Jahresrückblick 2019

Die größten Aufreger des Popjahres 2019 und was von ihnen übrig blieb


„Kommt mal wieder runter!“ Wenn wir etwas richtig gut können im digitalen Reiz- und Meinungs-Beballerungszeitalter, dann ist das uns aufregen. Um uns wieder Richtung Ruhepuls einzupendeln, wollen wir hier zum Jahresende die großen Aufreger 2019 noch einmal näher betrachten.

Wir wüten Kommentarspalten voll, erklären andere nach spätestens zwei strittigen Statements für hirntot oder zu Faschisten – oder wir schauen, mit steigendem Blutdruck, anderen bei diesem Treiben zu. Um uns wieder Richtung Ruhepuls einzupendeln, wollen wir hier betrachten, was von einigen der großen Aufreger 2019 gegen Ende dieses Jahres noch übrig geblieben ist.

Wir konzentrieren uns bei diesem Überblick auf Themen, für die der Musikexpress als Musik- und Popkultur-Magazin im Kern zuständig ist. SPD und Regenwald retten, Österreich und Thüringen verloren geben, das russische Internet verstaatlichen und Notre Dame wiederaufbauen – darum muss sich bitte jemand anderes kümmern. Zwei Aufregungs-Anzeiger helfen einzuordnen, wie groß die Aufregung zum Zeitpunkt des Auftauchens/Höhepunkts des jeweiligen Aufregers war und wie es darum jetzt zum Ende des Jahres steht.

Komiker sabotiert Seniorenbetreuung

War das der erste richtige Prank der öffentlich-rechtlichen Fernsehgeschichte (vom great 88er „Titanic“-Buntstift-Schwindel bei „Wetten, dass..?“ abgesehen)? Der Komiker Luke Mockridge lässt sich im August in den „ZDF-Fernsehgarten“ einladen und serviert zum Knödel-Nachschlag eine Reihe von rohrkrepierenden Witzen und kümmerliche Senioren-Schmähungen, infolgedessen ihn die ernsthaft entrüstete Zuschauerbetreuerin Andrea Kiewel kurzerhand aus der Liveschaltung disst. Tage später verrät Mockridge, dass er sich die Gags gemeinsam mit einem Grundschüler-Thinktank ausgedacht hat. Hihi.

Damaliger Aufregungsgrad: 7/10
Bei den Grundschuljahrgängen 1940 bis 1955.

Heutiger Aufregungsgrad: 0/10
Schauen Sie, die Kiwi hat Ihnen das Prankchen gleich wegmoderiert.

Japanische Aufräumerin lässt den größten Mist liegen

Diese Frau würde Linus Volkmann garantiert nicht erlauben, sich die neue Turbostaat-Live-CD ins Regal zu stellen: Marie Kondo, ausmistende Bestsellerautorin und neuerdings mit eigener Show auf Netflix
Marie Kondo, ausmistende Bestsellerautorin

Marie Kondō heißt die Frau, die uns via Netflix-Doku Anfang des Jahres beibringt, wie man zu Hause richtig aufräumt. Regel: Jeder Gegenstand, der uns kein Glück verspricht, fliegt. Unser Chef, die AfD, Kollegah und die ganzen Online-Handel-Kleintransporter vor uns auf dem Fahrradstreifen bleiben jedoch an ihrem Platz, denn Frau Kondōs Macht endet wie so vieles, was uns zur Lebensoptimierung verkauft wird, an der Schwelle unserer Haustür. Die nette Ordnungsberaterin wird trotzdem furchtbar reich, nicht zuletzt weil inzwischen auch noch Deko-Artikel unter ihrem Namen verkauft werden… Moment mal, was?!

Damaliger Aufregungsgrad: 1/10
„Räum endlich dein Zimmer auf!“ klingt auf Japanisch so viel freundlicher!

Heutiger Aufregungsgrad: 8/10
Wo ist die andere Happy Sock, verdammt?!

Fusion von Polizei und Freizeitkommunisten platzt

Die Seebühne auf dem Gelände des Fusion Festivals.

Das Fusion-Festival auf dem ehemaligen Militärflugplatz Lärz wird von Machern wie Gästen als eine Utopie auf Zeit begriffen: Für ein paar Tage im Sommer versucht man sich von staatlichen/kapitalistischen/etc. Zwängen und Kontrollen freizumachen. Im Mai erklärt die Polizei in Neubrandenburg jedoch, dass sie ab sofort eine eigene Wache auf dem Festivalgelände installiert haben möchte, zudem munkelt ein geleaktes inoffizielles Einsatzkonzept von Wasserwerfern, Räumpanzern und 1000 Beamten – obwohl auf der Fusion in bald 15 Jahren noch nie etwas Schlagzeilenträchtiges vorgefallen ist. Offensichtlich darf einfach nicht so dermaßen frei sein oder sich frei fühlen, was auf bundes(ost)deutschem Boden nach Sodom und Gomorra riecht. Nach einer großen Unterschriftenaktion und der Intervention des Meck-Pomm’schen Innenministers ist die Polizeiwache aber erst mal wieder vom Tisch.

Damaliger Aufregungsgrad: 9/10
Bis zum ersten Joint / Trip / Wurf etc.

Heutiger Aufregungsgrad: 2/10
Weihnachten ist ja meist etwas weniger Kommunismus.

„Fusion Festival“-Veranstalter: „Mit einer derartigen Polizeipräsenz wäre die Fusion einfach keine Fusion mehr“

King of wird zum Monstrum of Pop

In der US-amerikanischen Dokumentation „Leaving Neverland“, die im Frühjahr auf ProSieben gezeigt wird, erzählen Wade Robson und James Safechuck ausführlich, bewegend und letztlich überzeugend davon, wie sie als Kinder dem damaligen King Of Pop Michael Jackson erstaunlich nahe kommen durften, er sie als „Freunde“ immer weiter in sein Märchenluxusleben integrierte, ihnen sogar Liebe schwor und sie schließlich zigfach sexuell missbrauchte. Der vielleicht härteste Fall aus dem Jahr 2019, der Kritiker wie Publikum wieder einmal mit der anhaltend komplexen Frage konfrontiert: Kann oder sollte man Kunst und Künstler voneinander trennen – und wie soll das eigentlich funktionieren?

Damaliger Aufregungsgrad: 10/10
Wer die Dokumentation gesehen hat, bekam Einblicke in das so durchtriebene wie rücksichtslose Handeln eines pädophilen Täters, die er so schnell nicht wieder vergisst. Und unbeirrbare Jacko-Fans demonstrieren noch einmal, woher der Begriff „Fan“ eigentlich rührt.

Heutiger Aufregungsgrad: 6/10
Das Thema „monströse Künstler“ bleibt hochaktuell – und das musikalische Erbe Jacksons erst einmal ein Fall fürs Toxic-Endlager.

Michael Jackson: Das schlechte Popgewissen

Big Fail nach Fohlen-Schaden

Bausa hier 2018 im IFA Sommergarten in Berlin.

Allseptemberlich schickt Warner einen großen Act aus seinem Label-Stall auf das Reeperbahn-Festival in Hamburg, zur „Warner Music Night“. 2019 sollen dort die Oxforder Indie-Rocker Foals auftreten, müssen aber kurzfristig handverletzt absagen. Warner bietet darauf den Bietigheim-Bissinger Hit-Rapper Bausa als Ersatz auf und entfacht damit einen Shitstorm. Nicht nur bei den Ticket-Vorkäufern, sondern vor allem bei dem Teil der Öffentlichkeit (inklusive der Veranstalter des Festivals), dem durchaus aufgefallen ist, dass dieser (Herr) Otto genauso frauenverachtenden und homophoben Müll in seine Lines packt wie so viele andere seiner „Modus Mio“-Playlist-Kollegen.

Damaliger Aufregungsgrad: 7/10
Allerdings nicht bei den Kids, die haben das gar nicht mitbekommen.

Heutiger Aufregungsgrad: 5/10
Siehe Shirin David.

Bausa ersetzt Foals auf dem Reeperbahn Festival 2019

Shirin David kann nicht rappen (und viele Rapper Frauen nicht achten)

Die vor allem als Influencerin bekannte Shirin David bringt mit SUPERSIZE im September ein Album heraus, das genauso wie die Vorabsingle „Gib ihm“ sofort an die Spitze der Charts springt; die letzten deutschen Rapperinnen, denen das gelungen ist, waren Tic Tac Toe und Sabrina Setlur – vor 22 Jahren! Das größte Aufregungspotenzial (davon abgesehen, dass die Platte den alten Verschwörer Naidoo und den homophoben Rapper Mert featuret) scheint darin zu liegen, dass nicht unwesentliche Teile des Deutschrap-Betriebs ein Problem damit haben, wenn eine Frau showy und bossy wird und das auch noch in Outfits praktiziert (Songzitat: „Die Nägel länger als die Shorts“), die sonst nur für Körper-Statistinnen in Chauvinisten-Musikvideos vorgesehen sind. Unwürdigstes Szene-Echo: Eine so miese wie ekelhaft sexistische Parodie auf Shirin bei den ersten „Hype Awards“ für HipHop und Urban im Juli in Berlin.

Damaliger Aufregungsgrad: 8/10
In der YouTube-Kommentarspalte zum „Gib ihm“-Video, als dieses in Rekordgeschwindigkeit auf 1 Mio. Streams geht.

Heutiger Aufregungsgrad: 5/10
Weil wir ganz bestimmt nicht aufhören, über Frauenrollen im Deutschrap zu diskutieren!

Die 10 merkwürdigsten Momente bei den HYPE Awards 2019

Musikindustrie kauft Klicks und Streams (schwarz)

Youtube Placeholder

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Eine Video-Dokumentation des YouTube-Kanals Y-Kollektiv vom Mai versucht zu beweisen, dass ein nicht unwesentlicher Teil der Klicks im Deutschrap auf YouTube und bei Musikstreamingdiensten wie Spotify gekauft ist, das heißt: illegale Computer-Dienstleister hacken die Systeme und schrauben die Abrufzahlen nach oben, mit entsprechenden Auswirkungen auf Playlist-Integrierungen und Hitparaden. In der Szene herrscht Aufregung, doch bei genauerer Prüfung zeigt sich, dass der anonyme, maskierte Hacker in dem Video offensichtlich doch weniger Wirkmacht hat als behauptet, und es wird letztlich auch nicht bewiesen, dass solche Machenschaften tatsächlich dazu geführt hätten, Newcomer wie Mero und Brado in den Deutschrap-Olymp zu führen. Was in den Kommentaren und Analysen allerdings wiederholt auffällt und stutzig macht: Es wird eingeräumt, dass es solche Machenschaften durchaus gäbe, nur eben nicht hier/„bei uns“.

Damaliger Aufregungsgrad: 6/10
Das Musikbiz war für mindestens 48 Stunden komplett aus dem Algorithmus.

Heutiger Aufregungsgrad: 1/10
(Kontaktieren Sie uns gerne klandestin, sollten Sie an dieser Stelle noch etwas Aufregung zukaufen wollen.)

O.K. Boomer

Ein neues Internet-Meme geht so: Ein an Lebensjahren vergleichsweise reicher Mensch (am besten weiß, männlich und bis 1969 geboren, also ein „Baby-Boomer“) schreibt etwas dort hinein, was er für eine Meinung von Gehalt hält. Worauf ein jüngerer Mensch (Generation Z oder Millennial), der natürlich weiß, dass das nur Quatsch sein kann, mit einem mitleidigen bis altersdiskriminierenden „OK Boomer“ repliziert. Fertig.

Damaliger Aufregungsgrad: 2/10
OK Boomer … und wer ist jetzt dieser süße Hund?

Heutiger Aufregungsgrad: 5/10
Wenn man sich von Rezo auf „Zeit online“ im Sendung-mit-der-(grauen)-Maus-Duktus erklären lassen muss, warum so ein Meme gar nicht so schlimm ist, könnte man sich schon noch ein wenig aufregen.

Work-Life-Balance erfordert bessere E-Scooter-Balance

In Deutschland werden im Juni Elektroroller im öffentlichen Straßenverkehr zugelassen. Über Nacht (von wegen „Turbokapitalismus“) fluten ominöse Verleih-Firmen die Citys mit den 20 km/h schnellen (von wegen „Turbokapitalismus“), ziemlich wackeligen und ökologisch fragwürdigen Spielzeug-Cruisern. Und sie haben auch schon minibezahlte „Juicer“ aus der Dienstleistungs-Schattenwelt zusammengerufen, die die Roller allabendlich zum Akku-Refreshment einsammeln. Was für die einen die „Verkehrswende“ mit herbeirollern wird – als Alltagsbeschleuniger „ für die letzte Meile“ –, begreifen die anderen als neues, bevorzugt von (je zwei) angetrunkenen Jungtouristen gesteuertes Feindbild im täglichen Verdrängungskampf auf verstopften Großstadt-Wegen. Ergo: Viele Leute schmeißen die Dinger einfach um. Und Sascha Lobo stellt sie wieder auf.

Damaliger Aufregungsgrad:
7/10 In den Städten.
2/10 In der Provinz.

Heutiger Aufregungsgrad: 1/10
Bis circa Mitte März.

Selbstjustiz–Clown glittert Instgram-Treppe hinab

Über kaum einen Film wird 2019 so viel diskutiert wie über Todd Phillips’ „Joker“, nicht zuletzt zur Freude seiner Macher, die ja eben einen anderen/kontroversen Superhelden/-schurken-Film in die Kinos bringen wollten. Das Internet streitet darüber, ob Joaquin Phoenix’ Darstellung des psychisch kranken Rache-Clowns echte Attentäter reproduzieren könnte. (Merke: Alles kann für alles verantwortlich gemacht werden. Und wer Ambivalenz in der Kunst nicht aushält, soll halt zum Fußball gehen!) Und dann tanzt der Joker im Film auch noch ausgerechnet zum 70s-Stomper „Rock And Roll Part 2“ des verurteilten Kindesmissbrauchers Gary Glitter eine New Yorker Treppe hinunter (die sodann offiziell in das Eigentum der weltweiten Instagram-Gemeinde übergeht). Finstere Folgefrage: Bekommt Glitter dafür vielleicht sogar Tantiemen?! (Nein.)

Damaliger Aufregungsgrad: 7/10
War doch noch nur ein Film – und allerbeste Filmwerbung.

Heutiger Aufregungsgrad: 4/10
Weil: Oscar ist ja erst noch.

„Joker“ mit Joaquin Phoenix im Kino: Eine unerhörte Monstrosität
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