Die Erfindung der 90er Jahre


Der Rock ist tot. Wieder einmal. Crazy Menschen in Bundfaltenhosen aus Flanell, mit weißen Hüten auf dem Kopf und komischen Frisuren, die noch komischere Sounds aus ihren Synthesizern hervorholen, haben die Macht übernommen. Es ist das Ende der handgemachten Musik, wie wir sie kennen. Hach, was ist das für eine schlimme Zeit! Wir stecken mitten drin in den achtziger Jahren. Wir interessieren uns für Musik, für gute, wahre, schöne Musik, und jetzt sowas. Wir haben nur eine Wahl: Wir lassen unser Hobby ruhen und kümmern uns für den Rest dieses schrecklichen Jahrzehnts um ganz andere Dinge, die Pflege des Kleingartens zum Beispiel, um dann pünktlich zum i. Januar 1990 in eine runderneuerte Musikwelt einzutreten, in der die Haare wieder lang, die Gitarren wieder laut, der Rock wieder Rock ist.

Das Märchen von den bösen 80er Jahren – zum Erbrechen bis heute immer wieder von Alt-und Neo-Hippies kolportiertist ganz großer Quatsch. In Wirklichkeit waren die 80er eine der fruchtbarsten Perioden der Musikgeschichte. In der ersten Hälfte des Jahrzehnts, der Zeit nach der Blüte der „New Wave“, scheint alles möglich und wird vieles möglich gemacht. Bands wie Pere Ubu aus Cleveland, Ohio, und This Heat aus London zeigen mit dem Mut zum Experiment, dass Musik in der Post-Punk-Ära (wieder) aus mehr als drei Akkorden bestehen kann. Andere, wie Hüsker Du, die Minutemen und Flipper (bei denen kurzzeitig Moby Mitglied ist) bleiben bei den drei Akkorden, aber sie treiben die Ideale des Punk auf die Spitze: noch lauter, noch härter, noch schneller wird die Musik, die jetzt Hardcore(-Punk) genannt wird.

Wie sich später erweist, stellen die frühen 80er Jahre lediglich eine Phase des Übergangs dar, in der alte Strukturen eingerissen werden, damit Neues entstehen kann. Die Zeit ist reif für einen Wechsel. Und der kündigt sich 1987 an allen Ecken und Enden der Pop-Welt an. Zufall, dass Steve Albiiis Big Black in jenem Jahr mit SONGS ABOUT FUCKING ihr letztes Album abliefern? Nein, Hardcore ist tot. Aus seinem Grab entsteigen Dinosaur (Jr.) mit ihrem zweiten Album YOu’re living all Over ME, das dem Post-Hardcore das gibt, was er vorher nie hatte: Pop-Melodien zum Brachialsound. Nur kommen Dinosaur Jr. ein paar Jahre zu früh. Die Musik, die sie „erfinden“, wird wenig später von Bands wie Nirvana, Pearl Jam, Mudhoney und Soundgarden popularisiert und mit dem eher unschönen Etikett „Grunge“ versehen.

Bevor sich Hüsker Du Ende 1987 auflösen, empfehlen sich die Hardcore-Pioniere aus Minneapolis schnell noch mit einem Meisterwerk. Die Doppel-LP WAREhouse: SONGS AND STORIES ist das verkappte Prog-Rock-Album der 80er Jahre. Das finale Werk des Trios klingt weniger eindimensional als die frühen Platten, gibt buntschillernd Konzessionen an den Pop, ohne dass die Hörer gleich „Verrat!“ rufen müssen – was sie natürlich trotzdem tun. Etwa zur selben Zeit kommt eine Band aus Athens, Georgia, – sieben Jahre nach ihrer Gründung- erstmals in Berührung mit den Top 10 der amerikanischen Album-Charts. R.E.M. re-definieren mit ihrem Album DOCUMENTnichtnur den eigenen Sound der folgenden Jahre, sondern auch den College-Rock des nächsten Jahrzehnts.

Im Mainstream ist derweil eine neue Ambitioniertheit das ganz große Ding. Prince veröffentlicht sein Meisterwerk »

»sign’o’the TIMES (ein vor Eklektizismus strotzendes Doppelalbum), The Cure malen mit kiss me kiss me kiss me (natürlich auch ein Doppelalbum) ein in allen Regenbogen färben schillerndes Bild von einem Pop-Album. Und U2 veröffentlichen die Platte (kein Doppelalbum), die als ihre beste gilt: THE joshua tree katapultiert die Band endgültig in den Gigastar-Mainstream-Himmel – und in die großen Stadien. Dort beweist eine andere Band, wie man als billige Kopie der Rolling Stories mit klischeebeladenem, altbackenen Hard Rock die Nummer eins der Billboard-Charts und in der Folge eine der größten Bands der Welt werden kann: Guns N‘ Roses.

Während „Frontmann“ Axl. W. Rose an einer neuen Rockstarästhetik arbeitet, bei der Radlerhosen, Bandanas und ungewaschene Haare eine nicht unwesentliche Rolle spielen, bahnt sich quasi unter Ausschluss der restlichen Welt eine musikalische Revolution an. Im „Warehouse“, einem alten Lagerhaus in Chicago, und der „Paradise Garage“, einer ehemaligen New Yorker LKW-Werkstatt, nehmen die beiden Resident-DJs Frankie Knuckles und Larry Levan der Disco-Musik den Pop-Faktor und erfinden das House-Genre. Levan und Knuckles gelten als Prototypen der zeitgenössischen House-DJs, weil sie bereits damals nicht nur als Plattenaufleger, sondern auch als Produzenten und Remixer tätig sind.

Im August 1987, ein paar Wochen bevor die New Yorker „Paradise Garage“ nach einer legendären, zweitägigen Nbn-Stop-Party mit insgesamt 14.000 Besuchern geschlossen wird, feiert der britische DJ Paul Oakenfold seinen 24. Geburtstag auf der Techno-Hippie-Insel Ibiza. Dort hört er zum ersten Mal die neue Musik aus den USA. Nachdem er nach England zurückgekehrt ist, „fixt“ er bei zahlreichen Club-Nächten seine Landsleute mit House und Acid-House an. Ein Jahr später, im zweiten „Summer Of Love“, bricht die Ecstasygetränkte Acid-House-Revolution in Europa aus. Die Situation ist vergleichbar mit der beim Punk ein Jahrzehnt früher: eine Musik, die in den USA enstanden ist, wird von Engländern adaptiert, popularisiert und kommerzialisiert. Acts wie 808 State und A Guy Called Gerald schöpfen den Rahm ab, der Leuten wie Larry Levan, Frankie Knuckles und Blake Baxter bereits 1987 zugestanden hätte – dem Jahr, in dem die neunziger Jahre erfunden wurden, auch wenn es damals keiner mitbekommen hat. «