temple Pilots, die nach großen Erfolgen das Ziel und den Biss verloren, auch weiter mit Innovation zu glänzen. Incubus sind anders. Nämlich fünf Freunde fürs Leben, die sich seit den gemeinsamen College-Tagen immer besser verstehen und eine kreative Plattform geschaffen haben, wo sie auf höchstem Niveau einfach das tun können, was ihnen Lust, Energie und Inspiration verspricht.