Die Ärzte lösten sich 1988 auf Sylt auf: Ein Nachruf, der dann doch nicht endgültig war
Weltreise und Heavy-Metalband: Die Ärzte verrieten dem Musikexpress 1988 ihre Pläne für die Zeit nach der Band-Auflösung, die dann zum Glück doch nicht für die Ewigkeit war.
Im Musikexpress-Sonderheft „Die Ärzte vs. Die Toten Hosen“ untersuchten wir, richtig, das Phänomen Ärzte vs. Hosen. Beide Bands begleiten uns aber nicht erst seit heute – aus unserem ME-Archiv haben wir jetzt ein Interview zur Auflösung von Die Ärzte gekramt, die ja dann doch nicht so endgültig war, wie die Band es ursprünglich geplant hatte.
Für die Zeit nach Die Ärzte hatten Bela B. und Farin Urlaub große Pläne. Für immer verschwand die Band dann allerdings nicht von der Bühne. Immerhin: Die Urlaubspläne hat Farin Urlaub umgesetzt. Mit über 117 besuchten Ländern und zwei veröffentlichten Fotobänden hat er das geschafft, wovon er 1988 im Interview träumte – die Welt sehen und was ganz Anderes machen. Die Ärzte gibt es immer noch. Und wie.
Ein Interview-Nachruf zum Ende der Ärzte
Am 9. Juli 1988 fällt im Kursaal von Westerland auf Sylt der Vorhang. Nicht nur auf der Bühne, nein, für immer. Das endgültige Aus für die (selbsternannte) „beste Band der Welt“: Die Ärzte legen ihr OP-Besteck weg, werden nicht mehr gemeinsam operieren. Aufhören, wenn’s am schönsten ist. Diese alte Boxer-Weisheit haben Gitarrist Jan Vetter-Marciniak alias Farin Urlaub und Drummer Dirk Felsenheimer alias Bela B. offensichtlich beherzigt, auch wenn der Titel ihres aktuellen Albums DAS IST NICHT DIE GANZE WAHRHEIT… dagegen spricht.
Krach im Gebälk einer Pop-Gruppe ist kein Sonderfall, aber die meisten Kapellen raufen sich um des lieben Geldes wegen wieder zusammen. Zumindest wenn der Geldhahn eben erst anfing zu fließen. Paradoxerweise ist gerade das für Gitarrist Farin Urlaub einer der Hauptgründe für den Stop der Pop-Karriere. „Ich habe jetzt die Kohle, um mein Leben anders zu leben. Eine Zeitlang zu tun wozu ich Lust habe.“
Und wozu hat er Lust? Ganz klar: zum Abhauen, Wegfahren, Urlauben — sein Pseudonym macht’s deutlich. Nicht so wie du und ich, mal vier Wochen auf die Insel, zur Erholung. Nein, einfach weg, ohne zu wissen, wohin, wie lange, wann oder ob überhaupt zurück. „Musik ist nicht mein Leben. Die Ärzte waren doch im Herzen ’ne Schülerband, nur dass bei uns aus Spiel plötzlich Ernst wurde. Und das sechs Jahre lang.“
Richtigen Knatsch hat es bei den Ärzten nicht gegeben. Im Mai 1987 beschlossen Dirk und Jan bei einem gemeinsamen Urlaub, ihre Band sterben zu lassen. Doch der ganze Indizierungs-Wirbel hielt die Band am Kochen. AB 18 (Sampler mit sieben von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdenden Schriften indizierten Songs) entwickelte sich trotz oder gerade wegen des Verkaufs unterm Ladentisch zum Renner. Manager und Veranstalter Konzack drängte zur nächsten Tour.
Dirk: „Da lag die Idee nahe, zum Abschluss der Ärzte-Zeit eine Live-Platte aufzunehmen, so ’ne Art Dokument dafür, dass es uns gegeben hat. Es verging noch ein Winter — und jetzt wird die Live-LP eine Doppel-LP und ein Live-Video gibt’s auch noch. All das wird auf der gegenwärtigen, letzten Ärzte-Tour mitgeschnitten.“
Konserviert werden die unorthodoxen Fun-Popper also weiterleben, doch die gemeinsamen Aktivitäten haben sich erschöpft.
Dirk: „Wir haben erreicht, was wir erreichen wollten. Wir sind viel zu jung, um ähnlich wie die Rolling Stones oder das Panik-Orchester zur Institution zu werden. Ich will nicht vom Vergangenheits-Bonus leben.“
Jan: „Es gibt schönere Sachen als Musik, zum Beispiel Motorradfahren unter südlicher Sonne. Ich will spontan entscheiden, was ich tue, von niemanden abhängig sein.“
Die Funken zwischen den beiden Musik-Doktoren sprühten immer dann besonders heftig, wenn es um Konsequenz oder Lust ging. Im Studio, auf der Bühne, bei Promotion-Veranstaltungen.
Jan: „Ich hasse seine Unpünktlichkeit. Der Mann ist notorisch unpünktlich, das ging mir tierisch auf die Nerven.“
Dirk: „Jan urteilt manchmal ein bisschen schnell über andere Leute, lässt andere oft nicht ausreden und war, auf die Band bezogen, ziemlich egoistisch. Wenn er keinen Bock hatte. Promotion zu machen, oder es nicht eingesehen hat. blieb er stur. war nicht mit ihm zu reden.“
Von der Art her sind der Blonde und der Schwarze grundverschieden. Der Kontrast könnte nicht größer sein, aber gerade die Reibung erzeugte das Feuer, das die Ärzte schließlich zum Flächenbrand machte. Hier der Street-Rocker Dirk, Punk- und Heavy Metal-Fan, Jack-Daniels-fest, aus einfachen Verhältnissen, Hauptschule, Dekorateur-Lehre, dann nur noch Rock’n’Roller. Dort Einzelgänger Jan, Milchtrinker, Pogo-Verrückter, aus einer künstlerisch-intellektuellen Familie, Abitur, Studium, staunender Weltreisender. Jeder macht nach dem Ende der Ärzte für sich einen neuen Anfang.
Jan: „Ich löse alles auf. Die meisten meiner Gitarren und Platten habe ich schon verkauft. Auto, Motorrad, alles kommt weg. Ich bin dann endlich von niemanden mehr abhängig, gehe weg aus Berlin, weg aus Europa. Nach Guatemala, Süd-Amerika, mal sehen.“
Trennt er sich schweren Herzens von der Musik? „Ich sehe mich nicht als ernsthaften Popstar. Ich war immer nur der Rhythmus-Gitarrist der Ärzte. Dirk zum Beispiel könnte völlig allein auf der Bühne stehen, er hat das Zeug zum Star, der wird seinen Weg machen.“ An Angeboten mangelt es dem Ärzte-Drummer nicht. „Es gibt 1000 Leute, die mit mir was machen wollen. Ich werd mich mal in West-Deutschland umsehen. Ich weiß nur, dass ich weiter Gitarren-Rock machen werde, ich übe selbst schon auf der Klampfe. Speedmetal kommt gut, Metallica, Anthrax und natürlich immer noch Motörhead. Nur so Cross-Over-Zeug wie Bonfire wird es sicher nicht werden, die sind mir zu schlecht!“
Das Musikexpress-Archiv
ME-Sonderheft: „Die Ärzte vs. Die Toten Hosen“
Im ME-Sonderheft „Die Ärzte vs. Die Toten Hosen – die beiden größten deutschen Bands im Duell“ stellten wir damals auf 108 Seiten beide Bands, ihre Historien, Erfolge und Geheimnisse vor und gegenüber. Wir sprachen mit Weggefährten wie den Beatsteaks, holten ein gemeinsames Interview mit Bela und Campino aus dem Archiv, boten Livebesprechungen der aktuellen Touren, einen großen Statistik-Teil und ein exklusives Interview mit Die Ärzte.
Als Bürgen für die beiden Bands setzten sich Thees Uhlmann und Dokter Renz von Fettes Brot ein. Eine 16 Seiten lange Timeline, eine 14 Seiten große Fotogalerie mit selten gezeigten Motiven, zwölf Seiten, auf denen alle Alben der beiden Bands neu besprochen und eingeordnet wurden und ein exklusives XXL-Actionposter im Heft gab es auch!
ME 11/20: Die Ärzte sind zurück!
Und auch im neuen Musikexpress sind BelaFarinRod erneut vertreten: mit dem längsten ME-Interview aller Zeiten. Wie wir ihr aktuelles Album HELL finden, könnt Ihr außerdem hier nachlesen.