Die 50 besten Alben des Jahres 2022
Trommelwirbel, wir haben gewählt: Das hier sind, ganz offiziell – die 50 besten Alben des Jahres 2022.
Die Plätze 10 bis 5
10. Tocotronic – Nie wieder Krieg (Vertigo Berlin/Universal, VÖ: 28.1.)
Einen Monat vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine veröffentlichten Tocotronic ihr neues Album. Dirk von Lowtzow wies bei Konzerten auf diesen Zufall hin und erläuterte, dass mit dem Titel eigentlich der innere Krieg, der in uns allen tobt – mal heiß, mal kalt – gemeint war. Selbstverständlich gelte aber den Aggressoren die Verachtung der Gruppe. Mit ebensolcher Selbstverständlichkeit gilt der Gruppe unsere Hochachtung. Denn wie bitte schön ist „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ – ein Song wie eine brennende Zündschnur – keine Debütsingle einer blutjungen Band, sondern Vorbote des 13. Albums einer über alle Zweifel etablierten Institution? Wie hinreißend hopst Rick McPhails Gitarre über den Refrain von „Ich hasse es hier“ und wie schlüssig findet von Lowtzow im Duett mit der himmlischen Soap&Skin zusammen? Sie sollen uns erzählen, bis in Die Unendlichkeit. (Stephan Rehm Rozanes)
9. Björk – Fossora (One Little Independent, VÖ: 30.9.)
Popmusik ist dann perfekt, wenn sie beide Fraktionen bedient: die, die sich Abenteuer und mediale Grenzerfahrungen wünscht und jene, die eine Bestätigung bestehender Sentimente erwartet, weil sie sich in einem Ton, einem Song, auf einem Album zu Hause fühlen möchte. Björk gelingt die Perfektion auf diesem Album so gut wie zuletzt auf BIOPHILIA (2011): Der musikalische Blick geht bis zum Horizont, verbindet Avantgarde mit Jazz mit Beinahe-Tanzmusik, lässt Gabber-Beats auf Klarinettenpassagen auf ätherisches Vokalgemurmel treffen. Manchmal klingt das herrlich weit draußen, vielleicht nach den Pilzen, die als übergeordnetes Thema dienen. Eigentlich aber ist die Musik ein sauber abgesteppter Quilt, auf dem diese Stimme liegt, deren Zeilen sich in den Kopf eindrehen wie gute Werbeclaims: „Into the atmosphere, there’s spores everywhere“, singt Björk im Titeltrack. Dazu blasen die Klarinetten den Marsch, um sich irgendwann in Sounds straight outta Maschinenraum einzudrehen. (Jochen Oberbeck)
8. Black Country, New Road – Ants From Up There (Ninja Tune/GoodToGo, VÖ: 4.2.)
Weil Sänger Isaac Wood zwischenzeitlich die Reißleine zog, wird ANTS FROM UP THERE wohl mindestens bis zum nächsten Regierungswechsel im UK die letzte Platte dieser Band mit diesem gewissen Pathos-Wumms bleiben. Woods Vokal-Parts sind nicht zu ersetzen. Ihre Instrumente bespielen die Musiker*innen mit großer Lust am Aufeinandertürmen, aber auch am Schärfen und Sezieren. Herausgekommen ist dabei ein bis in die Details abgestimmtes, existenzialistisches Rock-Drama mit stürmenden Saxofonen und punktueller Stille. Geboren aus der Isolation einer zum Studio umfunktionierten Abtei, was, so werden die Band-Mitglieder zitiert, eine intensivierende Wirkung gehabt habe: Black Country, New Road wippen 2022 beinahe im Sekundentakt von einer verkrachten Idee zur nächsten: so wirr, so schön. (Frank Sawatzki)
7. Big Thief – Dragon New Warm Mountain I Believe in You (4AD/Beggars/Indigo, VÖ: 11.2.)
Ein Doppelalbum mit vier Seelen: In so vielen Studios und mit so vielen Produzenten hat die beste Indie-Folk’n’Country-Band der Welt ihr fünftes Album eingespielt. Es lag die Gefahr in der Luft, dass sich Big Thief auf dieser Reise verzetteln, dass sie vor lauter Möglichkeiten und Tapetenwechseln die Orientierung verlieren. DRAGON NEW WARM MOUNTAIN I BELIEVE IN YOU (ein Titel wie ein Tattoo) beweist, dass sich niemand um Big Thief sorgen muss. Nie zuvor klang die Band so in sich ruhend, so fokussiert. Dass ein Album mit diesem Konzept vielschichtig klingen würde, war klar. Dass es aber wirkt, wie ein ausufernder Roman, der zwar Orte und Nebenfiguren wechselt, aber dabei die Story zu jeder Zeit im Blick behält – das ist das Besondere an diesem Album. Und natürlich ist Sängerin Adrienne Lenker in allem, was sie tut, eine Erscheinung. Aber auch das war vorher schon klar. (André Boße)
6. The Düsseldorf Düsterboys – Duo Duo (Staatsakt/Bertus, VÖ: 7.10.)
Einer der schönsten Zustände auf Erden ist der Halbschlaf, und wohl niemand dürfte das besser wissen als die Düsseldorf Düsterboys. Das zweite Album von Peter Rubel und Pedro Gonçalves Crecenti, das ganz programmatisch DUO DUO heißt, klingt ein wenig, als penne man in einem stillen Raum friedlich hinfort, während sich die Freunde im Nebenzimmer durch die Musikgeschichte spielen: Mittelalterliche Flöten und barockes Tönen, feierliches Folkgitarrenspiel und Tropicalismo-Percussions hört man da wie durch Nebel, während Crescenti und Rubel gewohnt mehrstimmig und verhallt ihre gewohnt absurden Lieder über Lavendeltreppen und andere Alltäglich- wie auch Abseitigkeiten singen. Auf sanften, trägen Schwingen scheint dieses Album hinauszugleiten aus der Gegenwart, hinein in einen utopischen Raum, in dem es ein Gestern gibt, ein Morgen irgend- wie auch, aber eben wundersamerweise kein Heute. (Julia Lorenz)
5. Wet Leg – Wet Leg (Domino/GoodToGo, VÖ: 11.4.)
Das Patriarchat mit seinen eigenen Mitteln schlagen – und die Klischees des Postpunk-Revivals gleich mit: Wet Leg erledigen gleich beides, mit einem selbstbetitelten Debütalbum voller cheeky Songs über Datingfails, Sex, Erwachsenwerden und allem, was dazugehört. Rhian Teasdale und Hester Chambers, beste Freundinnen von der Isle of Wight, machen beide schon ihr Leben lang Musik, was auf dem Album auf charmanteste Art rauszuhören ist: Es gibt Verweise an Nirvana und Angel Olsen, Pulp und The Strokes, MGMT und Courtney Barnett, vor allem aber klingen britischer Indie anno 2004 sowie das Postpunk-Revival der vergangenen Jahre an. Wobei Wet Leg nicht den Fehler begehen, an der eigenen Ernsthaftigkeit zu ersticken. Teasdale und Chambers wissen genau, dass sie das Rad nicht neu erfinden, sie umarmen die Klischees der Gitarrenmusik, untergraben sie mit viel Humor und liefern damit das perfekt Bubblegum-bunte Album für dieses graue Jahr. (Aida Baghernejad)