Das Kraut der frühen Jahre
Die Journalisten von „NME“ und „Melody Maker“ waren wieder einmal schnell bei der Sache. Als in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren experimentelle Musik aus Deutschland populär in Großbritannien wurde, hatten die Wochenmagazine ihren Sammelbegriff sofort parat: „Krautrock“ – das war nicht unbedingt nett gemeint, weil es sich ableitete vom Begriff „Krauts“, der despektierlichen Bezeichnung für Deutsche, die während des Ersten Weltkriegs in England aufkam. Wie das so ist mit Schmähbegriffen, sie werden gerne von den Geschmähten positiv umgedeutet. Sowohl Conrad Schnitzler (auf seinem Album Rot) als auch die Art-Noise-Avantgardisten Faust (auf dem Album Faust IV) nannten einen ihrer Tracks „Krautrock“.
Dass die Mehrheit der Protagonisten ihre Musik trotzdem ungern so bezeichnet wissen wollte, lag weniger am Kraut als vielmehr am Rock. Denn was die Engländer mit dem Begriff meinten, hatte mit Rock im anglo-amerikanischen Sinn wenig zu tun, sondern war experimentelle, progressive, nicht selten elektronische Musik, die ihre Inspiration vor allem aus der zeitgenössischen klassischen Musik zog. Karlheinz Stockhausen, einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, gilt als Einfluss auf die Krautrocker, obwohl er zu Lebzeiten die Musik seiner Epigonen als profan abtat. Die beiden Can-Mitglieder Holger Czukay und Irmin Schmidt waren in den 1960er-Jahren Schüler Stockhausens.
Die Nähe zur Avantgarde ist die einzige Gemeinsamkeit des an sich inhomogenen Krautrock. Düsseldorf hatte die frühen, noch nicht elektronischen Kraftwerk zu bieten; Neu! mit Michael Rother und Klaus Dinger, quasi das Spaltprodukt einer frühen Kraftwerk-Besetzung; Cluster, das Projekt von Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius. In Berlin wurde mit Tangerine Dream, Conrad Schnitzler, Klaus Schulze und Manuel Göttsching (Ash Ra Tempel) eine eigene Spielart elektronischer Musik begründet. Und aus Köln kamen Can, diese genialen Avantgardisten mit ihren perkussiven Kollektivimprovisationen zwischen Psychedelia und Elektronik. Albert Koch