Die Island Story 1. Teil


Wer kennt nicht das Label mit der stilisierten Palme auf einer grünen Buckelinsel, hinter der strahlend die Sonne aufgeht? Seit Jahren gilt Island Rec. als der große Ideenlieferant der Musikbranche. So nachhaltig wurde der Geschmack von Millionen von keiner anderen britischen Gesellschaft beeinflußt. Gruppen wie SPENCER DAVIS, TRAFFIC, KING CRIMSON, JETHRO TULL und viele andere schlugen ihre neuen Töne in einer Musikgeneration an, der nach 'Satisfaction' von den ROLLING STONES nur noch ein Gähnen geblieben war. CHRIS BLACK-WELL, geistiger Vater von Island Rec. und heutiger Oberguru dieser Tonmamufaktur, formulierte 1964 seine Pläne so: "Ich will ein Label mit einer musikalischen Identität, auf die man sich verlassen kann." Bis in die Gegenwart hinein, in der ROXY MUSIC neue musikalische Dimensionen steckte, und die SPARKS-"BROTHERS" mit ihrem Falsettgesang eine ganze Generation aufhorchen lassen, kann man sich auf Island und seine Macher verlassen. Auf der grünen Buckelinsel wird noch immer geträumt, aber diesmal stimmt die Kasse.


16. JUNI 1975, St. PETER SQUARE 22

Der Londoner Cabdriver stoppt abrupt und murmelt: „Hier muß es sein.“ Ich steige aus und stehe vor einem weißen zweistöckigen Haus, das eine unaufdringliche Eleganz ausstrahlt. Drei Stufen führen zum gläsernen Eingangsportal, auf dem ich das farbenfrohe Island-Logo bemerke. Schon bin ich in der Rezeption, die durch ihre Einrichtung zum Ausruhen einlädt. Weniger relaxed wirken die beiden hübschen Mädchen, die an der Telefonanlage beide Hände voll zu tun haben. Dort herrscht echte Business-Atmosphäre. Unaufhörlich klingeln die Telefone, Fragen werden beantwortet und Besucher zu den richtigen Stellen geschleust. Auch ich lasse mich von Jean, einer appetitlichen Jamaikanerin, weiterschleusen. Verabredet bin ich mit DAVID BETTERRIDGE, dem heutigen Manager von Island. Gemeinsam erinnern wir uns…

REGGAE! REGGAE!

Zuerst einmal stellt er klar, daß es keine beliebige Insel war, die 1966 für den Namen der Gesellschaft herhalten mußte. Weder England noch Madeira können für sich in Anspruch nehmen, sie seien die Island-Insel. Unsere Insel liegt weiter, viel weiter. Knappe zwölf Flugstunden vom Airport Frankfurt entfernt in der Karibik, die drittgrößte Insel der Antillen – das ist unser Eiland: Jamaika.

Hier, wo immer Frühling herrscht, wo Bananen, Tabak, Kaffee und Zuckerrohr das ganze Jahr über geerntet werden, wo in der Hauptstadt Kingston an jeder Straßenecke eine Esso-Steelband musiziert, und nomadisierende Diskjockeys der Landbevölkerung die neuesten Reggaeprodukte vorstellen, da ist CHRIS BLACKWELL zu Hause. In diesem westindischen Schmelztiegel, der aus Mulatten, Negern und Weißen einen neuen Menschen formte, mit Rum in den Adern und der Ursprünglichkeit eines Kindes im Gemüt, in dieser pulsierenden und swingenden Umgebung wuchs er auf.

Nach einer nicht eben erfolgreichen Schulzeit muß er auf der Plantage seiner Eltern, die einige Meilen von der Hauptstadt entfernt liegt, kräftig zupacken. Auf der kleinen Farm gibt es das ganze Jahr über zu tun, und wenn für Vater Blackwell die Feldarbeit nicht mehr zu schaffen ist, heuert er Tagelöhner an. Es sind meist Farbige, Nachkömmlinge jener Kariben, die 1496 Christoph Columbus, den ersten Touristen der Insel, noch als freie Menschen willkommen geheißen hatten. Diese Tagelöhner, die aqf der Suche nach Arbeit die 11.000 km 2 große Insel durchstreifen, bringen Chris das musikalische Erbe ihrer Vorfahren, den Reggae, näher. Da ist die Rede von Zerstörung und Revolution, von Aufstand und Kampf, weniger von Verzweiflung, Kummer und Elend. Aus den rhythmischen Liedern spricht eine Mischung von Sinnlichkeit, christlicher Nächstenliebe und der Hoffnung auf Frieden, sowie die Drohung ‚wie Du mir, so ich Dir“, die Stolz und Selbstbewußtsein, aber auch Gewalttätigkeit beinhaltet. Chris ist von diesen Liedern, deren Ursprung man nicht genau festlegen kann, tief beeindruckt.

Vergessen sind die Songs von FATS DOMINO, OTIS REDDING, SAM COOKE, die von den amerikanischen Radiostationen pausenlos nach Jamaika genudelt werden. Der Reggae erweist sich als stärker, seine Inhalte sind längst nicht so abgenutzt und steril dem Konsum angepaßt, wie das, was aus den Staaten kommt. Mr. BLACKWELL wird ein Reggae-Fan, aber sein Fanatismus soll auch Kohle bringen. Er entdeckt nämlich, daß es diese Musik nicht auf 45-ern gibt. Er möchte sie produzieren, dafür jobbt und spart er. Er serviert eisgekühlte Drinks in vornehmen Clubs, mustert als Wasserskilehrer an und ist zeitweise beim britischen Generalgouverneur beschäftigt.

TRICKS & BUSINESS

Als er 40 £ zusammen hat, schleppt er 1960 LAUREL AIT-KEN in ein verkommenes Studio in Kingston. AITKEN, geboren in Frenchtown, mit einer vom Jamaika-Rum angerauhten Stimme, sollte die musikalische Vorstellung von Chris verwirklichen. Die Theorie des Konzeptes war revolutionär. LAUREL sollte Reggae singen, ein paar Studiomusiker den auf den westindischen Inseln so beliebten Rhythm & Blues dazugeben, und dem ganzen sollte ein gespenstischer Bass – bis damals noch völlig unbekannt im Studio — die Krone aufsetzen. Als die Single nach drei Tagen fertig war — weiter reichten die 40 £ nicht — schlug das Produkt auf dem mit Calypso übersättigten Markt wie eine Bombe ein. BLACKWELLs kühnste Träume wurden übertroffen, und die Single marschierte unaufhaltsam an die Spitze der jamaikanischen Hitparade. Aber trotz Nr. 1 lassen sich auf Jamaika nicht mehr als 4-5.000 Platten verscherbeln. Andere Produzenten strickten die gleiche Masche, und der kleine Markt wurde erbittert umkämpft. Daß da nicht die Regeln des Fairplay befolgt wurden, versteht sich von selbst. Jeder versuchte dem anderen das Geschäft, so gut es eben ging, zu versauen. In dieser vertrackten Situation nutzte auch Mehrproduktion nicht viel. Die Schallgrenze lag bei 4.000, auch für die Singles mit OWEN GREY und JACKIE EDWARDS, die Chris danach fertigstellte. Mehr war einfach nicht drin. Wie wäre es aber mit einem anderen Markt? BLACKWELL fand ihn.

REGGAEIMPORT

Der neue Markt lag ebenfalls auf einer Insel, 10.000 km entfernt, etwas kühler und nebliger, aber swingend: England. Die BEATLES ließen im Cavern Club schon die ersten Mädchen in Ohnmacht fallen, und Eltern warnten ihre Kinder vor den aggressiven, schmutzigen

ROLLING STONES. Man schrieb das Jahr 1962, als CHRIS BLACK-WELL mit 70.000 DM in der Tasche in London ankam. Die hatte er seinen jamaikanischen Rivalen trickreich aus der Tasche gezogen. Mit dem Geld sollte er in England einen Vertrieb für westindische Musik aufbauen, denn ungefähr 3 Millionen westindische Emigranten lebten damals auf der britischen Insel. Dieser Markt war jedoch schon in festen Händen; Chris mußte sich etwas Neues einfallen lassen. Er verscheuerte die Singles vom LKW herunter, verschickte sie per Post, baute einen Telefondienst auf, wo seine Produkte rund um die Uhr zu hören waren und verschaffte sich von der Konkurrenz eine Liste von 50 Läden, die auf westindische Musik spezialisiert waren. Er malochte 24 Stunden täglich, machte alles allein und hatte das Gefühl, die Welt aus den Angeln heben zu können. Aber nach zwölf Monaten konnte er nicht mehr, er war fix und fertig.

DER ZWEITE MANN

Da erschien wie ein Geschenk des Himmels DAVID BETTER-RIDGE auf der Szene. Er war ein geradliniger Business-Typ mit viel Erfahrung. Die beiden teilten sich das Chaos in BLACKWELLS Büro in Nottinghill Gate. BETTER-RIDGE übernahm die Geldangelegenheiten, d.h. Vertrieb, Verkauf usw., BLACKWELL kümmerte sich nur noch um die künstlerischen Belange der Zwei-Mann-Firma. Sie schafften Ordnung und hatten Erfolg. BLACKWELL damals: „Ich war ziemlich glücklich, daß ich einen Spezialisten hatte, der sich im Business auskannte und vom Fach war. Als wir mit unserer Special music begannen, haben wir keine Freiexemplare verschickt, keine Interviews gegeben, gar nichts! Denn, wenn eine Platte gut ist, verkauft sie sich. Ist sie nicht gut, dann erlebt sie noch heute das gleiche, die Scheibe verkauft sich nicht.“ So einfach war 1965 die Geschäftsphilosophie, und BLACKWELL konnte es sich leisten, solch große Töne zu spukken. Die Firma Island auf soliden Füßen, und das mittlerweile erweiterte Repertoire verkaufte sich fast von selbst.

SWEET SUE

CHRIS konnte Energien für neue Aufgaben freisetzen. Er gründete das kleine, aber feine Rhythm & Blues-Label SUE. Exklusiv wie das Label war auch der erste Interpret: GUY STEVEN. Von ihm behaupten Experten, er habe Rhythm & Blues-Feeling wie kein zweiter. Mit SUE ging CHRIS einen neuen Weg, er sammelte nicht mehr Volksgut, sondern Schätze. IKE & TINA gehörten ebenso dazu wie JAMES BROWN, die RIGHTE-OUS BROTHERS oder ELMORE JAMES. Er war ständig auf der Suche nach neuen Künstlern, die eigene Identität besaßen und sich so aus der Masse der anderen abhoben. 1965 grub er einen Schatz in Jamaika aus: die 20-jährige MILLIE SMALL, mit der er in drei Tagen in einem Londoner Studio „My Boy Lollipop“ einspielte. 3 Millionen mal wurde dieser Song über die Ladentheken gereicht, und dieser Ertrag sollte eine solide finanzielle Grundlage für die Firma Island werden.

ISLAND AUS DEM EI

Die Gründung von Island lag in der Luft. Schon mit SUE hatten CHRIS und DAVID eine klare Linie verfolgt, aber sie wollten mehr: eigene Künstler, eigene Produktion, eigenen Vertrieb. Diese Vorstellung konkretisierte sich, als CHRIS im Frühsommer 1966 in einem schmutzigen, schmierigen Kellerlokal in Birmingham eine Gruppe hörte, die sich SPENCER DAVIS nannte, und ihm den Atem verschlug. Vergessen war seine Vorliebe für Reggae und Rhythm & Blues. CHRIS hob ab und landete in einer neuen Welt, die musikalisches Gefühl mit exemplarischer Aggressivität verband. Die erste Island-Palme konnte gepflanzt werden.

Im nächsten ME: Wie WEA für 9 Millionen Island kaufen will – Roxy Music wird von Island abgelehnt — und mehr über King Crimson, Traffic, Bad Company, Sparks …