Die Entdeckung der Langsamkeit
Der große Vulkanausbruch ist im Untergrund 1996 ausgeblieben. Aber es hat ein wenig rumort – musikalische Strömungen, die seit einigen Jahren schon am brodeln sind, haben zu leichten Beben geführt, will heißen, sind einem (relativ) größeren Publikum bekannt geworden. Wie etwa der Sto-Motion-Folk. Seit Jahren mühen sich Bands wie die Red House Painters aus San Francisco mit atmosphärischer Zeitlupenmusik ab, und erst 1996 entdeckt der Untergrund eine Musik, in der der Faktor Zeit die große Rolle spielt. „Zeit kann schon etwas seltsames sein, wenn Du scheiße damit umgehst. Ich könnte mit der Zeit ewig experimentieren und würde sie wahrscheinlich nie verstehen“, meint Alan Sparhawk, Sänger und Gitarrist von Low. Das Trio aus Minnesota steht exemplarisch für eine neue Garde von Bands, die die Langsamkeit für sich entdeckt hat und deren kleinster gemeinsamer Nenner (neben dem Herkunftsland USA) ultraschleichende Songs sind. Bei Low wird die Stille zum essentiellen Bestandteil der Musik, die Pause zum Stilmittel. Ebenso bei Will Oldham, der als Palace (Brothers) auf seinem Album ‚Arise Therefore‘ den Minimalismus durch den denkbar sparsamsten Einsatz von Gitarre, Piano, Bass und Drum-Machine an seine Grenzen treibt. Oder die anderen „Brüder“ aus L.A., die Radar Bros, um den ehemaligen Maids Of Gravity-Gitarristen )im Putnam, die atmosphärischen Zeitlupen-Folk der Pink Floyd ‚Atom Heart Mother‘-Phase spielen.
Intelligenter Rock ist (fast) tot. Lediglich von einigen wenigen Bands wird das Genre am Leben gehalten. Paradebeispiel: Girls Against Boys aus Chicago, die von der Gilde der Major-Labels heftig umworben wurde und schließlich im nächsten Jahr von Geffen zum Traualtar geführt werden wird. Mit Zutaten aus Trash, Funk und der Tonbandschleife zeigen sie dem Gitarren-Rock neue Wege auf.
Was kommt nach dem Rock? Der „Bronfe“ mit Bands wie Tortoise, The Sea And Cake, New Wet Kojak oder Gastr Del Sol. Die Chicago Connection läutet das Post-Rock-Zeitalter ein. Alle mit einer anderen Herangehensweise, Tortoise und The Sea And Cake mit perkussiven Improvisationen, New Wet Kojak mit Free Jazz-Elementen und Gastr Del Sol als die intellektuellste Alternative, bei der sich Karlheinz Stockhausen, György Ligeti und Neu! die Hand geben. Vor allem den Tönen von Tortoise und Gastr Del Sols hört man an, daß sie vom guten, alten Krautrock beeinflußt sind.
Und da mag es kein Zufall sein, daß eine sagenumwobene Krautrock-Band 1996 nach 23 Jahren wieder mit einem Studioalbum überraschte: Faust, Werner Diermaier, Jean-Herve Perin und Hans Joachim Irmler, schickten den Hörer auf einen atemberaubenden, experimentellen Trip mit hypnotisch, meditativen, perkussiven Klängen. Daß auch im Falle Faust der Prophet im eigenen Land nichts zählt – umso mehr in den USA und in England – ist schade, aber nicht zu ändern. Kraut-Rock, Slo-Mo-Folk, Bronfe.
Genug der Schubladen. Denn manche Bands wollen partout in keine passen. Es gibt wohl kaum einen Ort, an dem die Stile mehr und schöner blühen als in der Verborgenheit des Untergrunds. Bestes Beispiel: Soul Coughing aus New York, die mit Rock-Rap-Funk-HipHop-Soul-)azz das Wort eklektisch erst mit Leben füllen, Jon Spencer, der mit seiner Blues Explosion den Blues durch den Fleischwolf dreht, oder die deutschen Sharon Stoned, die Ami-LoFi-Schrammelrock in gekonnter Manier mit Billigsynthies aufpoppen.