Das Luder


Madonna macht Karriere mit Koketterie und Kalkül. Es sind handfeste Ambitionen, die sich hinter ihren unschuldigen Lolita-Augen verbergen. Sie macht überhaupt keinen Hehl daraus, ein "material girl" zu sein, das Erfolg nur in harten Dollarn mißt. Und für dieses Ziel ist ihr - fast jedes Mittel recht. "Menschen zu beeinflussen, darin bin ich Meister. Madonna sagt das ganz...

… sachlich und lächelt. Ihre Oberlippe zieht sich über ihren breiten Mund, ihre Zähne blitzen, sie lacht. Das Lachen sagt, daß sie einen Witz macht – und daß man ihn nicht glauben soll. Aber die Augen sagen dir: Glaub es! Die großen, runden Augen, die einen unschuldig, aber dringlich anstarren, betteln darum, daß man ihr glaubt. Sie meint es ernst.

Madonna möchte unbedingt ein Star sein. Ein großer Star. Eine Single auf Platz 1 und ein Album auf Platz 2 in den Staaten zu haben, das reicht ihr noch lange nicht. Sie bekam Ärger, weil sie im amerikanischen Fernsehen sagte, daß es ihr größtes Ziel sei, die Welt zu regieren. In Wirklichkeit, sagt sie zu mir, will sie gleich nach Gott kommen. Und lacht. Ich glaube ihr.

Irgendwie ist sie wirklich etwas Besonderes. Das liegt weder an ihrer Stimme, die eher mittelmäßig ist; auch nicht an ihrem tänzerischen Talent, das man allenfalls als akzeptabel bezeichnen kann. Und schließlich ebensowenig an ihrem Gespür für Mode, von dem man höchstens sagen kann, daß sie schnell lernt.

Es hat etwas mit der Schönheit und Sexualität zu tun, die sie ausstrahlt. Madonna ist ein merkwürdiges, einzigartig amerikanisches Geschöpf. Außen purer Ehrgeiz und ganz der Wille, Erfolg um jeden Preis zu haben. Aber innen findet sich unter der demonstrativen Kaltschnäuzigkeit eine unerwartete Zerbrechlichkeit. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen macht Madonna zu einer faszinierenden, sogar unwiderstehlichen Person. Ein Mensch, dem man es auf der Stelle glaubt, daß er wie geschaffen ist für den Erfolg, den er so verzweifelt anstrebt.

Möglicherweise wird sie es weiterhin als Popstar schaffen, vielleicht aber noch eher als Schauspielerin. Es gibt einige Leute in New York, die darauf schwören, daß sie die nächste Marilyn Monroe sein wird…

„Madonna ist eine Kindfrau,“ sagt Maripol, ihre französische Modeberaterin. „Sie liebt Spaß, aber sie ist auch eine Femme Fatale. Sie ist verletzbar – aber auch wieder nicht zu sehr. Sie ist nicht wirklich zäh, aber sie wird alles überleben. Sie ist der geborene Star.“

Geboren wurde der geborene Star in der Industrie-Metropole Detroit. Ihre italo-amerikanische Familie gehörte zur unteren Mittelschicht. Dennoch wären die Ciccones vermutlich eine glückliche Familie gewesen, wäre Madonnas Mutter nicht früh an Krebs gestorben; die Ärzte hatten eine falsche Diagnose gestellt.

Die kleine Tochter war damals gerade sieben; für sie brach eine Welt zusammen. Ihr Vater schaffte es nicht, sich um sechs Kinder zu kümmern und gleichzeitg seinem Job als Ingenieur bei Chrysler nachzugehen; die Kinder wurden bei verschiedenen Verwandten untergebracht.

Nach mehreren Monaten, in denen Madonna von Familie zu Familie gewandert war, stellte ihr Vater eine Haushälterin ein und alle Kinder kehrten nach Hause zurück. Für Madonna aber gab es kein Zurück mehr zur alten Stabilität ihrer Familie. Ihr Vater stellte immer wieder neue Haushälterinnen ein – doch Madonna kann sich an keine erinnern, die sie gemocht hätte. Als sie zehn war, heiratete ihr Vater eine von ihnen.

„Die Heirat meines Vaters überraschte uns, weil wir gedacht hatten, daß er eine andere Frau heiraten würde, die unserer Mutter sehr ähnelte. Wir versuchten, Stimmung für sie zu machen. Aber dann heiratete er plötzlich eine andere…Ich mochte meine Stiefmutter nicht besonders. Sie war unglaublich streng, wie eine Vorgesetzte.“

Man muß nicht Sigmund Freud heißen um festzustellen, daß Madonnas Kindheit viel zu tun hat mit der Unsicherheit, die Madonna mit jeder Pore ausströmt. Aber gleichzeitg war sie auch eine Kämpferin. Und das Ringen um die Liebe ihres Vaters in Konkurrenz zur Stiefmutter und den anderen Kindern im Haus – machte das kleine Mädchen zu einer sehr frühreifen jungen Dame.

„Ich spürte von Anfang an, daß man eine Menge erreichen kann, wenn man ein Mädchen ist – und das auf eine aufreizende, weibliche Art unterstreicht. Ich habe das ausgenutzt, wo immer ich konnte.“

Die strenge Disziplin ihrer katholischen Schulerziehung verstärkte Madonnas Gefühl, einsam und ungeliebt zu sein; sie beschreibt den Katholizismus als „etwas Dunkles, Schmerzliches und Schuldbeladenes „.Sie reagierte darauf, indem sie umso auffälliger versuchte, Aufmerksamkeit zu erheischen.

„Ich wollte all das machen, was ich nicht durfte. Wenn ich in die Schule ging, mußte ich eine Uniform anziehen, ich durfte kein Make-up und keine Nylons tragen. Ich durfte mein Haar nicht schneiden und mich nicht mit Jungs treffen. Ich durfte nicht mal mit meinen Freunden ins Kino!

Wenn ich also zur Schule ging, dann krempelte ich meinen Uniformrock hoch, damit er kurz wurde; ich ging aufs Schulklo und legte Make-up auf und zog die mitgebrachten Seidenstrümpfe an. Ich war unglaublich kokett und tat mit Vorliebe, was man mir verboten hatte.“

Ihre Sehnsucht nach Aufmerksamkeit trieb sie dazu, sich ständig zu produzieren. In der Schule war sie Cheerleader, wurde aber schon bald von noch größerem Ehrgeiz gepackt. „Ich nahm jede Gelegenheit wahr, ein Liedchen vorzutragen oder etwas vorzutanzen – und erntete immer spontan Applaus. Also beschloß ich, das professionell zu machen.

Ich nahm Ballettstunden bei einem unwahrscheinlich strengen Ballettlehrer. Er war derjenige, der mich wirklich inspiriert hat. Er sagte immer wieder: Du bist anders‘ und Du bist schön‘. Er sagte nie, daß ich mal eine große Tänzerin abgeben würde. Er sagte nur: ‚Du bist was ganz Besonderes.'“

Tanzen und kleine Auftritte wurden zum Ventil für ihre Energie und verdrängten die große Leere, die sie in sich verspürte.

„In der Schule hatte ich nie viele Freunde. Ich begnügte mich mit mir selbst und tat, wonach mir der Kopf stand. Und als ich dann mit der Tanzschule begann, hatte ich mit älteren Leuten zu tun, die sich alle für unheimlich gebildet hielten. Ich fühlte mich richtig überlegen! Ich litt zwar unter dem Gefühl, fehl am Platze zu sein, aber ich dachte auch, daß es das schon wert sei. Ich gehöre hier nicht hin, weil ich hier nicht reinpasse‘, dachte ich. Ich gehöre in eine besondere Welt. „

Madonna spricht über ihre Entwicklung zum „Sex-Kätzchen“-Image mit einer fast schon klinischen Distanz. Fast so, als wäre sie selbst erstaunt darüber, daß so ein einsames kleines Mädchen einen solch ausgeprägten, eiskalten Ehrgeiz entwickeln kann. Aber den hat sie, das steht fest. Irgendwann schaltete die Entscheidung, ein Star zu werden, alles andere in ihrem Leben einfach aus.

Ich fragte Madonna, ob ihr als Katholikin der Entschluß schwergefallen sei, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren.

„Oh nein, ich nahm es als notwendigen Karrieresprung.“ Gelächter – wieder diese großen Augen, die dich daran hindern, das einfach als Witz zu verstehen.

Mit 17 machte sich Madonna auf die Suche nach ihrer „besonderen Welt“ – sie ging nach New York. „Es war der erste Flug in meinem Leben. Ich kannte niemanden. Ich hatte keine Wohnung und gerade 35 Dollar in der Tasche.“

Die erste Zeit war hart. Sie zog dauernd um, war ständig abgebrannt und hatte auch keine rechte Freude mehr am Tanzunterricht. Aber sie entdeckte die Welt des Rock ’n‘ Roll und stellte fest, daß diese die besten Möglichkeiten bot, ein Star zu werden.

Die Geschichte ihres Aufstiegs hat eine so methodische Zwangsläufigkeit, daß man meinen könnte, sie wäre in Hollywood geschrieben. In der Tat hätte Madonnas Story einen weit besseren Stoff für einen Film abgegeben als „Flashdance“.

In New York traf sie einen Jungen namens Dan, der sie überredete, sich seiner Rockband anzuschließen und bei ihm einzuziehen. Er brachte ihr bei, Gitarre zu spielen und Songs zu schreiben. Dann stieß sie zufällig auf Steve, einen alten Freund aus Detroit. Er überzeugte sie davon, ihre Musik mehr in Richtung Disco zu orientieren und ein paar Demobänder aufzunehmen.

Ihr nächster Liebhaber führte sie in New Yorks blühende „New Wave“ Nachtclub-Szene ein. Sie entdeckte ihr Interesse an Mode und gehörte bald zu New Yorks „Night People“. Sie ging fast jeden Abend in die Discos, die gerade „in“ waren und erzählte jedem, den sie traf, daß sie ein großer Star sein würde.

Hier in den Clubs entwickelte sie ihre eigene Art, sich anzuziehen: ein unerbittliches Tauziehen zwischen Wollsachen und Reizwäsche – mit größeren Verlusten auf beiden Seiten. Die Dürftigkeit ihrer Kleidungsstücke machte sie wett durch eine exzessive Schmuck-Sammlung, meist aus Metall und Gummi und mit ausgeprägt katholischen Motiven (Kruzifixe und Rosenkränze an Stellen, die bei Nonnen einen Schlaganfall verursacht hätten ).

Mark Kamins, DJ in der New Yorker Danceteria, traf sie zu dieser Zeit: „Madonna war jung und ein bißchen naiv. Aber sie hatte ihren eigenen Stil – immer mit freiem Bauchnabel, dem Netzoberteil und den Seidenstrümpfen. Und sie wußte stets, was sie wollte. Sie hatte ein unwahrscheinliches Bedürfnis, sich vor anderen Leuten zu produzieren. Wenn sie zu tanzen anfing, dann standen 20 Leute auf und tanzten mit.“

Es war Mark Kamins – natürlich, auch er war ihr Boyfriend – der ihr die erste Chance gab. Sie überredete ihn, am Samstagabend ihre Democassette in der Danceteria zu spielen. Der Song hieß „Everybody“. Mark liebte ihn und die Stammgäste auch. Er brachte das Band zu diversen Plattenfirmen. Sire nahm sie auf der Stelle für drei Dance-Maxis unter Vertrag.

Seymour Stein, Präsident von Sire Records. ist einer der urteilsfähigsten Leute im New Yorker Business. Er gehört nicht zu denen, die über junge Mädchen herfallen. Trotzdem traf ihn Madonna wie der Blitz.

„Ich lag im Krankenhaus, als man mir von Madonna erzählte. Mark Kamins brachte sie mit, und ich unterzeichnete den Vertrag gleich im Krankenhaus. Normalerweise kümmerst du dich ja nicht darum, wie du aussiehst, wenn du im Krankenhaus bist. Aber ich rasierte und kämmte mich und besorgte mir einen neuen Schlafanzug. „

Die ersten beiden Singles („Everybody“ und „Burning Up“) waren zwar Hits in den Discos, brachten es aber nicht weit in den Charts. Die Promotion lief noch auf Sparflamme. Ihr Erfolg in den Discos veranlaßte Sire und die Mutterfirma Warner Brothers aber, für das Debütalbum die großen Werbegeschütze aufzufahren. Die Single „Holiday“ rutschte in die Top 20 und wurde zur amerikanischen Sommer-Hymne.

Und das passierte ohne Video. Die nächste Single, „Borderline“, wurde mit einem netten kleinen Clip gepusht: Madonna spielt ein in Leder gekleidetes Straßenmädchen, das in Manhattans Lower West Side mit Autos, Sprayfarbe und – natürlich – Jungs herumtollt. Als die amerikanische Jugend Madonna zu Gesicht bekam, gab es kein Halten mehr. Diese Kleider! Diese Lippen! Diese Kruzifixe! Dieser Bauchnabel!! Sie hatte es geschafft.

Jetzt, mit der Firmen-Unterstützung im Rücken, gibt es kaum Zweifel, daß wir erst die Spitze des Eisbergs gesehen haben. Ihre vorletzte Single, „Like A Virgin“, schoß in den Staaten auf den ersten Platz. Und zwar mit Hilfe eines Videos, in dem es Madonna nach Venedig verschlägt: Dort tänzelt sie umher mit Gondeln, Löwen und wie sollte es anders sein – Jungs. Die zweite LP, auch mit dem Namen LIKE A VIRGIN, wurde von dem Ex-„Chic“-Mann Nile Rodgers produziert, der gegenwärtig als New Yorks heißester Produzent gehandelt wird.

Aber so sehr sich Madonnas Musik auch entwickelt – ihr Image scheint unabänderlich auf die Rolle des „Sex-Kätzchens“ festgelegt zu sein. Sowohl Coverfotos als auch Texte scheinen zu suggerieren, daß es ihr größtes Bestreben ist, das zu sein, was auf ihrem berühmten Gürtel steht: ein „Boy-Toy“, ein Spielzeug für Jungs.

Sie hat bisher nur wenig über ihr eigenes Image nachgedacht; es scheint auch, als hätte sie sich über Popmusik im allgemeinen noch nicht viele Gedanken gemacht.

Ambition und Erfolg sind scheinbar ihr Ein und Alles; der Weg, den sie dorthin eingeschlagen hat, scheint völlig belanglos zu sein. Fragen wir sie. „Madonna, welche Videos magst du?“

„Oh, ich weiß nicht. John, welche Videos mag ich?“

(Ihr momentaner Freund John „Jellybean“ Benitez zuckt mit den Schultern). Welche Musik magst du?

„Oh, ich mag Bronski Beat… John, was mag ich noch?“ (John zuckt mit den Schultern).

Welche Schauspielerinnen findest du gut?

„Marilyn Monroe, Carol Lombard. Jessica Lange, Susan Sarandon – aber John mag sie mehr als ich.“

Alle deine Lieder scheinen sich um Jungs zu drehen…

„,Over and Over‘ aber nicht.“

Worum geht es denn bei dem Song?

„Um Ambition“.

Worüber würdest du gerne noch schreiben?

„Meine Kindheit. Übers Aufwachsen und das Gefühl, einsam zu sein. Darüber, daß man nie die Liebe findet, die man zuhause braucht.“

Bist du ein Boy Toy?

„Das ist ein Gag. Es ist ein Spitzname, den man mir gegeben hat, als ich in New York ankam. Das ist eine rein persönliche Aussage. Das gilt nicht für alle Frauen, nur für mich selbst.“

Im Laufe dieses Jahres wird Madonnas erster Spielfilm anlaufen: „Desperately Seeking Susan“ unter der Regie von Susan Seidelman („Smithereens“). Sie spielt ein freizügiges Mädchen; vermutlich eine ideale Rolle für sie. Madonna ist versessen darauf, häufiger zu schauspielern und zeigt mehr Enthusiasmus für den Film als für Popmusik. Sie spürt, daß ihre „Lolita-Qualität“, ihre Direktheit und ihr kluges Köpfchen im Medium Film besser zur Wirkung kommen.

Die Ähnlichkeit zwischen Madonna und Marilyn Monroe geht über das Physische hinaus. Da ist nicht nur Madonnas Neigung, ihren Gesang mit Monroe-esquen Quieksern und Seufzern zu untermalen. Wie Marilyn hatte Madonna eine unglückliche Kindheit, die in ihr den brennenden Wunsch nach Bestätigung auslöste. Und die Überzeugung, daß das nur mit Sex Appeal zu erreichen ist. Wie Marilyn hat Madonna die Intelligenz und den Grips, ihren Sex Appeal über das Niveau kruder Vulgarität zu erheben.

Madonna, was magst du an Marilyn Monroe?

„Ihre Unschuld und ihre Sexualität und ihren Humor und ihre Verletzbarkeit.“

Du hast all diese Eigenschaften.

„Ich weiß“.

Wie Marilyn scheint Madonna die kleinen Freuden des Lebens dem leidenschaftlichen Verlangen nach Ruhm geopfert zu haben. Offensichtlich genießt sie nicht einmal ihre Boyfriends sonderlich.

Es kursiert das Gerücht, daß Madonna ihre Freunde auf dem Weg nach oben skrupellos ausnutzt. Insofern war ich überrascht, daß all ihre früheren Freunde sich gern an sie erinnerten – während sie selbst in ihren Beziehungen wenig Erinnerungswürdiges gefunden zu haben scheint. In New York wird gemunkelt, daß ihre jetzige Beziehung zu „Jellybean“ auf der Kippe steht – wohl ein weiteres Opfer an die Göttin des Ruhms.

Madonnas pathologischer Ehrgeiz wird ihr zwar mit einiger Sicherheit den großen Durchbruch bringen. Aber es besteht auch die Gefahr, daß das sensible Mädchen in ihr zerbricht. Einer ihrer Freunde erzählt mir:

„Ich glaube, Madonna lebt den Monroe-Mythos viel stärker aus, als ihr selbst klar ist. Sex ist Madonnas Trumpf. Das geht so weit, daß es zu ihrem einzigen Kommunikationsmittel wird, zum alleinigen Terrain, auf dem sie sich noch wohlfühlt.

Sie hat eine tiefsitzende Angst vor sich selbst und davor, mit sich allein zu sein. Dabei ist sie als Persönlichkeit viel interessanter, als sie denkt und viel zerbrechlicher, als sie zugeben will. Es wird höchste Zeit, daß sie ihr Verhalten ändert.“