Death Cab For Cutie: Die Anti-Hipster
Im März kommen Everybody's Darlings Death Cab For Cutie mit ihrem aktuellen Album ASPHALT MEADOWS auf Deutschland-Tour. In den USA feiern sie live das 20. Jubiläum ihres Klassikers TRANSATLANTICISM und gleichzeitig das von The Postal Services bis heute einziger Platte GIVE UP. Unsere ME.Helden-Geschichte aus der Musikexpress-Ausgabe 03/2023.
Your favourite old band: Death Cab For Cutie gelten als die unschuldigste aller Indie-Rock-Gruppen – und als eine der erfolgreichsten der Nullerjahre. Vor 20 Jahren erschien ihr Mainstream-Schulterschluss TRANSATLANTICISM, ein moderner Klassiker über Fernbeziehungen in Zeiten vor Social Media sowie, wenige Monate davor, das noch immer einzige und kultisch verehrte Album GIVE UP von Sänger Ben Gibbards Indietronica-Projekt The Postal Service. Was für ein Luxus, es selbst zum Jubiläum dabei belassen zu können.
Anfang der 2000er, als es außer MySpace noch keine sozialen Medien im heutigen Sinne gab, da landete man als Indie-Band nicht dann im Mainstream und im popkulturellen Gedächtnis, wenn die eigene Musik in einem Reel oder auf TikTok viral ging. Nein, berühmt wurde,ganz klassisch, wer in Hollywood stattfand. Bei Phantom Planet half der Einsatz ihres Roadtrip-Hits „California“ im Film „Orange County“ sowie in der Serie „The OC“, die Prominenz ihres Drummers Jason Schwartzman tat ihr Übriges. The Shins wurden in Zach Braffs „Garden State“ verewigt, als Natalie Portman mit Kopfhörern über „New Slang“ die Sätze sagte: „Du musst diesen Song hören. Er wird dein Leben verändern“. Death Cab For Cutie waren 2003 mit den Singles „The Sound Of Settling“ und „Title And Registration“ bereits in Folgen von „Californication“ und auch „The OC“ zu hören. Unsterblich aber machte sie ihre Trennungsdramaballade „Transatlanticism“ vom gleichnamigen, vierten Album: In einer Schlüsselszene der 4. Staffel des schwarzhumorigen Seriendramas „Six Feet Under“, erstmals ausgestrahlt im Juli 2004, sangen Bestattungsfamilientochter Claire Fisher und ihre Freund*innen im Rausch der Nahbarkeit immer und immer wieder die Zeilen „I need you so much closer“. Und damit ebenso, wie Ben Gibbard diese Zeilen immer und immer wieder sang, sieben Minuten und 55 Sekunden lang, zu einem Crescendo aus anfangs nur zwei Akkorden und 4/4-Drums, bis er und die Zuhörenden gleichsam erschöpft vom Suchen, Finden und Vermissen mit dem Rücken auf dem Bett liegen. Damals, vielleicht genau in diesem Moment, küssten Death Cab For Cutie als Stellvertreter der letzten unschuldigen Generation den Mainstream. Sie verloren sich jedoch bis heute nicht in ihm.
Hipster waren Death Cab For Cutie nie, aber everybody’s darlings
Ihren Kultstatus haben Death Cab For Cutie auch einem Missverständnis zu verdanken. Im Jahr 2003, als TRANSATLANTICISM erschien, galten sie als leise Stimme der Millennials und Inbegriff einer Hipster-Band – also als eine, die niemand kennt, aber jede*r, die oder der sie kennt, dazugehört. Zu den cool kids. Die, die die richtigen Serien und Platten kennen. Der Begriff „Hipster“ kam gerade auf, der Begriff „Indie“ war noch nicht so verwaschen, wie er es Jahre später wurde, und rein musikalisch passten Death Cab, wie Fans ihre Lieblingsband nennen, ja auch in diese Nische: Ihre ersten drei Platten erschienen auf dem Indie-Label Barsuk Records und damit im Umfeld von Szenegrößen wie Nada Surf und They Might Be Giants. Sie stammen aus Bellingham im US-Bundesstaat Washington und damit aus für nordamerikanische Verhältnisse unmittelbarer Nähe zu zwei der ersten Hipsterzentren, die sich außerhalb von Brooklyns Stadtteil Williamsburg einen solchen Namen machten: Seattle und Portland. Optisch aber wirkten Sänger Gibbard, Gitarrist und Keyboarder Chris Walla, Bassist Nick Harmer und Drummer Jason McGerr wie das Gegenteil von „hip“: Die Seitenscheitel und skinny Jeans, die sie trugen, waren vielmehr ein Relikt aus der Emoszene, in deren Tradition sie sich anfangs gesehen haben dürften, die Nerdbrillen ein Mittel zum Zweck. Hätte es Spotify schon gegeben, hätte es heißen können: Fans, die Death Cab für sich entdeckten, hörten vorher auch The Promise Ring, Mineral, Elliott, diese Generation von Emorockbands eben, die mit Bombast und Kajal noch nichts am Hut hatte, dafür mit, ja, echten Gefühlen minus dem Hardcore, den noch frühere Genre-Pioniere wie Fugazi einbrachten. Kein Schnurrbart, keine Nackenmatte, keine Ironie, bloß freundliche Langeweile: Schon damals sahen sie aus wie die Erdkunde-Lehrer, die sie vielleicht auch geworden wären, hätte es mit ihrer ebenso unaufgeregten Musik nicht so wunderbar geklappt. Nein, hip war das nicht. Aber unerhört gut.
Die Geschichte von Death Cab For Cutie ist vor allen Dingen die des 1976 geborenen Benjamin Gibbard, von Seattles unfreiwillig boomendem Grunge-Sound beeinflusster Sohn eines Navy-Offiziers. Der Sänger, Songschreiber und Gitarrist verdingte sich in einer Band namens Pinwheel. Als Solomusiker nahm er als ¡All-Time Quarterback! auf, veröffentlichte andere Lieder später unter dem Namen Death Cab For Cutie – benannt nach dem von Vivian Stanshall und Neil Innes geschriebenen und von der Bonzo Dog Doo-Dah Band gesungenen Song. Auf dem Album YOU CAN PLAY THESE SONGS WITH CHORDS 1997 ist darunter das Smiths-Cover „This Charming Man“ und das durch die Orgel an seine spätere Band erinnernde „Wait“. Er erweiterte sein Projekt erst nach positivem Feedback um Mitmusiker. Ihr eigentliches Debüt SOMETHING ABOUT AIRPLANES erschien 1998, seine Nachfolger WE HAVE THE FACTS AND WE’RE VOTING YES 2000 und THE PHOTO ALBUM 2001. Wohlrezipierte Achtungserfolge, die kaum über die Szene hinausgingen und nach denen sich die Band wegen musikalischer und persönlicher Differenzen fast auflöste. Gibbard war nie ein typischer Frontmann, keine Rampensau, kein Sprücheklopfer – und gerade deshalb eben doch das perfekte Gesicht einer eigentlich so gesichtslosen Band. Eine, die kaum mehr machte als immer bessere Songs zu schreiben. Ja, mit dem vergleichsweise späten Erfolg kamen auch die Boulevard-Schlagzeilen, Gibbard datete Schauspielerin, Musikerin und Indie-Darling Zooey Deschanel, sie heirateten 2008 und ließen sich 2012 wieder scheiden. Mit dem Ende ihrer Beziehung endete auch das kurzlebige Yellow-Press-Interesse an Gibbard und seiner Band. Seine sophisticated Songs, die in ihrem Storytelling und den Zustandsbeschreibungen über Liebe, Schmerz, Trennung, Leben und Tod hinausgingen, blieben.
Emo im Herzen, Unsicherheit als Markenzeichen
TRANSATLANTICISM war das richtige Album zur richtigen Zeit. Die Sehnsucht danach, die „Guten“ groß zu machen, war so ausgeprägt wie nie zuvor: Schmieriger Post-Grunge und breitbeiniger Nu Metal regierten noch das Land, das mit dem Zusammenbruch der Twin Towers auch ein letztes Gefühl von Kollektivunschuld und Unverwundbarkeit verlieren würde. Die Emo- und Power-Pop-Helden Jimmy Eat World nahmen diese Zäsur auf BLEED AMERICAN, das in den USA so nicht heißen durfte, vorweg, nachdem Weezer sich noch auf eine „Island In The Sun“ träumten. The White Stripes marschierten mit ELEPHANT und „Seven Nation Army“ aus einer Detroiter Garage in die Stadien dieser Welt, Arcade Fire mit Pauken und Trompeten aus Montréal auf die Karnevalsumzüge des Baroque Pop. So laut und bunt und wüst sind Death Cab For Cutie nie gewesen, so innerlich präsent aber durchaus: Der Opener „The New Year“ beginnt so desillusioniert, wie sie in den elf neuen Songs immer wieder klingen werden, ohne sich ein Mindestmaß an Optimismus zu erhalten. „So this is the new year, and I don’t feel any different“, konstatiert Gibbard zu heruntergezogenen Gitarren und Hosen. Ironie des Schicksals, dass Gibbard den positivsten Song, das bittersüße „The Sound Of Settling“ inklusive „Bop bah“-College-Radio-Chorgesang, nicht mochte, er wegen Veto von Gitarrist und Produzent Chris Walla trotzdem Teil der Tracklist blieb – und damit zum untypischen Aushängeschild der Platte wurde. Am stärksten waren Death Cab trotzdem immer dann, wenn sie Schwäche zeigten, etwa in „We Looked Like Giants“, „A Lack Of Color“ und dem Titelepos. Emo im Herzen, Unsicherheit als Markenzeichen.
Mit dem Erfolg kamen auch die Verheißungen: Plötzlich leckten sich diverse Majorlabels die Finger nach dieser Band, die alle mochten. A&R-Fuzzis sahen in ihr die amerikanische Antwort auf Coldplay. Death Cab For Cutie unterschrieben schließlich bei Atlantic Records,ihr Majordebüt PLANS mit der Leadsingle „Soul Meets Body“ wurde als „Best Alternative Album“ bei den Grammys nominiert und entsprechend ihr kommerziell erfolgreichstes. Gibbards Akustiknummer „I Will Follow You Into The Dark“ ist die bis heute meistverkaufte Single in ihrer Diskografie. Ein Wunder, dass sie nach dem Labelwechsel nicht zugrunde gingen, sondern nach innerer auch äußere Stabilität fanden. Drummer McGerr, der erst Anfang 2003 einstieg, erklärte dazu seinerzeit: „Wenn TRANSATLANTICISM ein Einatmen war, ist PLANS das Ausatmen.“
Kult um The Postal Service
Angelegt in ihrem eigentlich so analogen Sound war schon immer auch die elektronische Komponente. Anstatt sich mit seiner Band diesen Klängen zunehmend zu öffnen, nahm Ben Gibbard mit Kumpel Jimmy Tamborello (Dntel) ein Album auf, das in der Geschichte des Indie-Rock ein noch legendäreres als TRANSATLANTICISM werden würde: Um nach der schwierigen Tour zu THE PHOTO ALBUM Abstand zu gewinnen, lenkte er sich mit Skizzen und Fragmenten ab, die er und Tamborello sich auf DAT, Digital Audio Tapes, auf dem Postweg hin- und herschickten, bis daraus und unter Mithilfe von Sängerin Jenny Lewis ihr einziges Album, das Indie-Pop-Kleinod GIVE UP, entstand. Die zehn Songs erschienen im Februar 2003 auf Sub Pop Records, also knapp ein halbes Jahr vor TRANSATLANTICISM; das Stück „Such Great Heights“ fand über Einsätze in „Garden State“, Grey’s Anatomy“ und Coverversionen ebenfalls einen Ehrenplatz in der Popkultur, der US-„Rolling Stone“ wählte es auf Platz 27 der 100 besten Songs der Dekade. Ben Gibbard gab im Nachhinein zu: „Ich hatte nie ein kreativ inspirierenderes Jahr als das“, und es stimmt, so ein Jahr würde es für Gibbard und seine Fans nicht wieder, für den Indie-Rock nur 2005 in England noch mal geben. GIVE UP ist das noch immer einzige Album von The Postal Service, ein Lebenszeichen gab es lediglich 2013, zum 10. Jubiläum, in Form von ein paar US-Shows. 2020 erschien ein damals aufgenommenes Livealbum. Fun Fact: 2003 schickte der United States Postal Service eine Unterlassungserklärung wegen unerlaubter Verwendung seines Namens. Nach Verhandlungen einigte man sich: The Postal Service dürfen sich weiterhin so nennen, wenn sie Werbung für USPS machen und bei ihrer National Executive Conference auftreten.
Auf seiner Hochphase anhaltend ausgeruht hat Gibbard sich trotzdem nicht. Ungefähr alle drei Jahre erscheint seitdem ein neues Album von Death Cab For Cutie. 2012 brachte Gibbard sein Soloalbum FORMER LIVES heraus, immer wieder ist er bei Weggefährt*innen als Gastmusiker zu hören und zu sehen. Dem Alkohol hat er längst abgeschworen. Er läuft Marathon, ernährt sich pescetarisch, unterstützt Gay Rights und Tierschutzorganisationen und ist, obwohl oder weil katholisch erzogen, bekennender Agnostiker sowie Demokrat. Seit 2016 ist er mit Fotografin und Tourmanagerin Rachel Demy verheiratet. Dem Rockstardom noch mal nahe kam er 2014 als Gast auf dem Foo-Fighters-Album SONIC HIGHWAYS beim Song „Subterranean“ und in der entsprechenden Doku-Episode, in der er mit Dave Grohl über Seattle in den 90ern sprechen durfte. Die wohl größte Zäsur ereilte seine Band im selben Jahr, als Gründungsmitglied, Gitarrist, Co-Songschreiber und Produzent Chris Walla ausstieg. Er trug bis dahin maßgeblich zu Death Cabs Signature Sound bei, wollte sich fortan aber vermehrt eigenen Projekten sowie der Produktion anderer Acts widmen – mit Nada Surf, The Decemberists, Tegan & Sara, The Thermals, Hot Hot Heat, Rocky Votolato u.v.m. ließ sich seine Kundschaft schon damals sehen. Seit KINTSUGI (2015) produziert Rich Costey (Muse, Biffy Clyro, Sigur Ros, Sam Fender, Of Monsters And Men) an Wallas Stelle, richtig „fett“ ließen sich Death Cab For Cutie trotzdem nie schleifen. Von Gibbard gibt es derweil eine Fender-Signature-Serie. Man kann auch 25 Jahre nach ihrer Gründung nichts gegen ihn und seine Band haben, schlimmstenfalls halt wenig dafür.
Death Cab For Cutie kommen im März 2023 auf Tour – in den USA sind sie sogar mit The Postal Service unterwegs und feiern die Jubiläen ihrer großen Platten
Nicht ganz unschuldig an Death Cab For Cuties Ankommen in Deutschland ist auch ein alter Bekannter dieses Magazins: TRANSATLANTICISM erschien hierzulande ursprünglich auf Grand Hotel Van Cleef, dem Indie-Label von Kettcar und Tomte, kurz nach ihren eigenen Klassikern DU UND WIEVIEL VON DEINEN FREUNDEN und HINTER ALL DIESEN FENSTERN. Marcus Wiebusch, Thees Uhlmann und Reimer Bustorff galten als Spürhunde, Liebhaber und Checker, die Bands wie Maritime (mit Ex-The-Promise-Ring-Sänger Davey von Bohlen, der auch auf BLEED AMERICAN zu hören war), The Weakerthans und eben Death Cab For Cutie in die hiesigen Twenty-Something-WGs holten, bevor Algorithmen den Job erledigen würden. Im Archiv ihrer Homepage ist noch immer nachzulesen, was Uhlmann damals, gewohnt fanatisch, in ihnen sah: „Death Cab For Cutie haben es geschafft mit ihrer dritten Platte einen Klassiker des ,Quiet Rock‘ rauszubringen. TRANSATLANTICISM ist all das, was wir zur Zeit an Rockmusik lieben. Seitdem das Klavier bei Rockmusik wieder mitmachen darf. (…) Große Melodiebögen, die erst nach dem dritten Mal ihre Schönheit offenbaren, leuchtende Ernsthaftigkeit. Eine herrliche Platte. (…) Was soll man noch sagen? Wenn Sie schon mal ein wenig verliebt waren, dann hören Sie auf das Titelstück. Das epische 7.55 Minuten lange ,Transatlanticism‘. Und er singt: ,I need you so much closer! So come on!‘“
20 Jahre danach wird nun ein feuchter Traum für Uhlmann und wohl jeden anderen Fan der frühen Stunden wahr: Death Cab
For Cutie gehen auf Co-Headliner-Jubiläums-Tour mit The Postal Service – leider nur in den USA. We need you so much closer! Nach Deutschland kommen Gibbard und Co. ohne Tamborello und Gastmusiker*innen, dafür mit ASPHALT MEADOWS, ihrem 2022 erschienenen, einmal mehr gutem Album, mit dem sie erneut im bestgemeinten Sinne ihr Erbe verwalten. Sie kopieren sich nicht selbst, sind doch stets ganz nah bei sich, biederten sich nie neuen Trends an, keine peinlichen EDM-Features, kein Gefälligkeitspop, Altern in Würde, so geht das also. Selbst Gibbards Gast-Auftritt auf einem Track von Chance The Rapper 2019 sowie sein Feature mit Noah Cyrus (2022) gingen okay, seine 2019er-Cover-Version von Frightened Rabbits’ „Keep Yourself Warm“ anlässlich des Todes von deren Sänger Scott Hutchison erst recht.
Inwiefern sie Einfluss auf nachfolgende Generationen ausüb(t)en, ist schwer zu sagen. Ein weiterer Fun Fact deshalb zum Schluss: Wer Death Cab For Cutie bei Google eintippt, erhält als Auto-Complete-Vorschlag unter anderem die Erweiterung „Fireflies“. Die Erklärung: Es hält sich offenbar der Irrglaube, dass der 2009 erschienene erfolgreiche gleichnamige Popsong nicht von Adam Young und seinem Projekt Owl City, sondern, wegen der ähnlich zarten Stimme, von Ben Gibbard, vielleicht sogar von The Postal Service stammt. Ganz von ungefähr kommt die Idee nicht: Im Songwriting und der Karriere von Death Cab For Cutie gilt das gleiche wie bei zum Beispiel R.E.M. und The National: Es wäre ihnen vermutlich ein leichtes, kompatible Radiohits zu schreiben. Wenn sie es sich nur so einfach machen wollten. Wollen sie zum Glück nicht.
Dieser Text erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 03/2023.