Der Rock der 70er Jahre
Der Aufriß von einem Jahrzehnt Rockgeschichte muß subjektiv ausfallen, so subjektiv wie eine Plattenkritik. Rockmusik ist in erster Linie ein emotional wirkendes Medium, und sie entzieht sich deshalb - Gott sei Dank! - den Meßlatten empirischer Wissenschaft. Welchen Maßstab soll man auch anlegen? Den des Verkaufserfolges? Dann waren die siebziger Jahre das Jahrzehnt der Bee Gees und der Filinsoundtracks. Den der Titelseiten von Zeitschriften aus aller Welt? Dann verabschieden wir jetzt das Jahrzehnt von Auba und den ßay City Kollers. Den der Lautstärke? Dann haben vermutlich Motorhead und Ted Nugent gewonnen. Bekennen wir uns also dazu, daß objektive Kriterien nur eine Nebenrolle spielen können. Und wer mit dem Blickwinkel nicht klarkommt, aus dem Hermann Haring die siebziger Jahre sieht, der kann unsere Special Story gleichwohl als Denkanstoß akzeptieren.
Die Rockmusik der fünfziger und der sechziger Jahre birgt aus historischer Sicht kaum Probleme. Zwei eruptive musikalische Revolutionen brachten die Dinge ins Rollen, Elvis Presley und dann die Beatles bildeten unbestritten den Brennpunkt des Geschehens. Aber die siebziger Jahre? Das Jahrzehnt begann bereits mit allen Anzeichen der Schizophrenie. Etliche der wichtigsten und populärsten Rockinterpreten starben in den Jahren 1969 bis 71: Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison. Bedeutende Bands lösten sich auf: die Beatles, Cream und Creedence Clearwater Revival. Der Schock von Altamont, der die Blütenträume von Woodstock zerstört hatte, ließ die Zukunft der Rockszene in zweifelhaftem Licht erscheinen. David Bowie drückte den heranziehenden Stimmungsumschwung in seinen Liedern am besten aus: mit exzentrischen Kompositionen beschwor er eine Mischung aus Horror, Paranoia und Verfall. Und der Bluesrock-Gitarrist Eric Clapton, dessen einst so hoffnungsvolle Karriere immer unkontrollierter verlief, seit 1968 das Supertrio Cream auseinandergebrochen war, klagte öffentlich: „Wir haben eine Fülle begabter Instrumentalisten, aber niemanden, der ihnen eine neue Richtung zeigt. Seit Monaten sitzen wir herum und warten auf einen neuen Anführer, jemanden wie Bob Dylan oder John Lennon, dem wir folgen können; aber es kommt niemand, und die Großen von gestern schweigen.“
In der Tat: niemand kam. Und dabei sollte es auch bleiben. Eine neue Leitfigur vom Kaliber eines John Lennon oder Bob Dylan haben die siebziger Jahre bis zu ihrem Ende nicht mehr hervorgebracht,und sein Ausbleiben führte nicht nur Musiker, sondern in viel stärkerem Maße die Plattenfirmen in die Irre. Die Atmosphäre des Niedergangs, die nicht nur Bowie. sondern auch die Lieder amerikanischer Folk-Rocker wie Neil Young oder Joni Mitchell verbreiteten, war daher auch absolut angesagt. Nur: sein volles Ausmaß entfaltete dieser Trend erst Jahre später, analog zur Entwicklung im gesellschaftspolitischen Bereich, wo die Reaktion, die 1970 bereits auf Touren kam, auch erst um die Mitte des Jahrzehnts unübersehbar durchschlug. Zu Beginn der siebziger Jahre aber standen in der Rockmusik den Propheten des Niedergangs zwei Entwicklungen gegenüber, die völlig konträr verliefen und sich im öffentlichen Bewußtsein viel nachdrücklicher festsetzten.
Eine dieser Entwicklungen betraf die Direktionsetagen der großen Plattenkonzerne. Dort war Rockmusik in den fünfziger und selbst in den sechziger Jahren noch mit Argwohn betrachtet worden: anständige Leute machten mit Langhaarigen keine Geschäfte. Doch die weltweite kulturelle Revolution, die der Erfolg speziell der Beatles ausgelöst hatte, riß irgendwann solche Dämme um, und die Plattenmogule erkannten urplötzlich, in was für ein Schlaraffenland sie die zahlenmäßig immer stärker anwachsende Teenagergeneration geführt hatte.
Das Paradebeispiel für diesen Erkenntnisprozeß liefert der amerikanische Medienkonzern CBS. Bis 1967 war CBS – als hätte es die Anfangserfolge der Beatles, Rolling Stones, Byrds oder Beach Boys nie gegeben – fast nur in der leichtgewichtigen, traditionellen amerikanischen Unterhaltungsmusik zuhause. Doch dann überkam, vor allem beim großen Festival im kalifornischen Monterey den damaligen CBS-Topmanager Clive Davis die Erkenntnis, daß die Rockmusik den Schallplattenmarkt nicht nur der USA über kurz oder lang total beherrschen würde. Rasch band er Interpreten wie Santana, Blood, Sweat & Tears, Simon & Garfunkel, Janis Joplin oder Johnny Winter an sein Unternehmen und erhöhte dann den Rock-Anteil im CBS-LP-Repertoire Zug um Zug von 17 auf über 60 Prozent. CBS stieg dadurch zum umsatzstärksten Plattenhersteller der USA auf. Weltweit brachten Rockproduktionen bereits 1972 weit über 50 Prozent des Schallplattenumsatzes in Höhe von fast zehn Milliarden Mark ein; die Schallplattenindustrie und in ihrem Schlepptau die gesamte Unterhaltungsindustrie erlebte einen beispiellosen Boom, der später nach kurzer Atempause in noch ungeahntere Höhen aufsteigen sollte.
„Music is where the money is“ erklärte die amerikanische Illustrierte „Look“ Anfang der siebziger Jahre, und mit „music“ meinte sie die Rockmusik. Noch deutlicher als der galoppierende Umsatz- und Gewinnzuwachs illustriert die Schizophrenie der frühen Siebziger allerdings die Entwicklung im künstlerischen Bereich. Dort gab es nämlich auf einmal keine Grenzen mehr, und gerade ein Mann wie Bowie stand mit seinem Gespür für die Fahrt in den Abgrund kreativ ganz oben. Mit exaltiertem Rock, bizarrer Theatralik und einem bis dahin unvorstellbaren bisexuellen Ego-Kult sprengte er die Grenzen des bislang auf die Musik beschränkten Mediums Rock; wer fortan wissen wollte, wo es lang geht in der Kultur konnte sich die Besuche im Theater, im Kino, im Cabaret ersparen und brauchte nur noch ins Rockkonzert zu gehen.
Verwandt mit Bowie war die schillernde Musikshow des gleichfalls wegweisenden britischen Sextetts Roxy Music, das den Weg in die Dekadenz auch mit Leder, Seide und Goldlame auspolsterte, noch mehr aber durch unerreichte, in Nostalgie schwelgende musikalische Stimmungsbilder illustrierte. Klammert man einmal Brian Eno, den Keyboard-Mann und Elektroniker der Gruppe aus, dessen wahre Stunde erst nach 1976 im Umfeld der New Wave schlug, so stand Roxy Music schon mit den ersten Platten in den Jahren 1972 und 73 auf dem kreativen Gipfel. Die Band sponn damals auch Fäden hinein in den Jazz und in die sogenannte E-Musik – eine Querverbindung zu jenen Bands, die damals durch Stilfusionen der Rockmusik immer neue Bereiche erschlossen.
Bereits 1969 und 1970 hatte einer der größten Jazzmusiker, der farbige amerikanische Trompeter Miles Davis, auf seinen LP’s „In A Silent Way“ und „Bitches Brew“ Jazz und psychedelisch eingefärbten Rock miteinander verschmolzen; die Musiker, die ihn bei diesem Experiment zur Seite standen, trieben die Jazz-Rock-Fusion anschließend mit eigenen Bands rasch voran. So gründete John McLaughlin das Mahavishnu Orchestra, Tony Williams die weniger bekannte Band Lifetime; die Musiker der 1970 entstandenen Formation Weather Report (darunter Joe Zawinul, Wayne Shorter und Miroslav Vitous) hatten sogar alle bei Miles Davis Erfahrungen gesammelt.
Jazzrock spielten auch Chicago und Blood, Sweat & Tears, beide kurz vor der Jahrzehntwende begründet. Allerdings betonten sie stärker die Rockelemente und bluteten dadurch offenbar früher aus; die Miles Davis-Schule hat sich dagegen bis heute kreativ behauptet.
Fusionen, Experimente,neue Wege – das Reich, in das die ersten Rockmusiker Ende der sechziger Jahre vor allem unter dem Einfluß bewußtseinserweiternder Drogen eingedrungen waren, entpuppte sich in den frühen siebziger Jahren als Heimat unzähliger Bands. Santana ließen ihren wohlbekannten Latin-Rock in einem meditativen Klangstrom aufgehen. Die Pink Floyd gliederten ihrem hypnotisierenden Science Fiction-Rock eine optische Dimension an. Genesis kappten konsequent die wichtigste Rockwurzel, den Blues, und entwickelten in ihrer Musik kalte theatralische Pracht. Emerson, Lake & Palmer trieben die Mischung von Klassik und Rock zu einem neuen Höhepunkt und nutzten die Möglichkeiten elektronischer Klangerzeugung mit dem Synthesizer genau wie die Pink Floyd und etliche andere englische Bands – immer intensiver. King Crimson stießen am weitesten vor und kombinierten alles, was die Musik überhaupt herzugeben schien, zu einmaligen surrealistischen Klanggemälden. Ähnlich arbeitete in Amerika Frank Zappa, dessen Schmelzprodukt indes mehr einem grell eingefärbten, sarkastischen Comic-Strip glich.
Doch nicht nur die Avantgarde war unterwegs zu neuen Ufern. Gestandene Bluesrocker machten ebenfalls von sich reden: die Free mit ihren kargen, kraftvollen Rhythmus- und Melodielinien; Led Zeppelin mit einem so häufig nachgeahmten, aber niemals erreichten Schwermetall-Sound; die Alman Brothers in Amerika mit fruchtigen, singenden Gitarrenlinien; die J.Geils Band im gleichen Land mit explosivem Powerplay.
Eine Blüte erlebte diesseits und jenseits des Atlantiks auch der Folk-Rock: In England zwischen den Polen Fairport Convention und Incredible String Band, in Amerika in der Person zahlreicher sensibler Singer/Songwriter und in der Virtuosität und Brillanz von Crosby, Stills, Nash& Young.
Zu einem Höhenflug setzten in den USA gleichzeitig enge Verwandte der Folk-Rocker an: die Country-Rock-Bands, allen voran die Flying Burrito Brothers und danach die Eagles und die von Stephen Stills gegründete Gruppe Manassas.
Die kreative Explosion in der Rockmusik konzentriert sich auf die Jahre von 1970 bis 1973; sie brachte allerdings fast nirgendwo grundsätzlich Neues, sondern griff überall Ansätze auf, die schon in den spätsechziger Jahren aufgetaucht waren. Die Entwicklung verlief also über etliche Jahre hinweg durchaus kontinuierlich und konsequent; dennoch konnte der Plattenmarkt mit der künstlerischen Entwicklung nicht Schritt halten. Anfang der siebziger Jahre waren nur wenige der von Insidern und Rockjournalisten hochgelobten Wegbereiter ins Land der unbegrenzten musikalischen Möglichkeiten wirklich populär, mit hohen Plattenumsätzen in Europa oder Amerika oder gar auf beiden Kontinenten. Crosby, Stills, Nash & Young waren Topacts, ebenso Led Zeppelin, Roxy Music in England und die Eagles in Amerika. Aber als etwa Genesis 1972 ihr vermutlich bestes Album überhaupt, nämlich „Foxtrot“, veröffentlichten, galten sie noch weithin als Geheimtip. Auch Emerson, Lake & Palmer mußten sich mit bescheidenen Umsätzen zufriedengeben. Die fantastische J. Geils Band war nur in Boston und Umgebung ein Ereignis, und King Crimson produzierten im Grunde genommen unter Ausschluß der Öffentlichkeit.
In den Hitparaden regierten stattdessen bis Mitte der siebziger Jahre die Leichtgewichtler: seichte Popkünstler oder Schmalspurrocker, in Amerika unter der Rubrik „easy listening“, in Europa unter dem Schlagwort „middle of the road“ zusammengefaßt. Die Tophits der Jahre 1971 bis 75 lieferten in erster Linie Leute wie Slade. Dawn, Middle Of The Road, Donny Osmond, David Cassidy, Sweet, Suzi Quatro. Gary Glitter, Carpenters oder Barry White. In Amerika kamen noch Vertreter des Philadelphia-Sounds hinzu, eines seelenlosen, fabrikmäßig produzierten Abklatsches der einstmals packenden, heißen amerikanischen Soul-Musik. Behaupten konnten sich neben soviel Schund nur noch die sogenannten Superstars: Umsatzmillionäre aus der Rockszene wie Paul McCartney, die Rolling Stones. Elton John, Rod Stewart, Neil Young, Stevie Wonder. Sie alle hatten bereits in den sechziger Jahren die Popularitätshöhen erklommen und machten weiterhin gute Platten; für die Industrie waren sie die Stützpfeiler des großen Geschäftes mit der Rockmusik Die meisten der sogenannten „progressiven“ Bands dagegen konnten von Plattenverkaufen zwischen 100.000 und 1 Million Exemplaren damals nur träumen; viele von ihnen rückten erst in der Mitte des Jahrzehnts in die Kategorie der Superstars auf und waren zu diesem Zeitpunkt in ihrer musikalischen Entwicklung schon erstarrt – Genesis, Pink Floyd, Yes, Jethro Tüll, Queen, Deep Purple zum Beispiel.
Wo liegen die Gründe für diese Zweiteilung des Marktes, die direkt in die kreative Krise um das Jahr 1975 und in die nachfolgende kommerzielle Krise um das Jahr 1978 herum führte? In jene Krise, die ja bereits 1970 Thema des Dekadenz-Rocks von David Bowie gewesen war? Ein Stück der Antwort läßt sich kurz und plakativ geben: Alles war viel zu schnell gegangen!
Platten aus der Zeit um das Jahr 1970 sind auch heute noch gefragt. Erst kürzlich wurde die aus rechtlichen Gründen lange Zeit vergriffene Debut-LP der US-Gruppe „It’s A Beautiful Day“ aus dem Jahre 1969 wiederveröffentlicht; innerhalb von wenigen Wochen erreichte sie die deutschen Bestsellerlisten. Aus gutem Grund erneut herausgebracht wurden 1979 auch die zwei Alben von Manfred Mann’s Band Chapter Three, deren Jazz-Rock-Experimente seinerzeit wie Blei in den Läden gelegen hatten. Die Rock-Fans haben offenbar Nachholbedarf, und dasistauch kein Wunder.
Die Rock-Generation, die mit den Beatles großgeworden war, verfügte vor acht oder zehn Jahren nicht gerade über viel Geld; man war gerade aus der Schule raus, studierte, ging in die Lehre oder hatte einen ersten, noch schlechtbezahlten Job. Der Plattenmarkt aber wuchs beängstigend schnell: dauernd neue Gruppen, pausenlos neue Experimente, neue Sounds; die teure Langspielplatte und nicht mehr die billige Single war zudem Träger des musikalischen Fortschritts geworden, und Gruppen, die Singles rausbrachten und gleichzeitig ,,progressiv“ sein wollten, befanden sich auf einem Holzweg. Rockmusik ohne Ende – wer kauft die Platten, kennt die Namen? Die Produzenten der anspruchslosen Massenware, die in die freigewordenen Hitparaden nachdrängte, hatten es da einfacher – sie konnten sich auf die Hausfrauen in den Vorstädten stützen, die sich mittlerweile an Popmusik gewöhnt hatten, noch mehr aber auf eine neue, nachgewachsene Teenagergeneration, die die Beatles nur aus dem Geschichtsbuch kannte und für die Genesis oder Steely Dan ein Buch mit sieben Siegeln war.
Sie hatte es schwer, diese neue Generation: es gab keine überragenden Idole in der Rockmusik, die ja zu schnell zu groß geworden war und noch mit dem kreativen Schub der „golden sixties“ beschäftigt war; dies war kein Boden für einen Neubeginn im Sinne von 1962/ 63. Genügend Stoff für Teenagerträume gab eigentlich nur David Bowie her, und der wurde denn auch von der Musikindustrie ohne Gnade zu drittklassigen Kopien verbraten. Das Prinzip der sechziger Jahre, das die beste Gruppe auch die populärste Gruppe war und die besten Platten auch am besten verkauften, hatte endgültig ausgedient. Außerdem wurde das politische Klima zwischen Frankfurt und San Francisco immer ungemütlicher: Der große Schwung nach vorne war verebbt, die konservativen Kräfte hatten zurückgeschlagen, und die einstmals progressiven Musiker zogen sich mit ihren einstmals progressiven Fans vom gesellschaftspolitischen Tummelplatz zurück. Innerlichkeit wurde Trumpf, äußere Größe mußte die innere Leere verdecken, und so schlug die Stunde der teuren HiFi-Anlagen zuhause und der Keyboardgebirge in den Konzerthallen; mit Rick Wakemans bombastischen Etüden und Peter Gabriels komplexen Phantasien konnten die Teenies nichts anfangen, und so mußten sie bei ihren Hitparaden voller Plastikidole bleiben.
Mitte der siebziger Jahre begann sich der unüberschaubar gewordene Rock- und Popdschungel aber allmählich zu lichten. Die Rockmusik stagnierte, und die Musikkonsumenten holten auf. Die Teenies wurden langsam älter, und die Rockfreaks verdienten mehr Geld. Man traf sich in der Mitte des Stromes, dort, wo die Superstars hausten. Und die Zahl der Superstars wurde so beständig größer, und sie kamen fast alle aus der Rockszene. Ausnahmen wie die Bee Gees, Abba oder Boney M. bestätigen da nur die Regel. Die große Zeit der Goldund Platinplatten begann. Die Märkte der westlichen Welt wuchsen immer mehr zusammen, die Tophits in Australien und Holland, Deutschland und Amerika unterschieden sich kaum noch voneinander. Wings, Supertramp, Pink Floyd, Steve Miller, Boston, Eagles, Rolling Stones, Yes, ELO. Manfred Mann, Linda Ronstadt – jede ihrer Platten verkaufte sich ein-, zwei-, dreimillionenmal. Oder noch häufiger. Die meisten dieser Topacts stagnierten künstlerisch seit Jahren, aber einige brachten auch hin und wieder frischen Wind: Steve Miller, Paul McCartney, ELO, Fleetwood Mac. Die Plattenindustrie, die nach 1973 etwas den Überblick verloren hatte, die erste Ölkrise verkraften mußte und heftig unter der Tatsache litt, daß immer noch keine neuen Beatles in Sicht waren, erholte sich zusehends, sprang auf den Rockzug und strebte zügig dem absoluten Umsatzgipfel ihrer Geschichte entgegen. Unterstützt von Festivals und Konzerten, zu denen speziell in den USA zuweilen 50.000 bis 100.000 Leute strömten, kurbelte sie 1976 den Boom mit Live-Alben an, integrierte die von einer Koalition aus schwarzen Musikern, weiften Homosexuellen und tanzwütigen Teenies getragene Disco-Szene und holte dann zum großen Schlag aus: dreizehnmillionen Mal verkaufte sich weltweit das Doppelalbum „Peter Frampton Comes Alive“, vierzehnmillionen Mal „Rumours“ von Fleetwood Mac, zweiundzwanzigmillionen Mal der Soundtrack von „Saturday Night Fever“ und vierundzwanzigmillionen Mal der Soundtrack von „Grease“. Und dann brach das ganze schöne Kartenhaus zusammen.
Die Rockmusik war fett geworden. Gewaltige Tourneen, gigantische Bühnenaufbauten, horrende Garantiesummen, monströse LP-Auflagen — das lief wie geschmiert, bis eines Tages das Rockvolk merkte,
daß ihm da immer und immer wieder der Schnee von gestern verkauft wurde. Klar, es hatte all die Jahre hindurch in allen Ländern Bands und Interpreten gegeben, die ungewöhnliche, ausgefallene, aufregende Musik machten. Stealers Wheel, Bruce Springsteen, Kate Bush, Kate & Anna Mc Garrigle, Lou Reed, John Cale, Todd Rundgren, Little Feat, Robert Palmer, Ry Cooder, Mike Oldfield, Kraftwerk, Iggy Pop, Ace, Can und so weiter. Einige von ihnen blieben bis heute Randexistenzen wie die McGarrigle-Schwestern, andere entpuppten sich als Wegbereiter einer neuen Rockmusik wie Iggy Pop, Kraftwerk oder John Cale, etliche hatten einen oder zwei Hits wie Ace, ein paar wurden mit Verspätung sogar populär wie Mike Oldfield oder Bruce Springsteen. Im Zentrum der Rockszene jedoch standen die Giganten wie Queen oder Hoyd oder Genesis, und die waren genaugenommen doch beinahe alle aus den sechziger Jahren übriggeblieben. Was hatten sie noch zu sagen? Sie boten Form statt Inhalt, spiegelten nicht mehr das Lebensgefühl eines Rockfans, sondern die kommerzielle Kalkulation von Plattenfirmen und Verlagen. Die Rockmusik als emotionales Kommunikationsmedium der Heranwachsenden, als Identifikationsmöglichkeit der ,,street kids“, als Spiegel des Alltags, als Quelle von Spaß, wo war das geblieben? „My Generation“, die Hymne der frühen Who, „A Saucer Füll Of Secrets“, die Verheißung der frühen Pink Floyd, gab’s das nur noch im Museum? Der Punk-Rock mußte einfach kommen!
Ende 1976 schoß in England die LP „Stupidity“ von Dr. Feelgood in Windeseile auf Platz eins der Charts. Kaum jemand verstand, wieso. DieFeelgoods kamen aus der sogenannten Pub-Szene, die Mitte der siebziger Jahre in England dafür gesorgt hatte, daß die Verbindung der Rockwelt zu ihren Wurzeln nicht abriß. Außerdem spielten Dr. Feelgood einen so ungehobelten, schnellen, kraftvollen Rhythmus wie jene blutjungen Bands in den Hinterhöfen und Garagen der miesesten Ecken von London; jene blutjungen Bands, über die in der etablierten Musikszene das Gerücht umlief, sie würden einen schier unerträglichen Lärm machen und bestenfalls drei Akkorde beherrschen. Welch ein Greuel für den kultivierten Yes-Fan! Der unerklärliche Feelgood-Erfolg war indes nur die Fanfare für den Angriff der Sex Pistols, Damned, Clash, Ultravox, Stranglers, Boomtown Rats, Penetration, Police. Die britischen Teenager stiegen um auf den rauhen, aber ehrlichen Sound aus den Hinterhöfen. Als der Bann gebrochen war und die neue Musik sich beängstigend schnell weiterentwickelte zu jener differenzierten New Wave-Szene, die wir jetzt an der Schwelle zu den achtziger Jahren kennen, folgten auch ältere Rockanhänger dem neuen Sound – er war ganz einfach zeitgemäß und stimmte mit dem überein, was 1977, ’78 und ’79 draußen in der Welt los war. Halten konnten sich in England im Ansturm der New Wave immerhin die Hard- und Heavy-Rock-Szene und ein paar der wohlvertrauten Supergruppen ELO, Queen, Fleetwood Mac. Dennoch wurde die britische Musikszene in nur zwei Jahren total umgekrempelt, zum ersten Mal seit der Beat-Welle in den Jahren 1963/64. Und die Neue Welle expandiert weiter, hat offenbar noch nicht ihren Höhepunkt erreicht.
Außerhalb von England vollzog sich der Umsturz nicht so rasch und mit Verzögerung. Die Plattenumsätze in Großbritannien hatten ja auch bereits 1976 einen Tiefstand erreicht, während in Deutschland und in den USA die Kurve erst 1979 nach unten knickte vorübergehend zumindest. Die Hürden für die anrollende neue Rockmusik waren hier also höher. Dennoch zeigt der phänomenale Erfolg der Dire Straits, die etwa in der Mitte zwischen traditioneller Rockmusik und New Wave stehen, daß auf allen Musikmärkten der westlichen Welt, bereits 1978 die Zeit reif für den Wandel war. Die Größe des heutigen Marktes für Rockmusik, seine vielschichtige Struktur sowie die Blindheit der Plattenindustrie waren aber wohl dafür verantwortlich, daß erst in diesem Jahr die „englische Krankheit“ auch anderswo um sich griff.
Parallel zur New Wave wurde auch der Reggae populär – leicht erklärbar durch die enge ideologische Verwandtschaft beider Musiken. In dieses Bild paßt auch der Erfolg deutscher Elektronik-Rocker im In- und Ausland seit zwei, drei Jahren – auch sie machen neue Musik und zählen zu den Wegbereitern der dritten Rock-Revolution. Nichts anderes ist nämlich die New Wave. Sie ist – gemeinsam mit Reggae aus Jamaika und Elektronik-Rock aus Deutschland – die eigentliche Musik der siebziger Jahre, auch wenn sie zusätzlich noch die Musik der achtziger werden sollte. Die meisten großen Plattenfirmen haben diese Entwicklung völlig verschlafen; ein bedeutender Teil der New Wave stammt deshalb von kleinen, alternativen Firmen wie Virgin, Stiff, Beggar’s Banquet oder Sire, die mittlerweile aber fast alle Vertriebsdeals mit den großen Medienkonzernen abgeschlossen haben. Ein Sound, der überall populär ist, läßt sich nur von einem Plattenmulti bis in den allerletzten Plattenladen karren — so bekommen jetzt alle ein Stück vom New Wave-Kuchen, und die Krise, die derzeit in der Plattenindustrie Thema Nummer eins ist, wird wohl bald vergehen. Der Markt ist eh riesig genug, um auch in fünf Jahren noch Fleetwood Mac oder Paul McCartney die Rente zu sichern. Vorausgesetzt, sie produzieren gute Platten, denn die Konkurrenz hat zugelegt.
Berge von Leserbriefen in der ME-Redaktion dokumentieren, daß die Punks Yes für eine Mißgeburt und die Yes-Fans Punk für eine Totgeburt halten. Auch dieser Streit wird bald zuende sein. Kaum jemand bestreitet mittlerweile noch, daß 1978 und 1979 ungemein viel Platten mit sehr guter, wegweisender, frischer Rockmusik erschienen sind. Es gibt sogar wieder Singles, die allen Leuten zwischen 10 und 35 gefallen: ,,! Don’t Like Mondays“, „Roxanne“, „Heart Of Glass“. Der Rock der siebziger Jahre ist eine Spätgeburt. Über ein halbes Jahrzehnt stand er im Schatten der „goldenen“ sechziger Jahre. Doch jetzt lebt er endlich.