Das sagen Tokio Hotel über 7 ihrer eigenen Songs
„Wir waren wie gequälte Tanzbären, die jahrelang durchgepeitscht wurden.“

Tokio Hotel sind die wenigen wirklichen Weltstars made in Germany neben, sagen wir, den Scorpions. Die vier sind seit mehr als 20 Jahren im Geschäft (und trotzdem erst Anfang 30). Höchste Zeit, ihnen mal eine Auswahl an Songs aus ihrem eigenen Œuvre vorzuspielen. Ein Œuvre, das seinen Anfang in der Provinz Sachsen-Anhalts der Nullerjahre nahm.
Die Zwillinge Bill und Tom Kaulitz waren bereits als Zwölfjährige in Sound und Optik derart stilbewusst, dass manche Tokio Hotel bis heute für ein Castingprodukt halten. Tatsächlich schrieben sie ihre Songs gemeinsam mit dem Bassisten Georg Listing und dem Schlagzeuger Gustav Schäfer selbst, bevor sie von Universal entdeckt und 2005 mit „Durch den Monsun“ Megastars wurden.
1. „Lass uns hier raus“ (2005)
Bill Kaulitz: Der Song hat eine ähnliche Message wie „Fahr mit mir (4×4)“ mit Kraftklub: Wir wollten damals weg, unseren Traum leben. Natürlich war das rotzig. Als wir die Nummer aufgenommen haben, war ich zwölf. Aber es ist ja immer noch so: Deutschland braucht keine Vollidioten! (lacht) Ich würd’ sagen, man könnte den noch mal re-releasen.
Wisst ihr noch, wen ihr gemeint habt mit den Zeilen „Deutschland braucht’n Superstar / Und keine Vollidioten“?
Bill: Damals ging es ja los mit Castingshows, und das war ein Seitenhieb. Aber ich war ja ehrlich gesagt selbst mal bei einem Casting und bin in der ersten Runde rausgeflogen.
Georg Listing: Uns wurde oft nachgesagt, dass wir eine Castingband seien – und das war ein Aufbäumen dagegen. Zu sagen: Nee nee, wir sind seit 2001 eine Band, also Jahre vor „Durch den Monsun“.
2. „Schrei“ (2005)
Bill: Unsere erste Platte hat sich darum gedreht, wegzukommen aus unserer damaligen Welt, es ging um eine Befreiung von der Schule und den Eltern. Wir wollten anecken, polarisieren.
Inwiefern spielte euer Heimatort Loitsche bei Magdeburg dabei eine Rolle?
Bill: Ich hab’ das Gefühl, dass das der Motor für alles gewesen ist, die Inspiration für die Musik. Raus, raus, raus aus diesen Nazi-Dörfern. Als Teenager hatten wir Todesangst, in den Schulbus zu steigen, so wie wir aussahen. Klar, wir haben es uns auch nicht einfach gemacht. Der Fleiß, die Energie und Liebe, die wir in die Band stecken, kommt davon, wie wir aufgewachsen sind.
Georg, wie war es für Gustav und dich, mitzuerleben, wie die Zwillinge Zielscheibe von Anfeindungen waren?
Georg: In der Zeit vor dem Durchbruch ging es jeden Tag nur darum, die Schule rumzukriegen und dann so schnell wie möglich im Proberaum zusammen abzuhängen. Wir haben uns immer schon als Gemeinschaft verstanden, und als Brüder, die sich gegenseitig beschützen.
Wie seid ihr mit dem Erwartungsdruck umgegangen, der auf „Schrei“ lag nach dem Mega-Hit „Durch den Monsun“?
Bill: Eigentlich sollte „Schrei“ die erste Single werden! Aber dann hörte die Freundin unseres ehemaligen A&R alle Songs im Auto auf Kassette und meinte spontan: „Oh, ich find’ den am schönsten!“ Und weil er so verliebt war, hat er sie entscheiden lassen.
Georg: Deswegen waren wir damals auch relativ selbstbewusst danach mit „Schrei“, weil das die Nummer war, die wir zuerst rausbringen wollten, und wir dachten: „Wenn ,Durch den Monsun‘ schon so was auslöst, wartet erstmal ab, bis ihr ,Schrei‘ hört!“ (beide lachen)
Wie lustig, dass euer Hit eine zufällige Entscheidung war, aufgrund von Verliebtheit.
Bill: Total! Wir haben damals vor allen Plattenfirmen ein Live-Set im Studio vorgespielt, und „Durch den Monsun“ wollte wirklich keiner. Und als er doch in letzter Sekunde ausgesucht wurde, hat man auch nicht so viel Geld fürs Musikvideo ausgegeben, weil alle dachten: „Der eigentliche Knaller, der kommt ja noch!“
3. „Humanoid“ (2009)
Man hört dich hier singen: „Gegen die Regeln, gegen Macht / Gegen alles, gegen alles / Zwischen die Welten / Bin ich gefangen“.
Bill: Außenseitertum ist so unser Ding! (lacht) Zu der Zeit hatten wir das Gefühl, wir stehen in Konkurrenz mit uns selbst wie Kinderstars, die immer verglichen werden mit ihrer Arbeit von damals. Der Song war ein Befreiungsschlag: Wir dürfen uns verändern.
4. „Masquerade“ (2014)
Bill: Bei KINGS OF SUBURBIA haben Tom und ich angefangen, selbst zu produzieren und das Musikalische wieder in die Hand zu nehmen. Wir hatten gerade angefangen, in unserem Haus in L.A. ein Studio zu bauen. KINGS OF SUBURBIA war eine wichtige Platte für uns, um Selbstvertrauen zu tanken und zu merken: Wir können wieder alleine Songs schreiben.
Das war von Anbeginn sehr zentral für euch?
Bill: Total! Bei unserem zweiten und dritten Album wurde aber ausgenutzt, dass wir keine Zeit mehr haben, selbst ins Studio zu gehen.
Georg: Und wenn wir irgendwann mal vom Touren nach Hause gekommen sind, trat man an uns heran: „In zwei Wochen geben wir das neue Album ab – wollen wir dann mal?“
5. „Wir sterben niemals aus“ (2007)
Bill: Wie cool, das war der einzige Song, den wir komplett alleine geschrieben haben für die zweite Platte! Egal, was um uns herum passiert, wir werden uns nie trennen – das war damals unsere Botschaft an uns selbst.
Georg: Ein gegenseitiges Versprechen.
6. „Vergessene Kinder“ (2007)
Da sind mir die Lyrics aufgefallen: „Die Straße wird zum Grab / Die Spuren sind verwischt / ’ne Suche gab es nicht / Kalt is’ die Nacht“.
Bill: Ich weiß noch, dass meine Mutter damals oft dachte: „Wenn die Leute hören, was ihr für Texte schreibt, krieg’ ich Ärger mit der Schule! Die schicken mir Psychologen nach Hause!“ Ich war halt ein Riesen-Fan von deutscher Musik, hab’ damals viel Nena gehört, und weil sie immer politisch war, wollte ich auch immer schon Musik mit einer Aussage machen.
Wie ist es, so ein Lied jetzt als Erwachsene zu hören?
Georg: Ich glaube, der Song ist aktueller denn je. Im Vergleich zu heute war damals Friede, Freude, Eierkuchen. Es gab wahrscheinlich noch nie einen relevanteren Zeitpunkt für diesen Song als jetzt. Ich hab’ den auch schon 100 Jahre nicht mehr gehört! Schön, dass du den auswählst.
7. „Dream Machine“ (2017)
Bill: Das war das allerwichtigste Album unserer Karriere. Bei diesem Song standen wir nach mehr als zehn Jahren ohne unsere Produzenten da und waren aus unserem alten Plattendeal raus. Alle haben gesagt: „Ha, jetzt müsst ihr schauen, wie ihr ohne uns klarkommt!“ Wir waren wie gequälte Tanzbären, die jahrelang durchgepeitscht wurden. Auf einmal wurden wir von allen stehen gelassen, aber wir wollten das auch, um uns von den Ketten zu lösen.
Für DREAM MACHINE haben wir uns im Studio verschanzt, niemanden rangelassen, sondern wollten nur zu viert alles selber schreiben und produzieren. Und es war wichtig, diesen Traum zu verwirklichen, dass wir es auch ohne alle anderen können: Das war unsere Dream Machine.
Und es stimmte ja auch: Ihr braucht die ganzen Leute nicht, die an euch zerren.
Bill: Genau, und das war dann auch unsere geilste Platte, muss ich sagen! (lacht)
Das ME Blind Date mit Tokio Hotel ist in der ME-Ausgabe 12/22 erschienen.