Die 50 besten Alben des Jahres 2022
Trommelwirbel, wir haben gewählt: Das hier sind, ganz offiziell – die 50 besten Alben des Jahres 2022.
Die Plätze 30 bis 21
30. Alabaster DePlume – Gold (International Anthem, VÖ: 1.4.)
Der wortgewaltige und nach Liebe suchende Saxofonist, Sänger und Londoner Bühnen-Philosoph Alabaster DePlume hat aus 17 Stunden Tape-Material dieses 19-Track-Album zusammengeschnitten, das ihm eine Art Durchbruch bescherte: Jazz-Folk-Avantgarde, die wild flattert wie ein Schmetterling, Musikpoesie, die pausenlos umarmt und aus mirakulösen Melodien besteht, die in einem anderen Leben den Erzählern des Ethio-Funk oder Brasil-Pop gehört haben könnten. Ein Spielball, der sich mit seinem Status des Unvollendeten rühmt. (Frank Sawatzki)
29. Alvvays – Blue Rev (Transgressive/Pias/Rough Trade, VÖ: 7.10.)
Nicht wenige hatten die träumerische Indie-Rockband Alvvays nach der bis heute unglaublichen frühen Single „Archie, Marry Me“ als One-Hit-Wonder abgetan. Doch was machen diese Kanadier*innen? Steigern sich von Platte zu Platte. BLUE REV ist Perfektion im Jingle-Jangle-Land. Auf den Drums liegt Hall, die Gitarrenlinien laufen durcheinander, es gibt die klassische Laut-leise-Dynamik, die Stimmen doppeln sich, es entstehen Refrains, die man eben nicht mitsingen kann, weil sie trotz ihrer Eingängigkeit komplex sind. Was besser geht: tanzen. Ab in die gute alte Indie-Disco. (André Boße)
28. Stromae – Multitude (Polydor/Universal, VÖ: 4.3.)
Für Menschen, die der französischen Sprache nicht mächtig sind: Es geht viel um Scheiße auf MULTITUDE. Um Kinderkacke, um genau zu sein, denn Stromae wurde Vater, verarbeitet auf diesem Comeback-Album aber auch ein Burnout nach schweren Zeiten voller Selbstzweifel. Man kann die Platte aber auch einfach als großes Manifest des Pop hören, weil es modernste Produktion mit einem Singer/Songwriter-Anspruch versöhnt, weil es üppigste Arrangements denkbar intim klingen lässt – und vor allem, weil man vieles versteht, ohne Französisch beherrschen zu müssen. (Thomas Winkler)
Unsere Review zur gesamten Platte gibt es hier.
27. Peter Doherty & Frédéric Lo – The Fantasy Life Of Poetry And Crime (Strap Originals, VÖ: 18.3.)
Peter Doherty & Frédéric Lo haben ein Songwriter-Duo gebildet: Der Brite ist der Textdichter, der Franzose der Arrangeur. Lo vermag es, Dohertys Stimme so zart und hell, klar und knabengleich klingen zu lassen, dass einem an einigen Stellen die Tränen über die Wangen laufen. Beide lieben sie The Smiths und Oscar Wilde, klassischen Indie-Pop und betörende Poesie. Manche Stücke besitzen etwas Orchestrales, so sauber und fein sind sie arrangiert. Schon vor 20 Jahren schrieb der Boulevard Peter Doherty verloren – später auch Musikzeitschriften. Totgeglaubte leben länger. (Martin Schüler)
26. Danger Mouse & Black Thought – Cheat Codes (BMG/Warner, VÖ: 12.8.)
Alte Schule, neuer Drive: 15 Jahre nach ihrem ersten Aufeinandertreffen spielen sich Superproduzent Danger Mouse und HipHop-Held Black Thought von den Roots in diesen CHEAT CODES die Bälle zu, als wäre keine Millisekunde seit ihren Frühwerken vergangen. Die schönsten fetten Beats, Funk-Samples und Psychrock-Sounds der 70er-Jahre fallen durch das Höllentor des Conscious Rap; die Roots-Stimme zieht die Worte an Fäden auf, die mit dem Trauma der Sklaverei beginnen. Man beachte die Beiträge von Michael Kiwanuka, Run The Jewels und A$AP Rock – Glückstropfen für die Old School! (André Boße)
Unsere Review zur gesamten Platte gibt es hier.
25. Lucrecia Dalt – ¡Ay! (RVNG, VÖ: 21.10.)
Sage noch jemand, Musik habe ihre Wirkung verloren: Die Welt, die Lucrecia Dalt auf ¡AY! entwirft, besitzt die Dichte und Intensität eines abendfüllenden Science-Fiction-Films. Dieser würde in einer nahen Zukunft spielen und von hegemonialen Identitäten erzählen, die sich auflösen, um Platz zu machen für einen neuen Humanismus der Vielfalt. Die in Kolumbien geborene Künstlerin spielt hier eine digitalisierte Zeitlupenversion von rhythmischen Richtungen wie Salsa und Bolero, wer sich dazu bewegt, sieht ein bisschen wie eine Kreatur aus dem Buena Vista Alien Club aus. (André Boße)
24. Charlotte Adigéry & Bolis Pupul – Topical Dancer (Because Music, VÖ: 4.3.)
Wer häufiger Belgien besucht, weiß um den ambivalenten Umgang des Landes mit seiner Kolonialzeit. Die Plätze und Prachtstraßen zu Ehren der Kolonialisten gibt es noch weiterhin, im Under- aber auch im Overground geben Musiker*innen den Ton an, die mit großem Selbstbewusstsein die Vergangenheit und ihre Folgen für die Gegenwart thematisieren. Charlotte Adigéry und Bolis Pupul gossen diese Debatte in eine coole, tanzbare, lustige, provozierende, lebensfrohe und brutale Platte, die 2022 den Postkolonialismuspop in Belgien prägte – aber auch weltweit zündete. (André Boße)
23. Beach House – Once Twice Melody (PIAS/Bella Union/Rough Trade, VÖ: 18.2.)
Bereits das achte Album des amerikanischen Dream-Pop-Duos – und doch noch einmal ein kreativer Sprung nach vorne. Ein Doppelalbum, eingeteilt in vier Kapitel mit je vier bis fünf Stücken, ursprünglich als EPs konzipiert, die dann jedoch zu einem Gesamtwerk ineinanderflossen. Was Sinn ergibt bei dieser Musik, die in ihren vielen besten Momenten (exemplarisch beim Titel- song und dem Lied „Superstar“) klingt, als müsse es sie zwar nicht unbedingt geben, als sei die Welt ohne sie jedoch ein Ort, an dem es sich nicht so gut und intensiv träumen lässt. (André Boße)
22.Kae Tempest – The Line Is A Curve (Virgin/Universal, VÖ: 8.4.)
Das nerdige Plattensammlerforum rateyourmusic.com ist eine gute Quelle, um Alben mit kurzen Sätzen zu packen zu kriegen. Über THE LINE IS A CURVE hat dort jemand geschrieben: „A middle aged, white, British person raps in a monotone voice.“ Es folgt ein Diss auf das fünfte Album von Kae Tempest, den lassen wir links liegen, denn: Ja, hier rappt eine solche Person, aber wie sie das Leben mit all seinem Leid und seiner Liebe behandelt, und wie sie es mit einer Musik zusammenbringt, die antreibt und gleichzeitig einen Trauerflor trägt: das ist gigantisch. (André Boße)
21. Fontaines D.C. – Skinty Fia (Partisan/PIAS, VÖ: 22.4.)
Das Besondere an den nun in London lebenden Iren Fontaines D.C. ist, dass diese Band nicht nur lange grübelt, sondern das Ergebnis dieser Grübeleien in ihre Musik einfließen lässt. SKINTY FIA erzählt Geschichten über irisches Leben in Großbritannien – wo irisches Leben nicht zwingend erwünscht ist. Die Band verfolgt damit die Spuren weiter, die die Pogues in den 80er-Jahren gelegt haben, als die Poesie dem Suff noch überlegen war. Eine Postpunk-Platte, klar, aber eine, über die sich Proseminare in Neuerer Geschichte veranstalten ließen. (André Boße)