Deep Purple ohne Ritchie Blackmore: „Happy Together“


So war das also: Ritchie Blackmore hatte den Bruch mit Deep Purple besonders clever vorbereitet. Er verkündete, zwischendurch ’nur mal eben‘ einen LP-Exkurs zu produzieren, verbarrikadierte sich mit den Musikern von ELF aus dem Vorprogramm der Purple-Tourneen in den Münchner ‚MusicLand‘-Studios und schmiedete dort mit jedem neu aufgenommenen Ton an seiner zukünftigen Solo-Karriere. Endlich durfte ihm niemand mehr reinreden, endlich konnte er seine Vorstellungen hundertprozentig verwirklichen – und da ihn alle seine ‚guten Freunde‘ und Begleitmusiker voll des Lobes immer wieder bestätigten (und sich kaum getrauten, ihrem hoffnungsvollen Geldgeber auch vielleicht einmal kritisch entgegenzutreten), rief Ritchie eines Tages ganz lässig die Purple-Leute an und erklärte seinen Austritt. Ein unheimlich starker Abgang, wie er glaubte.

Doch John Lord, Ian Paice, David Coverdale und Glenn Hughes ließen sich nicht aus der Ruhe bringen. Nach eingehender Beratung mit ihrem Management gingen sie auf die Suche nach einem neuen Gitarristen. Und schon wenige Wochen später hatten sie den geeigneten Nachfolger für Ritchie: US-Supergitarrist Tommy Bolin (früher James Gang). Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Nicht nur bei den Fans von Deep Purple. Auch Ritchie war sprachlos: Der neue Mann in seiner alten Gruppe war ihm schon lange bekannt – und er hält ihn für den heißesten Gitarristen von ganz Amerika.

Ritchie Blackmore’s Weggang hätte beinahe das Ende von Deep Purple bedeutet. Doch jeder einzelne der Gruppe wäre allein mit der Verwirklichung von Solo-Projekten voll beschäftigt gewesen. David: „Deshalb war von einer Panikstimmung nicht die Rede. In der deutschen Presse allerdings las sich das ganz anders. Da schrieb man Artikel über unsere Ratlosigkeit und legte Glenn und mir jämmerliches Gequatsche in den Mund: ‚Oh Gott, wie soll es denn jetzt weitergehen – was machen wir bloß ohne Ritchie …?‘ Die stellten uns hin, wie ein Haufen blöder Jungs. Das hat uns wirklich geärgert.“

Denn:

„Wir hatten niemals Angst vor der Zukunft!“

„Nach all den Jahren brauchten wir erst mal eine Pause. Später wollten wir uns dann den verschiedenen Solo-Dingen widmen. Da haben wir auf einmal festgestellt, daß wir uns alle untereinander anriefen, um uns gegenseitig zum Mitspielen einzuladen. Doch wenn wir alle irgendwie weiter zusammenarbeiten möchten – warum sollten wir dann als Gruppe auseinandergehen? Also haben wir uns nach einem neuen Gitarristen umgeschaut. Dabei dachten wir an Ex-Humble Pie-Gitarrist Clem Clempson oder Tommy Bolin, der uns von Billy Cobham’s ‚Spectrum‘ LP und den Platten mit James Gang bekannt war. Gern spielte als erster bei uns vor, doch daraus ist leider nichts geworden. Er ist ein sehr guter Musiker, aber mit seinem Bluesfeeling paßt er besser in ein Trio.“

„Dann kam Tommy – und er ist ein Supermann!“

Tommy: „Die Purple-Leute riefen mich an und verabredeten einen Termin für eine Probe-Session mit mir. In der Nacht davor hatte ich sehr wenig geschlafen, und so wollte ich sie zuerst bitten, den Treff noch einmal zu verschieben. Aber dann bin ich doch hingegangen – völlig übernächtigt und käseweiß im Gesicht. Ich hätte nie geglaubt, daß mich Deep Purple nehmen würden, aber dann habe ich sie anscheinend doch überzeugt. Wir hatten uns nie zuvor gesehen – und trotzdem haben wir uns sofort musikalisch sehr gut verstanden.“ Glenn: „Tommy besuchte mich in Los Angeles, und dort nahmen wir dann verschiedenes zusammen auf.“ Tommy: „Deep Purple wollte sich etwas mehr dem Heavy-Rock mit Funky-Ein-Schlag zuwenden, aber es gibt kaum einen englischen Gitarristen, der „funky spielt. Da kam ich gerade recht…“

Allerdings: Die Verbindung von Deep Purple und Tommy Botin ist nicht ganz unproblematisch!

„Nach meiner Trennung von James Gang im August 1974 habe ich in Amerika die Verträge für einige Solo-Produktionen unterschrieben“, erklärt Tommy, „und jetzt gibt es natürlich einiges Durcheinander. Ich habe meine Verpflichtungen in den USA und bin gleichzeitig beim Purple-Management in England unter Vertrag. Aber glücklicherweise läuft das alles reibungslos…“

So kam Tommy nach Fertigstellung seiner ersten Solo-LP zur Aufzeichnung des neuen Purple-Albums ‚Come Taste The Band‘ mit Jon Lord, Ian Paice, David Coverdale und Glenn Hughes im August nach München. Selten war die Atmosphäre in den ‚MusicLand‘-Studios so entspannt, wie während dem sechswöchentlichen Aufenthalt von Deep Purple.

Vor Beginn der meist nächtlichen Aufnahmesessions trafen sich die Musiker und ihre Begleiter in den Studio-Vorräumen zum Abendessen – Deep Purple saßen wieder einmal gemeinsam an einem Tisch – und das gehörte zu Ritchie’s Zeiten nicht zum täglichen Zeremoniell.

Happy Dongie

Handgemalte Plakate mit Sprüchen wie ‚Dougie is king‘ oder ‚Let’s hear for Dougie’s fear‘ an den Wänden kündeten von Jon Douglas Lord’s neuem Spitznamen – und der lachte herzlich darüber. Nach Ritchie’s Abgang hat er seine kreative Freiheit wiedergefunden. Jon’s anfängliche Freundschaft zu Ritchie war im Laufe ihrer Zusammenarbeit merklich abgekühlt. Das hatte hauptsächlich musikalische Hintergründe. In seinem unerbittlichen Streben nach Perfektionismus wollte Ritchie seinen Mitspielern immer mehr Vorschriften machen.

David erinnert sich: „Ritchie ging beispielsweise zu Jon und sagte: ‚Ich möchte, daß Du jetzt dieses und jenes spielst – so und nicht anders!‘ Doch Jon meinte dann manchmal auch: ‚Oh – ich würde das eher so machen …‘ Obwohl wir Ritchie’s Willen beinahe immer respektiert haben, wollte Jon das oft nicht anerkennen!“

„Denn Deep Purple verstand sich nicht als Ritchie’s Begleitband“, ereifert sich Glenn.

„Wir wollten nicht eines Tages Ritchie Blackmore’s Deep Purple heißen!“

„Deep Purple ist eine enorm erfolgreiche Gruppe mit hohen Plattenumsätzen und Konzert-Einnahmen, vielen Gold- und Platin-Auszeichnungen – und das ist nicht nur allein Ritchie’s Verdienst.“

„Ich glaube, wir hatten alle schon seit längerer Zeit das Gefühl, daß Ritchie mit dieser Tatsache unzufrieden war“, bekennt David. „Und dann wird man automatisch unsicher“, fügt Ian hinzu. Deshalb war die Trennung für alle das beste.

David: „Jetzt hat Ritchie seine eigene Band – und außer Sänger Ronnie Dio ist es eine Gruppe von Marionetten.“

„Sie müssen sich unterordnen, sonst werden sie gefeuert“, grinst Ian.

David: „Ich mag Ritchie – er hat mir sehr viel beigebracht und ich werde hoffentlich bei einem unserer Solo-Projekte wieder einmal mit ihm zusammenspielen – aber ich kann nicht andauernd unter einem derartigen Druck arbeiten. Ich bevorzuge freidenkende Leute. Wenn auf unserem nächsten Album ein Titel mit der Autorenangabe Bolin/Coverdale zu finden ist, dann haben trotzdem alle Bandmitglieder ihre Ideen zu diesem Stück mit beigetragen.“

Glenn:

„Mit Tommy Bolin sind wir ein großes Stück vorangekommen.“

David: „Er hat seinen eigenen Stil und steuerte zu unseren Kompositionen gleich eine Menge neuer Ideen bei.“

Doch Tommy hat immer noch genügend Einfälle für seine Solo-Alben. „Deshalb ist auch nicht zu befürchten, daß ich die anderen mit meinen Ideen überrenne“, beteuert Tommy vorbeugend. „Ich würde bei Deep Purple schon ganz gerne öfter mal ein Solo reindonnern, aber auf der neuen LP ‚Come Taste The Band‘ spiele ich nur eine einzige Solo-Passage. Ich habe nicht den Ehrgeiz, aus jedem Purple-Stück ein Gitarren-Happening zu machen. Solcherlei Ambitionen kann ich auf meinen eigenen Platten verwirklichen. Und so sind diese Solo-Projekte indirekt sogar ein Vorteil für Deep Purple.“ Während Tommy Bolin noch vor Veröffentlichung seines ersten Solo-Werks in den letzten Wochen bereits ein zweites Album in eigener Regie vorbereitete, und Glenn Hughes in Los Angeles ebenfalls an einem LP-Alleingang und gemeinsamen Studio-Aufzeichnungen mit David Bowie arbeitete, hat Jon Lord zusammen mit dem Orchester ‚Philharmonia Hungarica‘ unter der Leitung des deutschen ‚Rock Meets Classic‘-Initiators Eberhard Schoener einen neuen Solo-Exkurs mit klassischen Einflüssen inszeniert.

Rainbow-Musiker über Ritchie: Beängstigender Führungsstil

Neben Schlagzeuger Pete York war bei Jon Lord’s Orchester-Meeting in Düsseldorf auch ein gewisser Marc dabei. Er kam direkt aus Los Angeles von einer Probesession mit Ritchie Blackmore’s Rainbow und erzählte von der gedrückten Stimmung im Studio: „Alle haben eine Heidenangst vor Ritchie. Sie fürchten ständig, daß er wieder etwas an ihnen auszusetzen hat und sie zusammenstaucht …“ Bei Deep Purple sind diese Zeiten endgültig vorbei. Demonstrativ umarmt Jon Lord ’seinen‘ neuen Gitarristen: „Wir machen dich reich, Tommy!“

Durch die gute Zusammenarbeit mit Tommy Bolin ermutigt, plant die Gruppe für Anfang nächsten Jahres Konzertreisen in Japan, Australien, Neuseeland und Amerika. Eine ausgedehnte Europa-Tournee mit Auftritten in England, Frankreich, Deutschland, Österreich und in der Schweiz sind für April/Mai 1976 angesagt.

David: „Dann bringen wir einige Überraschungen mit. So experimentieren wir im Moment mit einem neuen Sound-System – einer Art Quadrophonie, wobei wir die Klänge kreuz und quer über die Köpfe der Leute hinweg durch den Saal jagen. ‚Auch für das Auge soll wieder einiges geboten werden: Die neue Purple.-Show – und was ich jetzt sage, klingt hoffentlich nicht überheblich – unser neuer Stage-Act wird eines der aufregendsten visuellen Ereignisse, die man je gesehen hat. Dauernd wird etwas Neues passieren.“

Glenn: „Es soll keine überperfekte Supershow werden – das muß nicht sein. Aber wir haben uns einiges ausgedacht, was noch nie dagewesen ist. Zum Beispiel mit Laser-Strahlen…“

Wird Tommy anerkannt?

Ob das Publikum allerdings den Gitarren-Star der neuen Quadro- und Laser-Show, Tommy Bolin, als Nachfolger des dämonischen Saiten-Virtuosen Ritchie Blackmore akzeptiert, bleibt abzuwarten. Tommy jedenfalls gibt sich gelassen: „Diesen Nervenkitzel kenne ich schon. Als ich vor Jahren bei der US-Formation James Gang einstieg, war ich ein unbeschriebenes Blatt – und mußte mit der Gitarre gegen den legendären Ruf meines Vorgängers Joe Walsh ankämpfen. Wenn ich auf die Bühne kam, grölten die Leute: ‚Wo ist Joe Walsh?!‘ Aber das muß man einfach überhören. Ich habe mit Jon und Glenn nächtelang darüber diskutiert: Wenn sich jemand betrogen fühlt, dann geben wir ihm Ritchie’s Telefonnummer – da kann er sich ja dann bei ihm beschweren.

Aber jetzt klingt Deep Purple ganz anders und noch viel besser als vorher. Und wenn trotzdem alles nach Ritchie Blackmore schreit – da scheiß ich drauf. Das war einmal!!!“