Die Akte Jones


Seine Band tourt noch immer durch die Welt - derzeit sind die Rolling Stones wieder mal in Deutschland. Ihr Gründer aber, Brian Jones, starb am 3. Juli 1969 unter mysteriösen Umständen, Uwe schleifenbaum erzählt die Geschichte einer bis heute rätselhaften Nacht.

Vor dem Grabstein, an einem schlappen Blumenstrauß befestigt, liegt ein kleiner weißer Zettel, sorgsam eingepackt in Zellophan. „I am so sad that you are dead“, steht in blumiger Mädchenschrift daraufgeschrieben: „It makes me sick it was not Mick.“ Nicht sehr nett, aber Brian Jones hätte es vermutlich lustig gefunden. Er starb in der Nacht zum 3. Juli 1969. Begraben ist er in seiner Heimatstadt Cheltenham, und er ist kein gewöhnlicher Toter. Jones war nicht nur ein Rolling Stone, er war eine schillernde Persönlichkeit, Mädchenschwarm und Rollenmodell. Gelangweilt von Gitarre und Bluesharp spielte er für die Stones Piano, Orgel, Sitar, Dulcimer, Marimbaphon, Mellotron und manches mehr, was ihm kurzzeitigen Ruhm als Allroundgenie einbrachte. Schlagzeilen machten auch seine vier unehelichen Kinder, sein in jede Richtung aktives Sexualleben, seine Verschwendungssucht und nicht zuletzt sein exzessiver Drogenkonsum. „The Last Decadent“ nannte der Autor Jeremy Reed seine Jones-Biographie. Guter Titel. Das kurze Leben des Brian Jones, geboren am 28. Februar 1942, mag abenteuerlich gewesen sein. Sein Tod, knapp einen Monat nach seinem Rausschmiss bei den Rolling Stones, ist reichlich mysteriös. Gesichert ist, dass er im Pool seines Landhauses Cotchford Farm ertrank, einem stattlichen Anwesen aus dem 16. Jahrhundert, das einst dem „Winnie The Pooh“-Autor A.A. Milne gehörte. Auf dem Totenschein steht „Ertrinken unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol“, womit eigentlich alles gesagt sein könnte: Dass ein notorischer Trinker und Drogenfreak im Vollrausch absäuft, kann vorkommen. Natürlich kursierten sofort die wildesten Gerüchte. Wichtigtuer verbreiteten, Jones sei von Auftragskillern erledigt worden, auch von Drogenbossen war die Rede, denen er noch Geld schuldete. Ziemlich unwahrscheinlich.

Ein weiteres gruseliges Gerücht machte die Runde: Als die Pathologen Jones „aufmachten“, habe er „den Körper eines Siebzigjährigen“ gehabt. Das gerichtsmedizinische Gutachten liest sich anders: Pathologe Dr. Albert Sachs berichtete am 6. Juli 1969 lediglich von einer Fettleber, was nach Jones‘ jahrelangem Alkohol- und Drogenkonsum nicht weiter verwundert, letztendlich aber keinen Grund darstellt, mit 27 Jahren das Zeitliche zu segnen. Die Obduktion förderte weitere Fakten zutage: Jones starb mit 1,4 Promille Blutalkohol – für Abstinenzler vielleicht ein Problem, für einen routinierten Trinker hingegen kaum Besorgnis erregend. Spuren von Drogen wurden in seinem Blut nicht nachgewiesen, lediglich in seinem Urin. Der Forensiker Dr. Cyril H. Wecht, der 1994 den Fall Jones noch einmal untersuchte, wies daraufhin, dass Amphetamine, die bereits in der Blase angekommen sind, auf den Organismus keinerlei Effekt mehr hätten. Mit anderen Worten: Jones hatte ein, zwei Tage vor seinem Tod ein paar Pillen eingeworfen, am 2. Juli war er hingegen clean. Und plötzlich steht die offizielle Todesursache in ganz anderem Licht: Jones war weder besoffen noch mit Drogen voll gepumpt, als er in jener lauen Sommernacht in seinem Pool versank. Dennoch gaben sich die Behörden 1969 mit dieser Version zufrieden: Dass ein junger Drogenkonsument wie Jones -1968 wegen ein paar Gramm Hasch verurteilt – an illegalen Substanzen starb, schien auf der Hand zu liegen, an der Erkundung der genauen Hintergründe verspürten die Behörden kein gesteigertes Interesse. Wer jetzt Verrat und Konspiration wittert, täuscht sich: Es wurden keine Fakten aktiv verheimlicht, vielmehr begnügte man sich mit der einfachen Lösung.

Jones war nicht allein, als er starb. Er feierte – wie jeden Abend – eine kleine Party. Laut Protokoll waren drei weitere Personen anwesend: Brians schwedische Freundin Anna Wohlin, der Bauunternehmer Frank Thorogood sowie dessen Begleiterin Janet Lawson, eine ausgebildete Krankenschwester. Die Polizei nahm folgende Version zu Protokoll: Man habe getrunken und ferngesehen, als Jones gegen 22.00 Uhr vorschlug, gemeinsam im Pool zu baden. Lawson und Wohlin blieben im Haus, die beiden Männer gingen zum Pool und schwammen. Thorogood kehrte kurz zum Haus zurück, um eine Zigarette zu rauchen. Als er wenig später erneut an den Pool trat, fand er dort Jones‘ leblosen Körper auf dem Grund des Schwimmbeckens. Er rief Wohlin und Lawson, wobei Letztere Wiederbelebungsversuche unternahm. Erfolglos, denn als die zuvor alarmierte Ambulanz eintraf, war Jones bereits tot. So könnte es gewesen sein.

Doch warum vernahm Mary Hallet, Jones schräg gegenüber wohnende Hausverwalterin, zu jenem Zeitpunkt aufgeregte Schreie und anschließend den Lärm davonrasender Autos? Noch mysteriöser sind die Beobachtungen zweier Bekannter Jones‘ namens Nicholas Fitzgerald und Richard Cadbury, die gegen 23.00 Uhr in der Cotchford Farm eintrafen: Auf der Zufahrt stand ein leerer Wagen mit laufendem Motor und eingeschalteten Scheinwerfern, ansonsten war kein Geräusch zu hören. War die Party bereits vorbei? Fitzgerald und Cadbury spürten, dass etwas nicht in Ordnung sein musste und pirschten sich an den Garten heran. Hinter einer Hecke kauernd wollen sie gesehen haben, wie drei Männer einen vierten immer wieder im Pool untertauchten. Plötzlich stand ein weiterer ihnen unbekannter – Mann direkt neben Fitzgerald und Cadbury: „Verpisst euch, oder ihr seid die Nächsten.“ Die beiden flüchteten panisch, sprangen in ihren Wagen und rasten davon.

Warum schwiegen Fitzgerald und Cadbury all die Jahre? Warum hielt sich Mrs. Hallet bedeckt? Warum flüchtete Anna Wohlin wenige Tage nach Brian Jones‘ Tod nach Schweden? Weil sie allesamt Angst hatten? Das berichteten zumindest die Autoren Geoffrey Giuliano und Terry Rawlings, deren Enthüllungsstories Mitte der neunziger Jahre in England für Furore sorgten. Rawlings präsentierte in „Who Killed Christopher Robin?“ gar ein spektakuläres Geständnis. Am 7. November 1993 ließ Frank Thorogood seinen Freund und ehemaligen Stones-Mitarbeiter Tom Keylock an sein Krankenbett rufen: Thorogood, den Tod vor Augen, wollte sein Gewissen erleichtern, als er gegenüber Keylock zugab, Jones ermordet zu haben. Keylock solle damit erst nach Thorogoods Tod an die Öffentlichkeit gehen, was dieser problemlos einhalten konnte: Wenige Stunden nach dem Gespräch verstarb Frank Thorogood.

Wer war dieser Mann? Als Bauunternehmer war er seit Mitte der Sechziger für die Privathäuser der Rolling Stones zuständig, auf Anraten Keith Richards‘ kümmerte er sich ab Ende 1968 auch um Brian Jones‘ Anwesen. Nur: Thorogood und seine angeheuerten Kumpels betrogen den deran gierten Jones nach Strich und Faden – viel Geld, wenig Arbeit, dazu machten sie sich in der Farm breit, vernaschten Groupies in seinem Schlafzimmer und ließen Klamotten und Instrumente mitgehen. Jones ließ sie zunächst gewähren, doch im Sommer 1969 hatte er allmählich genug. Der Rausschmiss war nur eine Frage der Zeit – und des Mutes, den Jones aufzubringen hatte. Thorogood war ein harter Brocken mit Verbindungen zur Halbwelt, kein Typ, den man mal eben vor die Tür setzt.

Wer waren die Mittäter? Und wo lag das Motiv? Während Giuliano für sein Buch „Paint It Black“ recherchierte, meldete sich bei ihm ein Mann namens Joe – ein Volltreffer: Joe, der seinen wahren Namen nicht preisgab, war einer der drei Männer am Pool. Auch ihn drückte das schlechte Gewissen, weshalb er jetzt reinen Tisch machen wollte. An seiner Glaubwürdigkeit bestand kaum ein Zweifel, seine Detailkenntnisse waren überzeugend. Joe berichtete, man habe Jones für einen reichen Wichser gehalten, der in tuntigen Klamotten durchs Haus stolzierte und ständig mit irgendwelchen Mädels rummachte. Also schien es nur gerecht, ihn zu beklauen, seinen Brandy zu saufen und ihm ständig Geld für „dringend notwendige“ Anschaffungen rauszuleiern. An besagtem Abend saß man gemeinsam am Pool, als Jones damit angab, problemlos zwei Bahnen tauchen zu können – und unter reger Anteilnahme der weiblichen Partygäste sogleich zur Tat schritt. Thorogood, Joe und seine sturzbetrunkenen Kumpels wollten ihm einen Dämpfer verpassen:

„Mal sehen, wie lange du tatsächlich unter Wasser bleiben kannst. „Die Situation eskalierte, die Mädels schrien hysterisch, und was als „kleiner Dämpfer“ gedacht war, endete mit einer Leiche: Jones sank auf den Grund, Joe und seine Kumpels ergriffen die Flucht, während Thorogood eine Geschichte für die Polizei vorbereitete und allen Anwesenden einschärfte, dass Verräter nicht lange zu leben hätten. Ein ganz gewöhnlicher Totschlag also. Thorogood lebt nicht mehr, Janet Lawson hielt dicht, Anna Wohlin, die lange Zeit als verstorben galt, meldete sich erst 1999 zu Wort. Und möglicherweie laufen ein paar Typen, die vor 34 Jahren einen jungen Mann wie eine Ratte ersäuften, noch immer frei herum.