„Die Leute haben die Schnauze voll von uns!“


Stimmt gar nicht. Und das weiß Chris Martin auch. Und dennoch sagt der ebenso selbstbewusste wie - zweiflerische Sänger und Kopf von Coldplay solche Sachen immer wieder - wenn er denn mal ein Interview gibt. Der ME konnte ihnam Rande der Coldplay-Tour dazu bewegen. Willkommen im Munsterland!

Chris Martin ist vergnügt. Im Hotelaufzug hoppelt er und singt „Friday I’m In Love“ vor sich hin. „D you like The Cure?“, strahlt er die Promoterin an. „When I was young, yeah „, zuckt die ein bisschen müde die Schultern. „When you were young? But you ARE young!“, entgegnet Martin und klingt dabei wie ein kleiner Junge, dem jemand Vernünftiges seinen Überschwang dämpfen will, schier enttäuscht, dass sie nicht bei seinem Jungsein mitmachen will. Martin ist jung, aber er war schon mal viel, viel jünger: 2000, als seine Band Coldplay ihr Debütalbum Parachutes veröffentlichte und sich ihr neben Europa auch und vor allem die für Briten von jeher schwer zu knackenden USA zu Füßen warfen. Da war Martin 23 und damit noch ein volles Jahr über dem Durchschnittsalter seiner Formation.

In den Zeiten nach dem Hype von Parachutes hingen Coldplay in einer Art Hipness-Limbo, und Martin – notorischer Selbstzweifler und Ehrgeizling spielte mehr als einmal mit dem Gedanken hinzuschmeißen, immer in Hab-Acht-Stellung gegenüber der Backlash-Welle, die er jeden Moment anrollen sah. Sie ist bis heute ausgeblieben, stattdessen sind Coldplay mit ihrem von Kritik und Publikum gleichermaßen umschwärmten zweiten Album A Rush Of Blood To The Head endgültig zu Anwärtern für die obere Etage mit den „großen“ Bands aufgestiegen und als solche seit über einem Jahr auf Dauer-Welttournee. Die heutige Station ist die seit langem ausverkaufte Münsterlandhalle in Münster.

„It’s Friday, I’m in love“, trällert Martin und rüttelt aufgedreht seinen verkaterten Gitarristen Jonny Buckland, der nach Coldplays Auftritt bei Harald Schmidt gestern noch bis sechs Uhr morgens Getränke trinken war. Martin selbst – Abstinenzler und momentan ein bisschen erkältet- war früh im Bett und faltet sich jetzt im Sessel zusammen: eine seltsame Mischung aus Tapsig- und Ernsthaftigkeit, introvertiertem Enigma und leutseligstmöglicher Knuffigkeit. Ausgeprägtes Selbstbewusstsein und profunde Selbstzweifel trägt er so unvereinbar vor sich her, dass man ihn der schamlosen Koketterie bezichtigen könnte, erschiene er in seiner jungenhaften, blauäugig strahlenden Art nicht so absolut unfähig, ein Wässerchen zu trüben. Wenn in diesem Mann ein Arg wohnt, dann weiß er ihn sehr gut zu verbergen. „Ich muss heute nur ein Interview geben! Das ist gut!“, freut sich Martin und lächelt so unschuldig-froh, als habe ihm gerade jemand versprochen, dass es später noch Schokokuchen gibt. Ach, daher die gute Laune.

Vorhin bei der EMI habe ich Billboard durchgeblättert und eine Anzeige gesehen für so ein Convention Center in Florida. Unter anderen war da ein Bild, das verdeutlichen sollte, dass das Center auch für Konzerte nutzbar ist, und da sieht man dich drauf, mit Gitarre am Mikro. Eine englische Band als Symbol für Rockmusik in den USA. Ich dachte nur: Oh Gott, sie sind überall!

Ja. Die Leute haben die Schnauze voll von uns.

Glaubst du?

Naja. Einige sicher.

Aber man findet momentan wenige.

Nicht so wenige. Nicht in England.

Du glaubst noch immer nicht, dass die Welt euch liebt?

Nein. Aber das ist auch ganz natürlich, glaub ich, dass einem eher die negativen Sachen auffallen als die positiven. Das hält uns auf Trab, besser werden zu wollen. Ich gehe immer davon aus, dass mich jeder hasst.

Wo sitzt dafür denn die Wurzel ?

Ich weiß nicht. Vielleicht in meiner Schulzeit? Aber das ist es, was mich antreibt, (kurze Pause) Ich glaube natürlich nicht, dass mich alle hassen, aber … jeder hat Unsicherheiten. Ich meine, ich bin schon der Ansicht, dass wir großartig sind, versteh mich nicht falsch. Aber ich mache mir immer meine Gedanken.

Übers Besserwerden.

Wir haben noch gar nicht richtig angefangen! (grinst) Ihr seid seit ca. einem Jahr fast ununterbrochen am Touren. Ihr schreibt neue Songs unterwegs, hört man?

Mehr, wenn wir mal Pausen haben, zwei Tage hier, zehn Tage da, dann versuchen wir, was hinzukriegen, wenn wir kurz zu Hause sind. Es ist super, zum Tourtross zurückzukommen und sagen zu können: „Hey, wir haben einen neuen Song“ und den dann vorzuspielen.

Stumpft das nicht ab, so lange Zeit unterwegs zu sein?

Wir haben viel Glück, haben überall Freunde. Und wir machen ja Pausen. Aber nach einer Woche daheim möchte man wieder spielen. Ich jedenfalls. Und in Europa sind wir ja nicht so weit weg von zu Hause.

Amerika scheint noch gieriger auf euch als Europa.

Ja, oh defini… (bremst ab) Ja, ich glaube ja. Es ist umwerfend. Wir spielen sehr gerne da drüben. Das Album läuft sehr gut, die Single „Clocks“ auch. Es

ist sehr aufregend.

Könnte dein Statement über die Bush-Regierung auf euch zurückfallen?

Ich rede nicht mehr über ihn in Amerika, weil das einfach keine gute Idee ist. Abgesehen davon wollen wir uns auch auf diese „MakeTrade Fair.Com“-Sache konzentrieren.

Bei diesem Bush-Spruch bin ich schwach geworden, ich war auf einen Lacher aus. Das war auch nur bei diesem einen Konzert, aber ich vergesse immer, dass sich die Leute solche Sachen merken, dass sie aufgeschrieben werden. Das war unverantwortlich. Mein Dad hat mir Bescheid gestoßen. Er hat auch Recht. Die Leute erinnern sich an so was, und nächstes Mal kriegst du Ärger mit den Behörden. Das wollen wir nicht. Es ist an den Amerikanern, über George Bush herzuziehen. Er ist ihr Präsident, (grinst) Reden wir von der Award-Show, wo du meintest, wenn Bush seinen Willen bekäme, würden wir alle sterben.

Ach das! Ah. Das war ein Witz. Aber es steckt Wahrheit drin. Dass ich DAS gesagt habe, bedauere ich nicht. Es gibt große Bedrohungen, auf der ganzen Welt. Aufgrund der Außenpolitik von USA, UK und den anderen Industrienationen. Viel von den Fair-Trade-Sachen, mit denen wir uns befassen, dreht sich darum, wie die USA und Europa mit dem Rest der Welt umspringen in Sachen Handelsstandards.

Da wird systematisch Armut geschaffen.

Ja. Unfairer Handel erzeugt Armut. Jedes Mal, wenn du ein Paar Hosen kaufst „Made in Taiwan“, weißt du, dass jemand nicht gerecht dafür bezahlt worden ist. Das ist traurig, (streckt seine linke Hand mit der verwaschenen Aufschrift „Make Trade Fair .Com “ vor). Ich dachte schon, das sei ein Tattoo.

Nein, ich schreib es mit Filzer. Das heißt, meine Assistentin. Ich bin Linkshänder, und wenn ich es selber mache, kann es immer kein Mensch lesen.

Ein eigener Hondbeschreibe-Roadie.

Absolut.

Gibt dieses Engagement auch einen gewissen Antrieb?

Wenn es mich manchmal überkommt, so „Vielleicht noch ein Album, dann ist Schluss! oder „Ah! Ich ertrage keine Kritik! Ich kann keine Reviews lesen! Ich packe es nicht, wenn ein Konzert nicht ausverkauft ist!“:

Ein Grund weiterzumachen – der Hauptgrund ist natürlich Musik – ist, dass uns diese Fair-Trade-Sache das Gefühl gibt, etwas Nützliches zu tun.

Stimmt es, dass ihr zehn Prozent aller Einkünfte für wohltätige Zwecke zur Seite legt?

Ja. Aber wir wollen nicht darüber reden, (grinst und tut es dann doch) Meine Mum hat früher von meinem Taschengeld immer zehn Prozent abgezogen und der Kirche gespendet. Ich fand es eine coole Idee – und die anderen auch, das mit der Band zu machen. Wir sparen zehn Prozent von allem Geld, das reinkommt, für Sachen, die uns wichtig sind. Einen Teil haben wir jetzt für die Postkarten-Aktionen auf den Konzerten ausgegeben, mit denen die Leute an Politiker schreiben können in Sachen Fair Trade. Aber wir haben noch kein Krankenhaus gebaut, (grinst) Wo würdet ihr’s denn bauen?

Monsterland! (lacht) Haha! Munsterland! Ist das nicht der coolste Name überhaupt? Da sind wir doch gerade, oder? Monsterland! Wie cool.

Ich hab gelesen, ihr habt schon 20 neue Songs?

Ja. Aber viele waren Mist. Wir haben jetzt genug für ein wirklich gutes Album. Aber noch kein großartiges Album. Es kommen hoffentlich noch welche dazu. Was wir unbedingt gerne hinkriegen wollen ist, einen Song mit Johnny Cash aufzunehmen. Wir haben einen für ihn geschrieben, aber er ist momentan ein bisschen krank. Aber vielleicht macht er’s danach.

Was ist das für ein Song?

Darüber kann ich nicht reden, (lacht) Aber er ist gut.

Was für Helden hast du noch ?

Ich hab gar nicht so viele Helden. Johnny Cash ist definitiv einer. Aber ich liebe Bob Dylan, Tom Waits und … Thom Yorke und U2und R.E.M. Das sind Leute, die ich großartig finde. Ron Sexsmith.

Hast du schon was von der neuen Radiohead gehört?

Nicht viel. Aber die Single ist super. Großartig. Den Rest hab ich noch nicht gehört, aber die Single… (fängt an, das Riff von „There There“ zu singen, und trommelt auf seine Schenkel) Die ist wirklich gut.

Gibt es Spannungen in der Band, wenn ihr so lange zusammenhängt?

Na ja. Wir haben zwei Busse, einen ruhigen und einen lauten. Wenn du jemanden mal nicht sehen willst, dann … Manchmal treffen wir uns bis zum Konzert abends nicht. Und an anderen Tagen machen wir dann wieder irgendwelche Sachen zusammen. Wir sind immer noch die besten Freunde.

Du hast mal gesagt, wenn einer von Vieren Coldplay verlassen würde, wäre das auch das Ende der Band.

Absolut, ja.

Wenn es Jonny also morgen überkommt oder er packt es auf einmal nicht mehr …

Na ja, man würde dann sehen, was los ist, wenn das passiert. Aber ich glaube nicht, dass es passieren wird. Klar ist: Es wäre nicht mehr dasselbe, wenn einer von uns weg wäre. Wir würden vielleicht weitermachen, aber es wäre nie dasselbe. Zum Beispiel die Drums. Will ist der einzige Drummer, der diesen Sound hinkriegt, weil er eben UNSER Drummer ist. Wie Ringo Starr bei den Beatles oder Larry Müllen bei U2. Man braucht die Kern-Mitglieder. Wenn du die Besetzung veränderst, verändert sich auch die Musik.

Müsst ihr euch als Londoner Studentenband, die plötzlich auf Hollywood-Parties hofiert wird, noch zusammenreißen, um nicht die Bodenhaftung zu verlieren?

Ach, es ist einfach, absolut normal zu bleiben. Nur manchmal, wenn dich die Fotografen verfolgen, nervt es ein bisschen. Aber die meiste Zeit ist alles völlig normal. Du nimmst ein Bad. Du schläfst. Du isst ein Stück Schokolade. Du spielst ein Konzert…

… du spielst ein Konzert vor 9000 Leuten.

(lacht) Okay. Vielleicht nicht ganz so normal. Aber ich sehe uns auch nicht als Rockstars. Ich verbringe den ganzen Tag als normale Person. Dann wird man für eine Stunde zum Rockstar. Und danach wird es wieder normal.

Wie alt bist du nochmal ?

26. Als wir mit der Band angefangen haben, war ich also 20. (überlegt) Verdammt, das ist erstaunlich.

Wo siehst du dich in zehn Jahren?

Ich habe keine Ahnung. Ich hoffe ganz aufrichtig, dass wir immer noch Coldplay machen werden. Ich sehe auch keinen Grund, warum nicht. Uns ist das hier gegeben worden, es ist ein Geschenk, das wir haben. Und wir wollen es nicht versauen. Werden wir auch nicht. Wir versuchen es auf jeden Fall.

Du hast eine gewisse Paranoia, was den Zeitverflug angeht, dass du nicht genug Zeit haben könntest.

Wir haben unser Leben und haben es zu füllen. Weil es schnell weg sein wird. Darum geht’s auch im Albumtitel. Der Ausdruck „A Rush Of Blood To The Head“ bedeutet, etwas aus einem Impuls heraus tun, wenn man es wirklich fühlt… Er hat verschiedene Bedeutungen, aber für mich bedeutet er, etwas zu tun, ohne sich Sorgen deswegen zu machen. Etwas machen, weil man sich so fühlt.

Aber gibt’s auf Tour so viele Möglichkeiten, sein Leben zu füllen ? Was machst du an einem Tag wie heute?

Schreiben. Oder Sachen anschauen. Zeit mit Freunden verbringen. Mit der Freundin. Oder lesen. Einen Film anschauen. Training. Wir machen jetzt alle Fitness-Training. Wir sind Fitness-Freaks (grinst). Wir machen jeden Tag unser Programm.

Jonny heute auch ?

Der hat heute frei gekriegt. Lustig: Bei unseren ersten Tourneen waren wir alle ein bisschen fetter und ernährten uns beschissen. Jetzt stehen wir alle morgens auf und machen unsere Push-ups.

Jetzt schon? Normalerweise machen sich Rockbands erst 20 Jahre fertig und dann packen sie’s an, „Uuuh!“.

Wir machen jetzt 20 Jahre lang „Uuuh!“, dann machen wir uns fertig. Haha! Wir wollen fett werden, wenn wir alt sind. Noch nicht jetzt.

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