Der Boxenberg
CD-Box-Sets sind der große Renner. Repräsentativ, meist limitiert und schweinisch teuer. Ein gefundenes Fressen für Hardcore-Fans — und eine Goldgrube für die Plattenindustrie. ME/Sound-Mitarbeiter Frank Meckert nahm das wuchernde Phänomen unter die Lupe.
Das Rezept ist ganz einfach: Man nehme digital gesäuberte Mastertapes, überspiele den Inhalt auf silberne Aluminiumscheiben, packe dann eine stattliche Anzahl davon in eine luxuriöse Pappschachtel und lege ein kodachromefarbig bebildertes Booklet dazu — fertig ist das Statussymbol für den zahlungskräftigen Rock- und Jazz-Fan von heute: die exquisite CD-Box. Denn mittlerweile gilt auch für Clapton und Mingus, was früher nur bei Karajan und Co. zutraf: Es darf ruhig etwas mehr sein. Insbesondere, wenn das Kürzel CD mit im Spiel ist. Denn ,.CD“ steht nicht nur für „Compact-Disc“, sondern auch und vor allem für „Create Desire“.
Denn Bedürfnisse wecken, das konnte die kleine Silberscheibe schon seit ihrer Premiere im Jahr 1983. Mit rasanten Zuwachsraten, die zeitweilig über 100 Prozent lagen, holte sie die Musikindustrie vom absteigenden Ast und überflügelte innerhalb von sechs Jahren ihren Vorgänger aus Vinyl, der — ganz in schwarz — inzwischen den eigenen Untergang betrauert.
Aber der beispiellose Siegeszug des digitalen Tonträgers, von dem 1990 allein im Popbereich in Deutschland etwa 50 Millionen Stück den Besitzer wechselten, hatte auch einen negativen Effekt: Zum Massenartikel verkommen, taugte die CD Ende der 80er Jahre nicht mehr als Prestigeobjekt. Jeder Supermarkt hatte die Dinger im Programm — und jeder Depp konnte sie sich plötzlich leisten.
Was nun? Was tun? Die Marketing-Strategen waren um eine Antwort nicht verlegen: Nach einigen Brainstormings schlug die Stunde der CD-Box-Sets. Edel, hilfreich und gut sollten sie sein. Das Irre daran: Sie sind es tatsächlich!
DAS LUXUSOBJEKT DER BEGIERDE.
Jerry Gieseking, International Product Manager bei Polydor in Hamburg, bringt es auf den Punkt: „CD-Boxen sind kleine Juwelchen für den beinharten Fan. “ Und Tony Ioannou, Giesekings Counterpart bei Phonogram, bezeichnet „die von Profis zusammengestellten Song-Kollektionen“ als „ideales Geschenk“. Wer wollte da widersprechen: Box sei dank ist die CD wieder salonfähig. Wie ME/Sounds-Recherchen ergaben, vertrauen die Plattenfirmen auf vier unterschiedliche Konzepte.
Möglichkeil I: Die Anthologie mit Goldgruben-Charakter. Solche Boxen sind nicht nur ein gefundenes Fressen für Enthusiasten, sondern eignen sich auch hervorragend als Nachhilfeunterricht für Hörer mit Bildungslücken. Durch die Kombination der wichtigsten Songs mit einigen bislang unveröffentlichten Demo-Tapes, B-Seiten. Live-Versionen oder Rehearsal-Ausschnitten wird es möglich, Karrieren im Zeitraffer auszuhorchen.
Möglichkeit 2: Das audiovisuelle Erlebnis mit Sammlerwert. Stefan Michel, Leiter WEA Music Marketing Service, sieht das Heil nicht in der CD allein. Er hat beste Erfahrungen mit Multi-Media-Packages gemacht — ob bei der auf 20.000 Stück limitierten Woodstock-Edition, die neben den bekannten CDs auch gleich noch das Video und das Original Filmposter enthielt, oder bei den nur 1000 Einheiten des Lou Reed/John Cale-Projekts „Songs For Drella“ mit samtverpackter CD, Video und Poster. Michel zielt auf den Hard-Core-Fan und ist sich sicher, daß „die geringe Stückzahl ungemein die Glaubwürdigkeil erhöht“. Stolzes Fazit nach kurzer Zeit: „Alles restlos ausverkauft.“ Und schon sind die nächsten audiovisuellen Sammlerobjekte auf dem Markt: Luxusausgaben von Phil Collins‘ „Serious Hits Live“ (CD, Live-Video und Original Tourbooklet) und Madonnas „Immaculate Collection“ (speziell verpackte CD, Video inklusive „Vogue“-MTV-Version, Poster sowie Postkarten).
Möglichkeit 3: Die Resteverwertung zum Sonderpreis: Diese Recycling-Methode ist viel einfacher als die beiden bereits genannten, aber deshalb nicht weniger umsatzträchtig. Man packt einige bereits veröffentlichte CDs in ein Box-Set, schreibt „Collection“ oder „Limited Edition“ drauf, kalkuliert einen Sonderpreis und überläßt den Rest dem Weihnachtsmann oder dem Osterhasen. Das funktionierte so gut, daß Gerd Gliniorz, Marketing- und Product-Manager bei EMI, jetzt sogar alle 17 Queen-CDs in einem feinen Koffer unterbrachte und gleich noch ein T-Shirt beilegte, um zu sehen, „inwieweit der Markt auch eine Box mit komplettem Material akzeptiert“.
Möglichkeit 4: Die kleinen Kunstwerke fiir Ästheten. In diese Rubrik gehört zum Beispiel David Sylvians „Weatherbox“. Nur eine Box — aber was für eine! Keine lieblos zusammengeschusterte Schachtel, sondern ein Kleinod mit schwenk- und versenkbarer Türe, meisterlich gedrucktem Begleitheft und 5 CDs, die Sylvians komplettes Solowerk enthalten. Noch schöner und seltener: Ryuichi Sakamotos „Playing The Orchestra“. Im Deckel sowie im Boden der kleinen Wunderkiste befindet sich jeweils eine mit Ornamenten verzierte 3-inch-CD — und mittendrin, auf den Bestandteilen eines Mobiles aus Pergamentpapier und Karton, liegt die CD mit dem über 60minütigen Haupt-Opus, deren silberne Oberfläche weiße Blumenmuster trägt. Und wer das Kleinod schüttelt, hört, wie die im doppelten Boden versteckten Reiskörner hinund herrollen.
DIE BOX-SETS ALS CASH-COWS.
Machen wir uns nichts vor: Auch im Reich der Musik gibt es eine Klassengesellschaft. Und die läßt sich ganz einfach einteilen: in die“.Armen“ (Teens. Bafiig-Empfänger und Geizkragen), denen die Mark nur schwer von der Hand geht, und in die „Reichen“ (angepaßte 68er. Ex-Hippies und DINKS). die sich für ein paar Dollar mehr gerne einen besonderen Geschmack leisten. Wer seine Ohren nur noch mit digitaler Kost füttert und zudem die Kohle cool aus der Tasche holen kann, fragt nicht nach dem Preis.
Das sagten sich auch die Product Manager der großen Labels: Nachdem sie ihren Katalog bereits auf LP und anschließend nochmal auf CD verkauft haben, wollen sie jetzt mit CD-Box-Sets den Hattrick schaffen. Und die Rechnung geht auf. CD-Box-Sets werfen — wie alle Wiederveröffentlichungen — als fette Cash-Cows hohe Profite ab: Die Songs liegen bereits in den Archiven, die Kosten für Produktion und CD-Remastering sind niedrig. Da freut sich die Finanzabteilung.
Das glaubt auch Roger McGuinn. Aushängeschild der Folk-Rock-Legende „The Byrds“. die jetzt dank eines 4-CD-Sets fröhliche Urständ feiern:
„Die Plattenfirma war der Meinung, daß wir auf diese Weise einige CDs unter die Leute bringen könnten.“ Klar, daß McGuinn bei diesen Aussichten nicht lange zögerte, als ihn Produzent Don DeVito um Mithilfe bat: „Don schickte mir die Bänder zu, ich wählte die Songs aus und half schließlich auch noch zum Teil bei der Neuabmischung des Materials. “ Danach war alles Roger. „Fürmich“, sagt McGuinn. „ist dieses 4-CD-Set mehr als eine Kollektion. Es ist ein Teil meines Lebens — und es ist wunderbar, daß dieser Teil jetzt so gut organisiert in einem kleinen Kästchen vorliegt.“ Ebenso wunderbar sind offenbar auch die Absatzzahlen: In deutschen Landen war die Byrds-Box nach Weihnachten fast überall restlos ausverkauft.
Ebenfalls erfolgreiche Boxer sind die Gibbs-Köpfe Barry. Robin und Maurice, deren 4-CD-Set „Tales from the Brothers Gibb: A History in Song. 1967— 1 990“ eigentlich zu früh, nämlich zwei Jahre vor dem 25jährigen Jubiläum der Bee Gees erschien. Warum diese Eile? „Weil Polydor nach unserem Wechsel zu Warner Brothers ganz wild daraufwar, das Ding zu veröffentlichen, bevor 1991 unser neues reguläres Album erscheint“, sagt Barry und betont, daß „das Timing somit bestens zu den individuellen Marketingstrutegien beider Firmen paßt“. Da macht die Cash-Cow „muh“!
VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG.
Auch Rockstars können nicht alles behalten. Bei der Zusammenstellung der „Tales from the Brothers Gibb“-Box beispielsweise entdeckten die Bee Gees so manche Gedächtnislücken.
„An einige Lieder konnten wir uns überhaupt nicht mehr erinnern“, klagt Maurice — und sein Bruder Barry offenbart seinen Anhängern in den liner-notes: „Es hört sich vielleicht komisch an, aber es gibt da ein paar Songs, die wir schlicht vergessen hatten. Das ist einer davon.“ Roger McGuinn mußte dieselbe Erfahrung machen: „Den Song, Mae Jean Goesto Hollywood‘ kannte ich überhaupt nicht mehr. Jackson Browne hat ihn seinerzeit geschrieben. Als Don DeVito ihn mir vorspielte, sagte ich nur: Ja, das hin ich, der da singt. ‚Aber ich hatte keinen blassen Dunst, wann, wo und wie die Aufnahmen stattgefunden hatten. Und das, obwohl es ein echt guter Song ist.“ Was für ein Glück, daß solche Peinlichkeiten jetzt ein für allemal der Vergangenheit angehören. Wenn das Hirn überlastet ist. kommen die Erinnerungen in den Zwischenspeicher. Und der hat die Form einer CD-Box.
FUTTER FÜR POP-HISTORIKER.
Es klang schon an: CD-Boxen helfen Jägern verlorener Schätze auf die Sprünge, indem sie nie-gehörte Versionen verschiedener Songs an die Ohren der Öffentlichkeil befördern. Wer hätte es je für möglich gehalten, daß noch Aufnahmen aus Elton Johns Lehrjahren mit der Band Bluesology existieren?
In puncto Authentizität gibt’s ebenfaJls angenehme Überraschungen. Nehmen wir beispielsweise die Byrds. Als McGuinn und DeVito den Inhalt der Box vorbereiteten, stießen sie auch auf die „Gesangs-Spuren“ von Gram Parsons für die „Sweethearts of the Rodeo“-Sessions (1968). Aufgrund rechtlicher Auseinandersetzungen mit einem anderen Label durfte Parsons-Stimme damals aber nicht wie geplant auf Platte veröffentlicht werden: McGuinn mußte für ihn einspringen. 22 Jahre später konnte Roger die Vergangenheit im Studio wieder gerade rücken: Jetzt — endlich — kann man nachhören, wie die Songs eigentlich hätten klingen sollen. Das Phänomen der CD-Box macht’s möglich.
Und was ist mit dem Klang? Ach ja. der Klang. Beinahe wäre er im Trubel der vielen Zusatznutzen untergegangen. Dabei ist dieser Punkt durchaus entscheidend, denn in vielen Fällen werden die Bänder vor Veröffentlichungen von CD-Boxen neu abgemischt. Und das tut den Ohren gut, denn die Soundqualität kann fast in jedem Fall deutliche Zuwächse verzeichnen.
Unterm Strich ist die Bilanz also positiv: CD-Boxen kosten viel, sind aber dennoch preiswert. Noch nie bot das Box-Office so viel fürs Geld.