Der falsche Baron
Im Jahre 691 wurde las Schloss zum erstenmal in einer Urkunde erwähnt… In früheren Zeiten war hier ¿ lie Festhalle…“ i)er Mann, der die Führung durch das 5uiiu.s:> leneie und dessen Familie, wie er uns gleich stolz versichert hatte, schon fast zwei Jahrhunderte dort lebte, war in seinem Element. Wir schritten aus der Festhalle zur Waffenkammer, von dort aus ging es in die Schlafzimmer und in die Küche. Ich blickte nach rechts, nach links, betrachtete die Waffen und Bilder an den Wänden, strich mit der Hand über das Geländer und hörte nicht mehr hin. Ich liebte alte, romantische Schlösser und interessierte mich dafür. Ich hasste aber Rundleitungen. Viel lieber hätte ich das Schloss auf eigene Faust durchstöbert. Leise, damit niemand gestört wurde, verliess ich den Kreis der Zuhörer und betrat den Gang. Dort war es ruhig und kühl. Ich fühlte mich wohler und lief den Gang entlang, auf dessen beide Seiten sich mehrere Türen befanden. Ich öffnete aufs Geratewohl eine Tür und betrat ein Zimmer, das in völliger Dunkelheit lag. Nicht der geringste Lichtschein drang hinein, so dass ich in der Mitte des Raumes nur schwach die Umrisse von Möbeln erkennen konnte. Es roch muffig und schal. Leise machte ich die Tür wieder zu, öffnete eine andere. Von dort aus ging es eine Treppe hinunter und auch da waren wieder Zimmer, Treppen, Gänge. Ich fühlte mich freier als vorhin und besah mir alles genau. Es musste schon spät sein, denn draussen dämmerte es bereits. Ich sah auf die Uhr, doch sie stand still. Plötzlich wusste ich nicht mehr, wo ich mich befand. Alle Räume ähnelten einander, ich versuchte vergebens, den Rückweg zu finden. Ich zögerte unschlüssig, dann wandte ich mich nach links und gelangte auf einen breiten Treppenabsatz. Es war sehr still und dunkel dort. Kein Mensch war zu sehen. Ich blieb stehen und überlegte mir, welche Richtung ich weitergehen sollte. Die Stille hatte etwas Beklemmendes an sich, wie ein leeres Haus, dessen Besitzer fortgezogen sind. Jetzt hatte ich Angst. Alle Kriminalromane, die ich gelesen hatte, fielen mir wieder ein, ich war allein und niemand würde mich vermissen. Ich rief, doch niemand antwortete. Es wurde stets dunkler und kälter. Mich fror in meinem dünnen Mantel und ich steckte die Hände in die Taschen. Plötzlich glaubte ich, Stimmen zu hören. Ich öffnete die Tür, die mir am nächsten war und musste die Augen «Messen. Vor mir befand sich ein Raum, der von vielen Kerzen erleuchtet wurde. Die linke Wand wurde von einem riesigen Kamin in Anspruch genommen, der wohlige Wärme verbreitete. Ich sah einen Tisch, Stühle und plötzlich löste sich aus einer Ecke des Raumes eine Gestalt und kam auf mich zu. Ich erschrak, wollte weglaufen, blieb dann aber wie angewurzelt stehen … DIE ZEIT STAND STIIL Mir war, als wäre ich in ein anderes Jahrhundert zurückversetzt worden. Hier schien die Zeit stillzustehen. Der Knabe, der auf mich zukam, hatte lange, braune Locken. Lr trug eine schwarze Samthose und ein weites, weisses Rüschenhemd, das vorn offen war. Auf seiner Brust baumelte ein silbernes Kreuz, das an einer silbernen Kette hing. Er lächelte mir zu und sagte: „Hallo!“ Wie konnte der Knabe in dieser Umgebung jintach auf mich zukommen und Hallo sagen? Ich glaubte zu träumen und kniff in meinen Arm. Es tat weh. Ich konnte nicht träumen. „Ich habe mich verlaufen“, sagte ich kläglich und versuchte, meine Angst zu verbergen. Die ganze Situation war lächerlich und unerträglich, ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte und wartete ab. „Ich bin Baron van Bemmel“, sagte er mit einer etwas rauhen Stimme. „Du kannst mich aber auch Alexander nennen. Oder Alex. Das überlasse ich dir“. Ich nannte ihm meinen Namen. „Willst du etwas trinken?“ Ich nickte und er nahm zwei Gläser und schenkte sie voll. Es war roter Wein, er war sehr stark. Ich nahm einen tiefen Schluck, weil ich nervös war und die Spannung in mir betäuben wollte. Draussen war es inzwischen völlig dunkel geworden. Ich konnte das Fenster sehen, erkannte aber ausser ein paar Schatten nichts. Der Wein belebte und erwärmte mich, ich nahm einen zweiten Schluck und Alexander schenkte mir nach. „Du wunderst dich sicher, mich hier zu sehen?“ sagte er und lächelte geheimnisvoll. „Allerdings.“, gab ich zu und hoffte, er würde seine Anwesenheit erklären. Doch es geschah nichts. Er erklärte nichts und er sagte auch nichts. Er lehnte sich zurück und sah mich an, so, als betrachte er ein Gemälde. „Frag 1 nichts, dann brauch ich auch nicht zu lügen“, sagte er schliesslich. „Wichtig ist doch nur, dass ich hier bin. Bilde dir ein, du wärst eine Baronin aus einem anderen Jahrhundert. Und ich dein Baron. Er lachte leise vor sich hin. Spielst du mit?“ Ich nickte. Ich war bereit, dieses Spiel mitzumachen. Alexander gefiel mir, obwohl alles so geheimnisvoll und unwirklich schien. Ich fühlte mich wohl, obwohl ich eigentlich beunruhigt hätte sein müssen. Alexander warf ein paar Holzscheite in das Feuer und ich beobachtete, wie sich die Flammen gierig in das Holz frassen. Mir war, als wäre ich in eine andere Welt versetzt worden. Wir redeten nicht viel miteinander. Wir genossen die Wärme des Kamins, tranken Wein und später legten wir uns auf die Felle, die vorm Kamin lagen. Als Alexander mich kiisste, hatte ich jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren. Mir war, als hätte ich vorher nie gelebt. DAS GEMÄLDE Ich erwachte, weil mir kalt war. Ich reckte mir meine steifen Glieder und setzte mich. Alexander war nicht mehr da, nichts erinnerte mehr an ihn und einen kurzen Augenblick bildete ich mir ein, alles nur geträumt zu haben. Doch da standen die Stühle, auf denen wir gesessen und dort lagen die Felle, auf denen wir miteinander geschlafen hatten. Das Feuer war aus und ich verliess das Zimmer, das nun kalt und ungastlich schien. Alles sah ganz anders aus. Nicht mehr so gespenstisch und furchterregend wie am vergangenen Abend. Ich erinnerte mich an ein paar Gegenstände, dich ich am vorigen Abend entdeckt hatte und stand plötzlich wieder in der Festhalle. Aufeinmal tauchte eine ältere Frau vor mir auf. „Wo wollen Sie denn hin?“ sagte sie und sah mich an, als war ich ein Gespenst. „Ich hatte mich verlaufen“, versuchte ich zu erklären. „Wollen Sie damit sagen, dass Sie die ganze Nacht im Schloss verbracht haben?“ Ich nickte. „Hatten Sie keine Angst?“ Eigentlich hatte ich nicht die Absicht, der /Uten mein Erlebnis auf die Nase zu binden, dann aber erzählte ich es ihr doch. Vielleicht wusste sie, wer der fremde Junge war? Wir gingen einen breiten Gang entlang, durchschritten die Galerie zu dem anschliessenden Korridor. Ich spürte, sie glaubte mir kein Wort. Plötzlich fiel mein Blick auf ein Gemälde, das sich an der linken Seite befand. Es zeigte einen jungen Mann mit langen, braunen Locken. Er trug eine schwarze Samthose und ein weites, offenes Hemd. An seinem Hals befand sich eine silberne Kette mit einem Kreuz. „Aber… das ist er ja“, rief ich. Die Frau schüttelte mitleidig den Kopf. „Das ist Baron van Bemmel“, sagte sie, „er starb 1767“. Das durfte nicht wahr sein. Hatte ich wirklich alles nur geträumt? Ich verliess langsam das Gelände. Es war nicht weit zur Stadt und ich verzichtete auf den Bus. Die Luft tat mir gut und mein Kopf wurde klarer. Ich versuchte, logisch zu denken. Es gelang mir nicht. Ich erinnerte mich nur dunkel an die Nacht, ich hatte viel Wein getrunken, zuviel Wein. Später schlief ich in Alexanders Armen ein. Zu dumm, dass ich nicht mehr von ihm wusste. DAS R ÄTSEL LÖST SICH Ich ging in das erste Restaurant, das mir entgegenkam. Es war noch früh, die Stühle standen auf den Tischen und die Wirtin war unfreundlich. Ich bestellte mir einen Kaliee und sah auch um. Hinter mir sass ein Junge, der mir bekannt vor kam. Ich konnte mich nicht täuschen. Er war es: Alexander. Er hatte die Samthosen mit einer Jeans vertauscht und statt des Rüschenhemdes trug er einen Rollkragenpullover. Auch er hatte mich entdeckt und setzte sich zu mir. „Ausgeschlafen?“ fragte er und lächelte. „Warum bist du nur so schnell verschwunden?“ sagte ich. „Ich wollte das Geheimnis nicht lüften, mir war, als würdest du glauben, ich wäre wirklich ein Baron“. „Ich wusste eigentlich nicht, was ich glauben sollte“, sagte ich. Er lachte. „Ich will dir alles erklären. Mein richtiger Name ist natürlich nicht van Bemmel sondern Alexander Martens. Ich bin Schauspieler. Wir führen in ein paar Wochen ein Stück auf. Es heisst: Baron van Bemmel. Ich spiele den Baron und da ich in meiner Rolle so perfekt wie möglich sein möchte, bat ich den yerwalter, eine Nacht in dem Schloss verbringen zu dürfen. Ich wollte in der gleichen Umgebung sein wie Baron Bemmel es war. Und dann bist du gekommen… Es war wie im Märchen“. „Du hast deine Rolle perfekt gespielt“, sagte ich spöttisch. Er sah mich nachdenklich an. „Böse?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nicht böse, vielleicht ein wenig enttäuscht“. Plötzlich lachte er leise. „Ich hab eine tolle Idee. Traust du dir zu, die Rolle der Baronin zu übernehmen?“ „Das liegt mir nicht“, sagte ich, „ich bin zu schüchtern“, „Ach was“, er wischte meine Bedenken mit einer einzigen Handbewegung von sich. „Auch du hast deine Rolle grossartig gespielt, gestern nacht!“ „Da hatten wir keine Zuschauer“. Er nahm meine Hand. „Wenn es das ist: Die Zuschauer vergisst du ganz einfach!“ Auch ich musste grinsen. „Gut, ich will’s versuchen, Baron van Bemmel!“ Wir standen auf und verliessen Hand in Hand das Lokal.