Die Ein-Mann-Lobby


Furchtlose ME-Autoren verteidigen ihre peinlichsten Lieblingsplatten gegen die Restwelt.

Peinlich, also eigentlich schmerzhaft, werden Freundinnen wie Platten erst Jahre später, wenn Gras über die Sache gewachsen ist. Irgendwann legen wir die Platte nicht mehr auf und rufen die Freundin nicht mehr an. Erst rückblickend verfluchen wir die fiebrigen Freuden, die uns das inzwischen Abgeschmackte damals geschenkt hat. Offenbar hat sich die Schmerzgrenze verschoben. Heute verursacht jedem echten Musikfreund allein die Erwähnung des Namens Marillion Brechreiz, der Anblick des verschnörkelten Schriftzuges lässt jedes ästhetisch geschulte Auge rollen. Mit Marillion darf ich niemandem kommen. Ich will gar nicht erst spekulieren, welchem meiner fiebrig-pubertären Bedürfnisse dieses Album damals entgegenkam. Nur so viel: Der Sänger war ein Fettwanst, genau wie ich. Und ein Titel wie „Script For A Jester’s Tear“ spricht für sich und gegen mich. Die Musik? Eigentlich harter Rock, aber Lichtjahre entfernt vom angesagten Punk oder Wave dieser Tage. Hier gab’s theatralische Spannung und kathartische Auflösung, dramatische Rhythmuswechsel und monumentale Melodiebögen, eiskalte E-Gitarrensoli und Keyboardflächen mit Fußbodenheizung. Kaum ein Song unter acht Minuten. Und Texte so kryptisch, dass ich mir erst ein englisches Wörterbuch anschaffte. Und dann ein Fremdwörterlexikon. Ich fand das anspruchsvoll, trug Marillion-T-Shirts und schminkte mir auf Konzerten das Gesicht. Der Einzige, der mich hätte aufhalten können, wäre ein älterer Bruder gewesen – aber der war ich ja schon selbst. Das eigentliche Stilproblem: Eben erst waren kapriziöse Dinosaurier wie Genesis, Pink Floyd oder Yes endlich von der Bildfläche verschwunden, war unter gewaltigem Getöse ein ganzer aufgeblasener Musikstil zusammengebrochen – da tauchten aus den Trümmern die Narren von Marillion auf und machten einfach weiter. Ein bonbonbuntes Rettungsboot im Fahrwasser soeben versunkener Schlachtschiffe, „overdosed on sentiments and pride“. Pathetisch und peinlich bis zur Schmerzgrenze und kitschig bis weit darüber hinaus – von ihrem späteren Welthit „Kayleigh“ ganz zu schweigen. Und es ist nicht einmal eine Entschuldigung, wenn Bands wie Coldplay oder Radiohead heute bisweilen wie ein fernes Echo von Marillion klingen – die Schmerzgrenzen verschieben sich halt. Manch mal, wenn die Luft rein ist, dann übertrete ich sie noch heute gerne. Vorteil: Ich habe genug verwaschene T-Shirts mit bescheuerten Motiven, um mich am Schlagbaum ausweisen zu können.

Arno Frank über Marillions „Script For A Jester’s Tear“ (1983)