Die Geburt des Punk


30 Jahre ist es her, dass in New York eine Band ihr Bühnen- debüt gab, die an allem schuld gewesen sein soll, was sich danach auf denn Gebiet der Rockmusik getan hat -von Punk überGrunge bis Metal und zurück: Die New York Dolls.

, Michael Sailer Aprili972: Fieberhaft bereiten sich fünf Teenager mit alles andere als militärischem Kopfbewuchs auf ihren ersten l Auftritt im MercerArts Center vor. Die Band ist in ihrer jetzigen Besetzung fast zwei Monate zusammen, da wird es höchste Zeit, ihren Plan in die Tat umzusetzen: inmitten der Rock’n‘ Roll-Wüste New York wie eine Bombe aus Mascara, Glitter und Sex explodieren, die Stadt auf den Kopf stellen und selbst Superstars werden. Zwei oder drei Gigs haben sie schon hinter sich, der erste fand zu Weihnachten 1971 im Endicott Hotel statt, einer Obdachlosenunterkunft gegenüber dem Proberaum der Band, der wiederum eigentlich ein Fahrradladen zwischen Columbus Avenue und 82nd Street in Manhattan ist. Tagsüber verkauft darin ein Freak namens Rusty seine Drahtesel, abends sperrt er die Band im Hinterzimmer ein, die sich dann die Nacht mit Wodka, Haschisch und einem wachsenden Set von R’n’B -Covers nebst eigenen Nummern um die Ohren schlägt, bis Rusty morgens wieder aufschließt. DaSS es eine hÖChSt eigenartige, bizarre und enorm wichtige Sache werden würde, war den meisten vorher klar, aber niemand konnte ahnen, wie bizarr, wie eigenartig und vor allem wie wichtig für die Zukunft der gesamten Popmusik jener Abend im April 1972 tatsächlich sein würde, als die fünf Typen erstmals die Bühne im „Oscar Wilde Room des Mercer Ans Center betreten – bis an die Grenze der Lächerlichkeit maskiert und geschminkt, auf ellenhohen Absätzen und mit Frisuren, gegen die Rod Stewarts Ananas-Gefieder wie der Kopfputz eines biederen Bankangestellten wirkt. Das Center ist ein Treibhaus für derartige Gestalten – einen Block vom Broadway entfernt, liegt es direkt neben dem verfallenden Broadway Central Hotel und besteht aus einer ganzen Reihe von leer stehenden Bühnenräumen und Galerien jeder Größenordnung, die der theaterverliebte Klimaanlagen-Mogul Art Kaback nach Autoren wie Oscar Wilde und Bernhard Shaw benannt und in eine Art kreatives Labyrinth im Clockwork-Orange-Stil verwandelt hat. Viel ist dort aber nicht los, und da Kaback Millionen in den Bau investiert hat, ist Hausagent Mark Lewis auf der verzweifelten Suche nach Attraktionen an die New York Dolls geraten.

Hier Sind Sie: Arthur Haroid Kane, schüchterner Nachkomme irischer Einwanderer aus der Bronx, der sich seit dem Tod seiner Mutter vom Schulstreber zum dauerbedröhnten Rumtreiberund LSD-Surfer gewandelt hat, am Bass, den er auf höchst eigenwillige Weise bedient: „Er kann nicht gleichzeitig atmen und spielen, also holt er tief Luft, spielt viele Noten, schnauft wieder und fängt wieder an zu spielen“, erzählt sein Sänger. Der heißt David Johansen, hat eine irische Mutter und einen norwegischen Vater, sieht aus wie eine Kreuzung aus Simone Signoret, Mick Jagger und einem Zollstock zum Zusammenklappen und erzählt gerne viel: Seine Vergangenheit als Pornodarsteller, von der er Journalisten wissen lässt, hat er sich größtenteils zusammengeschwindelt. Immerhin kann Johansen tatsächlich mit einer Verbindung zum Warhol-Clan und kleineren Underground-Rollen aufwarten. Der Nächste: Gitarrist Sylvain Sylvain, der eigentlich Mizrahi heißt und nach der Suez-Kanal-Krise 1956 mit seiner jüdischen Familie aus Ägypten über Paris nach New York geflohen ist, wo er im Stadtteil Queens aufgrund mangelnder Englischkenntnisse („Das Erste, was ich lernte, war.Fuckyou! ‚“) als Außenseiter aufgewachsen ist. Sein einziger echter Kindheitsfreund heißt Billy Murcia, ebenfalls ein Flüchtling. Dessen Vater hatte sich in der Heimat Bogota in Kolumbien in der Wahl seiner Geschäftspartner vertan und musste über Nacht verduften. Billy und Sylvain, die aussehen wie zweieiige Drillingsbrüder von Marc Bolan, gründeten 1969 die Modefirma Truth and Soul, verkauften sie dann an einen großen Strickwarenhersteller und reisten mit dem erlösten Geld durch Europa. Sylvain. war der letzte Neuzugang: Zwar kannte er den Rest der Band (außer Johansen) schon aus Schulzeiten, kam aber erst nach dem ersten Auftritt aus Europa zurück, war entsetzt über den Bandnamen (weil er selber eine Band gründen und New York Dolls nennen wollte) und nahm schließlich Ende Januar den Platz von Arthurs Kumpel Rick Rivets ein. Dann ist da noch Gitarrist und Haupt-Songwriter Johnny Genzale, einst fanatischer Baseballspieler, dessen Traum von einer Profikarriere bei den Philadelphia Phillies daran scheiterte, dass sein italoamerikanischer Papagallo von einem Vater unanständigerweise nicht mehr zu Hause wohnte. Johnny war für ein paar Sekunden im Stones-Film „Gimme Shelter“ zu sehen, nennt sich neuerdings Thunders,

lässt in von seiner Mama umgeschneiderten Damenklamotten die Konkurrenz erbleichen (Arthur: „Johnny war das absolut Coolste, was damals in ganz New York rumlief) und trägt den größten Berg schwarzer Haare spazieren, den die Welt je gesehen hat. Ansonsten ist er bezaubernd arrogant, fast so schüchtern wie Arthur und für Freunde der warmherzigste Kumpel, den man sich denken kann.

„Johansen ist ein höchst intelligenter Bursche, Sylvain ist wirklich bezaubernd und clever, die anderen sind auf ihre Art sehrnett, aber wenn man sie zusammenbringt, mit Alkohol mischt und schüttelt, hatman eine rücksichtslose, verbohrte, bösartige und total desorganisierte Gang von New Yorker Hooligans“, schrieb Anfang 1974 ein französischer Label-Mitarbeiter an seine Firma. Da nähert sich die Karriere der Band bereits ihrem erbärmlichen und traurigen Ende; im Frühjahr 1972 indes kann sich kein Mensch in New York dem Charme der fünf begnadeten Dilettanten entziehen. Sie sind jung, sehen umwerfend aus, ihr Humor ist ebenso unwiderstehlich wie ihre Partylaune, und dazu schreiben sie die lautesten, primitiv-genialsten Rock’n’Roll-Randale-Hymnen, die man sich vorstellen kann – garniert mit einem Hauch Sixties-Girlgroup-Flair und Texten, die Alltagsgeschichten, Teenager-Verzweiflung und ätzend politische Kommentare über ein Amerika im totalen Krieg gegen Vietnam zu einem verblüffend wirksamen und brisanten Cocktail kombinieren. Jeder Song der New York Dolls ist ein Instant-Evergreen, überschäumend vor Botschaft und Selbstbewußtsein. Bis heute haben Stücke wie „Human Being“ oder „Trash“ nichts von ihrer Wirksamkeit als authentische Stimme der Großstadtstraßen verloren.

Als die New York Dolls im April 1972 im randvollen Mirror Room des Mercer Arts Center mit der Hymne „Personality Crisis“ ihr Set eröffnen, fühlt sich der spätere Starphotograph Bob Gruen „wie in einem Fellini-Film, mit demganzen Gefolge umdie Musiker herum, diein der Mitte standen.Wer zur Band gehörte und wer nicht, war schwer zu sagen. Es war ein unglaubliches Chaos und mit das Aufregendste, was ich je gesehen habe.“ David Johansen erinnert sich später: „Damals im Mercer Arts Center kam alles zusammen. Wir waren bloß Support für die Magic Tramps, aber wir waren so gut, dass die Tramps danach von der Bühne gebuht wurden, also spielten wir auch noch als Hauptact.“

Die Band wusste, was sie tat und ahnte nicht, was sie auslöste. Mark Lewis buchte sie sofort wieder, diesmal für den größeren Oscar Wilde Room; und dann wieder und wieder, und schließlich spielten sie ab Mitte Juni ’72 siebzehn Wochen lang hintereinander jeden Dienstag vor ausverkauftem Haus. Dann kam Manager Marty „Mighty“ Thau, dann kam der Plattenvertrag, und der Wahnsinn ging richtig los. Die Stadt war nicht mehr dieselbe: An jeder Ecke sprossen neue Bands aus dem Beton-Boden, die mal mehr, mal weniger wie die New York Dolls aussahen und klangen. Truppen wie Teenage Lust, The Miamis, Ruby and The Rednecks, Wayne County’s Queen Elizabeth, Blondie, die Ramones und die gänzlich abgedrehten Suicide fanden bald ebenfalls Platz im Center und den vielen neuen Clubs – und dann waren da noch die neuen Übungsraumnachbarn der Dolls: eine biedere Cowboy-Band in Blue Jeans, deren Schlagzeuger Peter Criss das Trommein bei Billy Murcia gelernt hatte. Die maskierten sich nun als Monstren und nannten sich Kiss.

Das Heer der Leute, die im April 1972 dabei gewesen sein wollen, ist so groß, dass man vermuten könnte, das Mercer Arts Center sei in Wirklichkeit ein Fußballstadion gewesen; aber unbestreitbar sind der Einfluss, den die New York Dolls auf die kommende Musikergeneration hatten, und das Ansehen, das sie unter zeitgenössischen Kollegen genossen: Die Rolling Stones warfen sich nach einer Nacht im Center und einigen wilden Partys mit den Dolls plötzlich in Glitzerklamotten und grölten „It’s Only Rock’n’Roll“, später reiste ihnen Mick Jagger mit dem Flugzeug hinterher und wollte sie für das Stones-Label gewinnen. David Bowie zog ein paar Nächte mit ihnen durch die Stadt (Sylvain: „Erfragte uns dauernd aus: ,Wie kriegt ihr die Haare so hin ? Wo habt ihr die Schuhe her?'“), bekam es dann aber mit der Angst zu tun, als er in die Abgründe der Bowery geschleppt und Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen Johansen und einem Lastwagenfahrer wurde (Johansen: „Der Kerl rief mir nach: ,He Alte, lass mich deine Muschi lecken!‘, Bowies Knie flatterten, er sagte: .Bitte, David, tu nichts, provozier ihn nicht, bitte!‘, und ich brüllte: ,Los, du Drecksau, komm raus aus deinem blöden Laster!‘ “ – Bowies Song „Watch That Man“ erzählt die Geschichte). Elton John war ebenso begeistert von den Dolls wie Rod Stewart und Alice Cooper, Marc Bolan ergrünte vor Neid, Lou Reed sah sie mehrfach, fand sie „sehr niedlich“ *¿>

und ließ sie dann aus seinem Vorprogramm werfen, weil er Angst vor Konkurrenz hatte; praktisch jede neue New Yorker Band orientierte sich von 1974 bis ’77 in irgendeiner Weise am Vorbild zumeist unter Umgehung der desaströsen Begleitumstände. Und auch in England schlug die Truppe Wellen: Szene-Guru Malcolm McLaren versuchte, Sylvain Sylvain für die von ihm gemanagten Sex Pistols zu gewinnen; sein Brief, in dem er Johanson niedermachte und Syl die weiße Gibson anbot, die Steve Jones dann spielte, liegt heute im New Yorker Rock’n’Roll-Museum. Müssen wir noch die Strokes erwähnen, die von jedem zweiten Kritiker mit den New York Dolls verglichen werden?

Obwohl alles gerade erst begann, ging es von da an abwärts – in einem irrwitzigen Spiralflug. Für einige der Beteiligten endete er in der Hölle. Schlagzeuger Bill Murcia war das erste Opfer; er erstickte in den Morgenstunden des 7. November 1972 während des ersten London-Trips der Band nach einer Überdosis Champagner und Mandrax an schwarzem Kaffee, den ihm ein Mädchen einflößte, um ihn wieder zu beleben. Murcia war 19. Doppelt so alt wurde Johnny Thunders, der am 23. April 1991 nach einer jahrzehntelangen Karriere als tragisches role model des Rock’n’Roll-Junkies in einem Hotelzimmer in New Orleans starb; die Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt. Ein Teil des Polizeiberichts bleibt ebenso verschollen wie Johnnys Pass, Geld und persönliche Habe. Bei der Obduktion wurde angeblich festgestellt, dass Thunders an Leukämie litt und nur noch sechs Wochen zu leben gehabt hätte. Murcias Nachfolger Jerry Nolan, der Johnny auch nach den New York Dolls als Drummer, Mit-Junkie und Seelenbruder treu blieb, folgte ihm kaum ein Jahr später; am 14. Januar 1992. Beide sind auf auf dem Friedhof St. Mary im New Yorker Stadtteil Flushing begraben. Arthur Harold Kane, schon zu Anfangszeiten eine Schnapsflasche auf zwei Beinen (Johansen: „Die einzige lebende Statue im Rock’n ‚Roll“) und erst in den 9oern endlich trockengelegt, fiel 1989 aus einem Fenster und zerschmetterte sich beide Knie, geriet 1993 in die Unruhen in Los Angeles, wurde von hinten mit einem Baseballschläger angegriffen und liegen gelassen, weil man ihn für tot hielt. Heute lebt Kane nach einem Jahr im Krankenhaus mit einer Metallplatte im Schädel und macht ab und zu mit Rick Rivets ein bisschen Musik. Das tun auch Sylvain Sylvain und David Johansen, der eine ohne, der andere (als Buster Poindexter) mit etwas mehr Erfolg. 2000 hatten Kane, Sylvain und Johansen die zweifelhafte Ehre mitzuerleben, wie die New York Dolls für die „Rock’n‘ Roll Hall of Farne“ nominiert und ausgerechnet von Aerosmith geschlagen wurden, die den Dolls von Anfang an bis ins Detail nachgeeifert hatten (Tyler hatte David Johanson sogar seine Ehefrau Cyrinda Fox ausgespannt) – mit dem pädagogisch nicht ganz unwesentlichen Unterschied, dass sie dem Zirkus am Ende vollzählig lebend entkamen.

„Die New York Dolls scheiterten, weil sie den Rock’n ‚Roll wirklich lebten „, sagte ein ehemaliger Lehrer namens Gene Simmons, der durch die Dolls zum Rock’n’Roller geworden war.

Drei TOte, drei Überlebende, eines der größten Alben aller Popmusik-Zeiten (das erste, Herbst 1973) – weder vorher noch nachher hat sich je eine Band derart rücksichtslos, total und supernaiv dem Rock’n’Roll-Traum verschrieben. Die New York Dolls wollten um jeden Preis Stars werden, und sie sprangen in den Abgrund, ohne auch nur zu fragen, ob es so etwas wie ein Seil gab. Möglicherweise wussten sie die ganze Zeit, dass sie sich ihr eigenes Grab schaufelten. Oder, genauer gesagt: drei Gräber. Vorläufig.