Die Ärzte – Schwemme


Der Bazillus, der bislang auf Berlin begrenzt werden konnte, bricht sich nun auch bundesweit seine Bahn: Zwischen Big Mäcs und Billig-Hotels absolvierten die bösen Buben um Bela B. ihre ersten Hausbesuche in der BRD. Hilfssanitäter Andreas Hub machte es sich auf der Bahre bequem. Herr Hub, Ihr B-B-Bericht, b-b-bitte schön...

Ich hab‘ gerade die Serviette mitgegessen; man schmeckt gar keinen Unterschied.“

Weise Worte angehender Popstars. Der Hunger treibt’s trotzdem rein. Wo Ruhm und Reichtum noch nicht eins sind, muß eine international bekannte Weichbrötchen-Küche die knurrenden Mägen füllen: Die Ärzte bei McDonalds!

Zum Glück gibt es ja jetzt den Basteibogen „Pirate Ship“. Da können die Kinder unter Zuhilfenahme zweier Strohhalme (für die Masten) ein segelschiffähnliches Gebilde draus falten. „Werdet wie die Kinder“, das empfiehlt ja nicht nur Yellos Dieter Meier (s.Interview), sondern auch der Kollege aus Nazareth. Und dieses Motto scheint wie ein unsichtbarer Leitspruch über vielen Ärzte-Aktionen zu stehen.

Apropos Yello. Da komme ich gerade her, als ich mich mit den Ärzten in München treffe, und soll schön grüßen. „Was, Yello kennen uns?“, freuen sie sich und staunen. Nicht wissend, daß die Schweizer tags zuvor sich fragten: „Ob die Ärzte uns wohl kennen?“ So ist das mit dem Ruhm; man weiß selbst nie so recht, wo man steht.

Aber wir waren ja eigentlich bei den Piratenschiffen stehengeblieben, oder? Hm, kann schon mal sein, daß man den Faden verliert, wenn Bela B., Sahnie und Farin Urlaub die 42 Szene betreten. Ziemliches Durcheinander, das Ganze.

Nicht daß unsere Helden zu den vielen jungen Menschen gehören, die vom rechten Weg abgekommen sind, nur weil sie kein Ziel vor Augen haben (z.B.: eine Schleiflack-Wohnzimmergarnitur, eine Lebensstellung als Bankbeamter oder so berühmt zu werden wie die Ärzte). Nein, auch sie haben ihre Ideale: Erfolg zu haben, gute Popmusik zu machen und Bela vielleicht, am 1. April seine Freundin Lola in Gretna Green zu ehelichen. Aber das gehört schon in die Abteilung „Ärzte zwischen Wahn und Wahrheit“.

„Huppi, erfinde mal ein paar gute Gerüchte für deinen Artikel“, sagen sie irgendwann mittags am Frühstückstisch. Eins zitieren sie mir direkt aus dem Kaffeesatz: Daß die bösen Worte gegen Herbert Grönemeyer im „Blind Date“ (2/85) nur eine finstere Intrige gewesen seien. In Wirklichkeit schreibe Herbert schon seit langem die Texte zu ihren Songs. Zum Beweis lassen sie sich in der Garderobe später mit ihren handsignierten Grönemeyer-T-Shirts fotografieren. Die internationale Terrorzentrale beschlagnahmt allerdings den Film…

Aber wir waren ja bei den Piratenschiffen stehengeblieben. Zwischen angekauten Mac Ribs und ausgelaufenen Apfeltaschen kommt es noch zu einer wilden Seeschlacht zwischen Belas Flagschiff und Noppers Galeone. Nopper ist ein alter Schulfreund und für das Merchandising zuständig, wie man geschäftsmäßig jene Mischung aus Unsinn und Anziehsachen bezeichnet, durch deren Verkauf beim Konzert unschuldige junge Menschen davon abgehalten werden, sich Schallplatten mit jugendgefährdendem Inhalt zu kaufen, z.B. das immer noch nicht indizierte Machwerk DEBIL. Denn wenn sie sich erstmal den rot-weißen Ärzte-Porsche (99000,- DM bei Lieferung bis ins Schlafzimmer) zugelegt haben, reicht ja das Taschengeld höchstens noch für den Anstecker zu 1,50 DM.

Den trägt auch stolz jener dem Fan-Alter entwachsene Herr, der beim Münchner Konzert in der Garderobe steht und keineswegs deplaziert wirkt. Stattdessen fachsimpelt er mit Sahnie übers Lampenfieber vor Auftritten: Herr Runge, seines Zeichens Fan und Vater des Ärzte-Bassisten. Er hat mit seiner Frau auf dem Weg in den Wintersport einen Abstecher nach München gemacht, um die Ärzte mal wieder live zu erleben, und das nicht aus falscher Koketterie, sondern ehrlichem Spaß. „Ich bin wohl der älteste Ärzte-Fan, in jeder Hinsicht“, lacht er.

Aber wir waren ja eigentlich bei den Piratenschiffen stehengeblieben. Auf jeden Fall haben die Mammis und Pappis inzwischen ihre Kleinen noch ein Stückchen näher an sich herangezogen; die Kellnerin hat auch schon längst die Nerven verloren – und nicht erst in dem Moment, als sie Bela ein Erfrischungstuch anbietet. Worauf jener die goldenen Worte findet:

„Nee danke, wir kennen jemand, der’n Waschbecken hat. „

Das Schlachtfeld wird schließlich geräumt, um sich nun voll und ganz der Frage zu widmen, wie man 11 Leute in einem Kleinbus verstaut, der nur für neun zugelassen ist. Ganz einlach, indem man zwei durch einen Schlitz im Dach verschwinden läßt. Da gibt’s nämlich noch eine improvisierte Schlafkabine. Dank der räumlichen Enge und der damit verbundenen intensiven Geruchsbildung empfiehlt sich der Aufenthalt allerdings nur dann, wenn das Sandmännchen schon gestreut hat.

Wie etwa nach dem Gig in München: Die TV-Live-Übertragung bot Grund genug zum Feiern – was denn auch hemmungslos getan wurde. Daß die Abfahrt nach Köln auf halb sieben am Morgen terminiert war, kann einen echten Arzt nicht erschüttern; lediglich Euer Reporter entzog sich der Verantwortung ins Bett.

So kann er denn auch nur bruchstückhaft den Verlauf der letzten Nacht rekonstruieren: Nach einem Essen, das noch in halbwegs geregelten Bahnen verlief, allgemeines Abtauchen in die Sümpfe der Münchner Großstadtnacht.

Aber wir waren ja eigentlich immer noch bei den Piratenschiffen. Eins gibt’s als Geschenk für Uli Weißbrod und Susanka Kocour von der Bravo. Die beiden hatten die Ärzte nämlich seinerzeit für das Teenie-Blatt „entdeckt“ und gehören seitdem fast schon zur Familie. Was nicht heißt, daß nicht noch eine kurze Fotosession vor dem Gig eingeschoben wird.

Wem die Pressebilder nicht reichen, macht sich seine eigenen. Nach dem Gig stürmen Pulks von Mädchen die Garderobe; ein Foto mit Farin, ein Küßchen von Sahnie. In Köln bietet ihm ein Mädchen zehn Mark für einen Kuß, in Hamburg fliegt ein BH auf die Bühne, Slips sollen neben Teddybären mit handgestrickten Ärzte-Pullovern auch schon gesichtet worden sein, irgendjemand erzählt was von einem gebrauchten Tampon – und Bela bekommt in den vier Tagen, die ich dabei bin, zwei Totenköpfe geschenkt – einen künstlichen und einen echten, mit Loch in der Schädeldecke.

Der schwarz gewandete Schlagzeuger genießt es sichtlich am meisten, Pop-Star zu sein oder zu spielen. Eine Unterscheidung läßt sich da kaum treffen. In dem Maße, wie sie sich über das Musikgeschäft, über Hype und Starrummel lustig machen, nutzen sie dieselben Mechanismen, um wirklich so berühmt zu werden, wie sie ständig vorgeben zu sein.

„Verrat! Verrat!“, wittern da so manche. Wie in Stuttgart die werte Kollegin von der alternativen taz, die gar im Interview die rote Sexismus-Karte aus dem Strumpfband zieht. „Außerdem wollte sie vor dem Konzert irgendein politisches Manifest verlesen. Aber hinterher hat sie gesagt, wir wären doch süß.“

Noch weniger Humor verstehen ein paar harte Punkts, wie sich bei dem Gig in Aachen herausstellt. Erst bekommt Bela eine volle Bierdose an die Stirn – und nachdem Sahnie einen besonders penetranten Spucker und Bierwerfer mit gezielten körperlichen Ermahnungen zur Räson gebracht hat, taucht dieser später wieder auf – mit Verstärkung in Form einer Pistole.

Zum Glück lassen sich weitere Eskalationen vermeiden, aber in weiser Voraussicht hat die Band vor der Tournee einen einmonatigen Intensivkurs in Sachen Selbstverteidigung absolviert.

Wenn die Emotionen auch hohe Wellen schlagen – in aller Regel bleiben die Ärzte-Konzerte eine friedliche Angelegenheit, wenn man von ein paar gequetschten Rippen und blauen Flecken absieht, die aber nicht durch gewollte Aggressionen verursacht werden. Es geht einfach hoch her. Auf der einen Seite sind da die kreischenden Teenies, auf der anderen die Pogotänzer – und alle zusammen bilden ein dichtes Knäuel vor der Bühne.

Im Kölner Luxor ist es so schlimm, daß die stählernen Absperrungen vor der Bühne unter dem Druck einfach abknicken, als wären’s Streichhölzer. Und doch ist es gerade hier, wo zarte Bande geknüpft werden: Ein Pärchen, das sich justament heute verlobt hat, steht in der ersten Reihe. Tja, früher gab’s Polterabend, heute geht man zu den Ärzten.

Ein Grund für Bela, Farin und Sahnie, den beiden ein Lied zu widmen. War’s das über Inzucht („Geschwisterliebe“) oder das über Sodomie („Claudia hat ’nen Schäferhund“)? Keine Ahnung mehr. Auf jeden Fall sind sich die drei ihrer sozialen Verantwortung bewußt, wenn zwei junge Herzen zueinanderfinden.

Bei Rockgruppen auf Tour sind’s ja sonst weniger die Herzen, die zueinander finden als vielmehr ….. und …… die ihren Spaß ineinander haben. Diese speziellen Formen der körperlichen Ertüchtigung werden in der Ärzteschaft mit einem ausgeklügelten Punktesystem bewertet. „Na, gepunktet heute nacht?“, heißt die obligatorische Frage am Frühstückstisch.

Auf vorsichtiges Nachfragen erfährt der Reporter, daß das Punktekonto allerdings eher schwindsüchtig aussieht – auch das eine Erfahrung auf dem Weg zum Popstar: Der Verkehr vollzieht sich meistens da, wo er hingehört: on the road.

Außerdem gibt es da die Freundinnen (tja, Mädels…), mit denen es im Ernstfall doch erbaulicher (und legal…) ist als mit irgendwelchen Fast-Noch-Kindern, die vor lauter Ehrfurcht verstummen, wenn sie ihren Idolen gegenüber stehen. Da beschränkt sich die Konversation auf so folgenschwere Statements wie: „Farin, darf ich mal ein Foto von dir machen? Aber ich weiß nicht, wie meine Kamera funktioniert.“

„Völljer Schwachsinn“, sollte man da meinen. Und das ist die stehende Redewendung überhaupt, taucht ständig auf, zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Das Hauptvokabular beschränkt sich ohnehin auf eine Handvoll griffiger Sätze, über die man nicht allzu lange grübeln muß. Wozu auch kaum Zeit ist. Denn entweder fehlt die Ruhe, oder alle sind so groggy, daß sie im Bus oder Hotel gleich feste ratzen.

Es ist die erste größere Tour, und aus Geldmangel kann man sich weder schnelle, komfortable Busse oder Flüge noch allzu teure Hotels leisten. Und das kostet Kraft, zumal der größte Teil der Tournee in den sibirischen Winter fällt. Was bei langen Fahrten bedeutet, daß man sich im Bus die Füße abfriert, während die Heizung oben eine infernalische Hitze verbreitet.

Sie haben sich gründlich vorbereitet auf dieses Unternehmen, denn hier galt es den Beweis anzutreten, daß sie ihren Ruf nicht nur auf Klamauk und Albernheiten bauen, sondern auch und vorrangig Musik machen können. Instrumental sind sie nach wie vor keine Weltmeister, aber deutlich gereift im letzten halben Jahr; und ihr dreistimmiger Gesang, den sie immer weiter ausbauen, kann sich inzwischen hören lassen.

Im Bus legen sie mal eine Cassette auf, und Claudia, die Managerin, von der oft eher Mutter-Qualitäten verlangt werden, fragt mich nach den ersten Takten gespannt: „Na, was meinst du, was das sein könnte?“ Daß es die Maxi-Version von „Zu spät“ ist, merke ich erst, als der Gesang kommt – eine perfekte Disco-Version, ganz auf eigenem Mist gewachsen, kein Produzent weit und breit. Da sind sie zu Recht stolz.

Live klingen sie natürlich immer noch viel „punkiger“, obwohl man sie kaum noch mit einer verkappten Punkband verwechseln kann. Worauf sie großen Wert legen.

Und sie kommen an beim Publikum. Überall sind die Clubs und kleinen Hallen zum Bersten voll, und viele Leute können die Lieder mitsingen, wissen, an welchen Stellen welche Reaktionen von ihnen erwartet werden, und, man glaubt es kaum, sogar Wunderkerzen werden hier und da schon gesichtet.

Am letzten Tag der Tournee sind wir in Frankfurt gelandet, nachdem wir einen weiteren Offday mit Autofahren und Schlafen hinter uns gebracht haben. Hier heißt es wieder: volles Programm. Zunächst ein Interview beim Hessischen Rundfunk, und zwar live. Händeringend schärft Claudia ihnen ein: „Benehmt euch anständig, keine Beleidigungen, keine obszönen Witze.“

In Frankfurt muß man einen guten Eindruck machen – die gesamte Plattenfirma CBS hat ihr Ohr am Radio. Die Geschichte vom BH in Hamburg muß Bela natürlich doch loswerden – und schon beschweren sich Hörer am Telefon, was die schwachsinnigen Texte sollten; man möge doch lieber Beatles-Songs spielen. Worauf Farin mal eben ein Zitat vom alten Fritz über den Äther schickt, nein, nicht Rau – Schiller!

Wer die drei als ungebildete Dummbeutel abgehackt hat, liegt völlig falsch. Irgendwann sitze ich mit Farin und Sahnie im Bus und unterhalte mich über mathematische Probleme (vor denen ich völlig kapituliere) und Latein und Frühgeschichte (das geht schon besser).

Ab zur Batschkapp, einer der angesagten Live-Läden in der Stadt. Auch hier wieder: ausverkauft! Der letzte Gig der Tour soll nochmal ein Höhepunkt sein. Leider wird es einer der schwächeren Auftritte. Die Verhältnisse, sie sind nicht so. Ein Punk wirft Sahnie eine volle Milchtüte an den Kopf, Belas Snare gibt den Geist auf, so daß sie das Konzert kurz unterbrechen müssen, die Leute kennen die Stücke nicht so gut wie in anderen Städten.

Für zwei Zugaben reicht es allemal, und nach kurzer Schmoll-Phase kehrt die gute Laune wieder zurück. Ein Erinnerungs-Foto mit allen, denn hier trennen sich die Wege. Während Bela, Farin, Sahnie, Claudia und Nopper nach Berlin fahren, treibt es Tourbegleiter Jäki wieder nach Hamburg. Dirk, der Mixer, Lui, der Lichtmixer und Dave, der Monitormixer, machen sich mit LKW und Anlage auf den Weg nach Münster und Frank, der Busfahrer, fährt mit mir in Richtung Ruhrgebiet.

Zum Schluß bekommt Jäki einen Riesenkorb mit Süßigkeiten – von einer Osterhasen-Frühgeburt über Pralinen bis zu diversen Kuchen fehlt keine süße Sünde. Endlich weiß ich, warum der Tourmanager auch „Praline“ gerufen wird.

Beim Rausgehen sagt er: „Schreib‘ bloß nicht so ’ne Geschichte mit ‚Zehn Uhr Frühstück, vier Uhr Soundcheck, acht Uhr Auftritt, zwei Uhr Schlafengehen‘!“ Ich versprech’s. Geht auch gar nicht. Hab‘ sowieso irgendwo zwischendurch meine Uhr verloren.

Und eigentlich wollte ich doch nur die Geschichte mit den Piratenschiffen bei McDonalds zu Ende schreiben. Aber das geht jetzt auch nicht mehr. Der Arzt kommt gerade rein und sagt, daß ich mich heute nicht mehr aufregen darf. Also: Ende!