Der Musikexpress hat die Soul-Legende AI Green bei einer Predigt in Memphis besucht
Gelegentlich kann man Al Green in großen Konzertsälen sehen, sich Karten für die Royal Albert Hall kaufen, um auf teuren Plätzen mit teuren Menschen zu „Love And Happiness“ mit dem Fuß zu wippen. Man kann aber auch den anderen AI Green suchen, den Pastor, der seit 1976 – als ihm eine Freundin kochende Grütze drübergoss, weil er sich zu heiraten weigerte – fast jede Woche auf der Kanzel steht. Dann macht man sich am Sonntagvormittag in Memphis auf den Weg, den Elvis-Presley-Boulevard nach Süden, biegt kurz nach Graceland rechts in eine kleine Straße mit brüchigem Asphalt ein, die durch ein Wäldchen zur „Full Gospel Tabernacle Church“ führt. Hat man Pech – wie der Autor dieser Zeilen-, ist der Ledersessel, auf dem ein Seidentuch mit der Aufschrift „Pastor“ hängt, leer. Nichts zu sehen von Al Green; ein offenbar pensionierter Reverend unterhält die nur halb gefüllte Kirche mit einer improvisierten Predigt. „Ich bin 95!“, ruft der lange Schwarze im weißen Anzug. „Ich bin gesund und nehme keine Medizin! Jesus ist meine Medizin!“ Er schwankt, hält sich fest, sammelt seine Kräfte. „Die Leute sagen, man soll nach 7 Uhr abends nichts mehr essen. Ich ESSE UM NEUN!“, ruft er trotzig; die Gemeinde dankt Gott. Wenn man dann doch Glück hat – wie der Autor dieser Zeilen -, öffnet sich in diesem Moment die Tür, und Al Green kommt herein. Schweren Schrittes, gekleidet in eine lange weiße Robe, bahnt er sich den Weg zur Kanzel, nimmt ein Mikro. „Ich sollte nicht hier sein“, murmelt der 61-Jährige kopfschüttelnd und schlägt eine dicke Bibel auf. „Ich war Freitag im Krankenhaus. Ich hatte einen Zusammenbruch. Der Arzt hat gesagt, ich soll auf keinen Fall in die Kirche gehen! Aber heute Morgen, da hob ich mit meinem anderen Doktor gesprochen“, sagt er, und als er dabei nach oben deutet, geht ein Raunen durch die Reihen. Der Organist lässt die Hammond schwurbeln, der Schlagzeuger die Becken vibrieren. „Ich hab zu meinem anderen Doktor gesagt: Wenn ich gehen kann, geh ich in die Kirche.“ Kleiner Tusch, ein bisschen Applaus. „Und wenn ich nur kriechen kann, dann KRIECHE ICH IN DIE KIRCHE.“- Amen-Rufe, Hallelujah-Rufe – „Und wenn mich jemand fahren muss? DANN LASS ICH MICH ZUR KIRCHE FAHREN!“ Ekstase: Der Trommler trommelt, der Organist orgelt, die Gemeinde, die es von den Sitzen gerissen hat, preist lautstark den Herrn. Al Green lacht, beugt sich von der Kanzel, lässt den Blick durch die Reihen schweifen. Dann singt er „One Day At A Time, Sweet Jesus“, einfach so, begleitet von seiner kleinen, zusammengewürfelten Kirchenband und einem mittelmäßigen Gospelchor. Wenn man dann – mit einem Strahlen, das einen den ganzen Tag nicht mehr verlassen wird – nach draußen tritt, ist klar: Für fast alles andere mag es Kreditkarten geben – aber Al Green in seiner Kirche predigen zu sehen, das ist wirklich unbezahlbar.