Die Energie der Lügen


Sie sind die wichtigste Postpunk-Band, so wichtig, dass ihr Spätwerk eigentlich nur blass aussehen kann. Doch Gang of four begeistern mit gewohntem Zynismus.

Wer etwas über Gang Of Four erfahren möchte, der sollte sich eines der besten Bücher über Popmusik zulegen: „Lipstick Traces“ von Greil Marcus. In dem spielen Gang Of Four und vor allem ihre Songs „Return The Gift“ und „At Home He’s A Tourist“ eine wichtige Rolle. Und er sollte den Song „Damaged Goods“ auf Repeat hören. Auf die tolle Zeile „Sometimes I’m thinking that I love you but I know it’s only lust“ in Verbindung mit dem treibenden Maschinengewehr-Schlagzeug, kann man auch heute nur auf drei Arten reagieren: Man weint, man verspürt die Lust, wahllos einem Fremden in die Fresse zu hauen, oder man identifiziert sich mit der Tragik von Leben und Liebe in Zeiten der spätkapitalistischen Industriegesellschaft, die Sänger Andy Gill so knapp, schonungslos und zynisch auf den Punkt bringt, dass es einem Angst machen kann.

Nazi-Schläger, Workingclass-Prolls und Kunsthochschul-Studenten – in diesem Milieu entstand 1977 in Leeds die vielleicht wichtigste Postpunk-Band: Gang Of Four haben auf ihren ersten Alben Entertainment! und Solid so kaltschnäuzige Musik verpackt, dass es eigentlich schon damals für Jahrzehnte reichen konnte. Doch der Übergang von der Endsiebziger-Postpunk-Welt in die Kunst-Pop-Welt der Achtziger gelingt ihnen nicht. Mit „I Love A Man In Uniform“ landen sie 1982 zwar noch mal einen Clubhit, aber auf Albumlänge klingt ihre Musik immer kraft- und zielloser. Während aus Geistesverwandten wie Joy Division die Stadion-Popper New Order werden, lösen die verbliebenen Mitglieder die Band 1983 auf. Andy Gill wird ein erfolgreicher Produzent (Killing Joke, The Stranglers, Red Hot Chili Peppers) und der ehemals linksradikale Situationismus-Sympathisant Jon King schreibt Filmmusik und geht in die Werbung.

Als sich Gill und King 1995 dann wieder zusammenraufen und das Album Shrinkwrapped aufnehmen, will ihnen inmitten der großen Britpop-Welle der Neunziger niemand so recht zuhören. Und auch das neue Album Content ist über weite Strecken wenig inspirierend. Jon King gelingt es zwar inhaltlich, wie in alten Zeiten mit kaltem Blick eine zynische Gegenwart zu sezieren (Guantanamo, Genetik, Narzissmus des Social Networking Zeitalters) aber musikalisch verirrt sich die Band oft in einem wabernden Progrock-Nebel.

Die entscheidende Erkenntnis von Gang Of Four und dem Song „Damaged Goods“ im Besonderen aber ist: Alles um dich herum ist Fake, Lüge. Das ist eine ziemlich erschütternde, gleichsam zeitlose Wahrheit. Aber wenn man die Energie, die sie freisetzt, nutzen kann wie Gang Of Four es getan haben, dann kann sie ziemlich geil klingen. Gestern wie heute.

Albumkritik ME 2/11