Die Liebe, die Stadt, und der Tod
Am Anfang wurden sie ausgebuht, belächelt und beschimpft- als "Tocotronic für Taubstumme". Nach zehn Jahren und vier Alben haben sich Tomte etabliert als die Alternative zu hüftsteifer, verkopfter Diskursmusik aus Deutschland. Mit Tönen, die aus dem Herzen kommen, und Worten, die aus der Seele sprechen.
Wie bei einem Familientreffen. Der ziemlich lange Weg vom Eingang bis zum DJ -Pult des “ White Trash“ in Berlin ist gepflastert mit den Bewohnern des „Grand Hotel Van Cleef‘. Oben an der Tür steht Thees Uhlmann mit einem Glas Wodka Bull in der Hand und versucht gerade, dem Mädchen an der Kasse eine der hübsch gestalteten Eintrittskarten für den „Club Van Cleef abzuschwatzen. Als Souvenir. Das Mädchen sagt, daß das nicht ginge, weil die Karten abgerechnet werden müssen. Kaufen könne er aber eine. „Dann gebe ich dir eben sieben Euro „, sagt Uhlmann, der das natürlich dann nicht tut. Das Kassenmädchen sagt, sie müsse mal bei ihrem Chef nachfragen, ob es doch irgendwie ginge, ihm eine umsonst zu geben. „Wie heißt du denn?“ fragt sie. „Ich bin Thees „, sagt er.
Es ist weit nach Mitternacht. Vor ein paar Stunden haben Uhlmann, Gitarrist Dennis Becker und Bassist Olli Koch eine Akustik-Show im „White Trash“ gespielt. Ein Dutzend Songs, auch ein paar vom neuen, vierten Tomte-Album Buchstaben über der STADT. Jetzt ist Indie-Party. Uhlmann führt den MU-SIKEXPRESS durch den Club, aber nicht sehr weit, weil auf halbem Weg Olli Schulz entgegenkommt. Uhlmann redet kurz mit ihm und verschwindet dann in der Menge. Ein paar Meter weiter steht Keyboarder Max Schröder mit Heike Makatsch. Und vorne hinterm DJ-Pult ist Simon Raß in einer Wolke aus Trockeneisnebel kaum zu erkennen. Die Nebelmaschine hat gerade verrückt gespielt. Es sieht aber gut aus, irgendwie bedeutend, so ein DJ im künstlichen Nebel. Simon arbeitet beim „Grand Hotel“, dem Tom te- und Kettcar-Label. Er hält den Laden zusammen. Wenn’s irgendwo brennt, steht er schon mit dem Feuerlöscher bereit. Gemeinsam mit Kettcar-Bassist Reimer Bustorff bildet er das labeleigene DJ-Team. Bustorff holt sich gerade eine Flasche Beck’s aus dem Kühlschrank hinten im kleinen Backstageraum.
Auf dem Sofa Sitzt Olli Koch mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Er hat“5c/iorc ein bißchen was getankt“, würde Uhlmann den Zustand seines Bassisten beschreiben, würde man ihn danach befragen, was wir aber nicht tun, weil er sich gerade seiner Freundin widmet. Zu sehen, wie die beiden miteinander umgehen, könnte einem glatt den Glauben an die Liebe wiedergeben, wenn man ihn nicht woanders schon gefunden hätte. Olli Koch ist der Popkulturpessimist von Tomte. Einer, der sich durch seine strikte Hardcore-Punk-Sozialisation die Welt, in der Tomte zu Hause sind, erst erarbeiten mußte. Es entwickelt sich eine Diskussion über zeitgenössischen Indie-Pop, der exemplarisch- dank Raß und Bustorff – in den Backstageraum dringt. Irgendwann kommt „Oh My God“. Koch fragt: „Was ist das? Kaiser Chiefs? Das wäre auch mein Tip gewesen, weil ja jetzt alle Bands so klingen wie die Kaiser Chiefs. Die haben genau gewußt, wo sie mit diesem Song hinwollen. Er klingt,gemacht‘.“
Die Begeisterung Uhlmanns für Bands wie Art Brut kann Koch – milde ausgedrückt – nicht teilen. Uhlmann stand Mitte September im „Roten Salon“ in Berlin mit leuchtenden Augen vor Art Brut – ein Fan, begeisterungsfähig, leidenschaftlich. Einer, der die Musik liebt. Koch ist das wurscht. Es ist fast so: Wenn Thees eine Band liebt, sich ein Konzert ansieht, ist das ein Grund für Olli Koch, gerade nicht hinzugehen – die gute, alte Punk-Dissidenz-Geschichte. Es geht nicht nur darum, das erste Kind in der Straße zu sein, das das neue Spielzeug besitzt. Sobald ein weiteres Kind das Spielzeug hat, kann man es wegwerfen. Zum Beispiel Arcade Fire. Die mag Koch. Aber er hat sich die Band trotzdem nicht live angesehen, weil er meint, „wenn ich da nicht hingehe, wo die ganzen Hipster hingehen „, dann werde er die Musik auch noch 2010 anhören. Zwei Nächte später beim Strokes-„Geheimgig“ im „Maria“ will Olli durch seine bloße Anwesenheit beweisen, daß er eben nicht der Popkulturpessimist ist, für den man ihn gerne halten darf.
Dennis Becker schaut kurz rein, ist aber gleich wieder weg, weil ersieh im „Magnet“ noch JR Ewingansehen will. Und Thees regt sich gerade darüber auf, weil ihn jemand gefragt hat, was er denn machen würde, wenn SPEX einen Verriß des neuen Tomte-Albums bringen würde. „Das ist mir doch egal“, bellt er. Er hat nämlich auch schon ein bißchen was getankt. „Was würdest du denn tun, wenn wir einen Verriß bringen würden“, fragt der MUSIKEXPRESS. „Dann hau ich dir eine aufs Maul“, sagt Uhlmann. Es herrscht ein rauher, aber herzlicher Ton bei Tomte. Ab und zu verschwindet Uhlmann mit seiner Freundin in Richtung Tanzfläche und kommt später verschwitzt und mit leuchtenden Augen zurück. Gerade läuft „Fuck Forever“ von den Babyshambles. Er erzählt, daß er neulich in Wien zu dem Song getanzt hat und fängt an zu singen:
„Becausel’m so clever, butcleverain’twise. Fuckforever ifyou don ‚t mind. „Eine Woche später bei seinem Solo -Akustik-Auftritt im „Ampere“ in München wird Uhlmann dezent ein paar Zeilen von Art Bruts „Emily Kane'“ und von „Fuck Forever“ in die Songs einweben.
Rückblick: Tomte werden 1996 in Thees Uhlmanns Heimatdorf Hemmoor in Niedersachsen gegründet. Die Band heißt zuerst „Tomte Tummetott“, nach einem Kinderbuch von Astrid Lindgren. Die erste Besetzung: Uhlmann (Gesang, Gitarre, Baß), Timo Bodenstein (Schlagzeug) und Christian Stemmann (Baß, Gitarre, Gesang). Anfang 2001 verläßt Stemmann die Band und wird später durch Olli Koch ersetzt. Dennis Becker kommt im Jahr 2003 als Gitarrist dazu. Seit 2004 ist der Tourkeyboarder und Multiinstrumentalist Max Schröder festes Mitglied. Das sind nicht irgendwelche Typen, die irgendwie Musik machen wollen, um Rockstars zu werden. Diese Typen brennen, weil sie selber Musikfanatiker sind, deren Sozialisarion sie von Heavy Metal und Punk zum Indierock geführt hat. Zu The Smiths, zu Oasis. „William, 1t Was Really Nothing“ von The Smiths wird bei Tomte zu „Wilhelm, das war nichts“; „Gin &. Tonic“ von Oasis wird zu „Korn & Sprite“.
Das erste Tomte-Album du weisst, was ich meine erscheint 1998. Man mag Thees Uhlmann nicht unbedingt widersprechen, wenn er in Zusam menhang mit den frühen Tomte das böse Zitat von den „TocotronicfijrTaubstumme“ anbringt. Wer dieses Album hört, weiß auch nach sieben Jahren nicht genau, was Tomte damit gemeint haben. Im Jahr 2000 erscheint das zweite Album eine sonnige nacht. Und langsam beginnt der ungeschliffene Diamant zu funkeln. Songs wie „Korn &. Sprite“, „Wilhelm, das war nichts“ (heute noch fester Bestandteil jeder ordentlichen Indie-Disco), „The Rick McPhail Song“ und vor allem der Lebensretter „Die Nacht, in der ich starb“ sind Höhepunkte deutschsprachiger Popmusik. Oder sagen wir so: Hätten sich Tomte nach diesem Album aufgelöst, hätte es keine Großtaten wie HIN-TER ALL DIESEN FENSTERN und kein BUCHSTABEN über der stadt gegeben, Tomte hätten schon mit ihrem zweiten Album etwas Bleibendes geschaffen.
Im Frühjahr 2002 spielen Tomte im Vorprogramm von Element Of Crime. Sven Regener glaubt an die Band, auch wenn sie von seinen intellektuellen, rotweintrinkenden Fans anfangs ausgebuht wird. „Danach wurden sie dieganzeTourneehindurch mit jedem Gig besser, es war, als sähe man der mehrjährigen Entwicklung einer ohnehin schon genialen Band im Zeitraffer zu, und am Ende hatten wir und das Publikum die Münder offen, nicht aber mehr die lungsvonTomte, wenn sie von der Bühne kamen. Direkt vor unseren Augen entstand im Eiltempo eine Supergroup der deutschen Rockmusik“, erinnert sich Regener.
Der vorläufige Höhepunkt der Niveausteigerung dieser Supergroup der deutschen Rockmusik ereignet sich im Frühjahr 2003. Da wird das dritte Tomte-Album HINTER ALL DIESEN FENSTERN veröffentlicht. Und nichts sollte mehr so sein, wie es früher einmal war. Weil hinter all diesen Fenstern in der Lage ist, mehr als ein Leben mehr als einmal zu retten, weil es Trost spendet und Hoffnung gibt. Ein Generationen-Album, ein generationenverbindendes Album, ein zeitloses Album. Weil „all der Krach und Schmutz und Staub“, über den Uhlmann singt, und weil die Liebe, die wie eine vage Ahnung über dem Album schwebt, und der Schmerz und die Verlorenheit und die Ängste, die er thematisiert, und die Hoffnung, die er gibt, an keine hippen Szenetypen gebunden ist. Weil Thees Uhlmann, der Mensch, für die Menschen über die Menschen singt: „Hinter all diesen Fenstern sitzen Menschen – du hast es immer geahnt, daß sie es wert sind, zu bleiben.Du bist den ganzen Weg gerannt, .“Weil erden Menschen, die hinter all diesen Fenstern sitzen, aus dem Herzen spricht, indem er das, was sie selber nicht in der Lage sind auszusprechen, in seiner Arbeiterprosa formuliert.
Selbstverständlich kann man das auch ganz anders sehen, wenn man statt eines Herzens einen Eisblock in der Brust hat. Dann kann man sich gerne über die Art beklagen, wie Thees Uhlmann singt, wie er die Worte verschleppt („eeeeendlich einmal“) und die Silben zerdehnt wie einen Kaugummi. Man kann die Form übeT den Inhalt stellen, die grammatikalischen Fehler in den Texten kritisieren und überhören, daß dieser Mann dir eine Menge über dich und dein Leben erzählen kann, mit dem, was er über sich und sein Leben erzählt. Das Herz kennt keine Grammati kfehler.
Seit Frühjahr 2003 gibt es für niemanden mehr, der sich auch nur ansatzweise mit Popmusik beschäftigt, ein Vorbeikommen an Tomte. Gefühlt war die Band in den kommenden zweieinhalb Jahrem ununterbrochen auf Tour. In der Halle und auf jedem Festival. Man mußte ihnen begegnen. Irgendwo. Irgendwann. Zwangsläufig. Und es ist immer das gleiche Bild, das der relativ neutrale Beobachter mit nach Hause nimmt von den fünf Charakteren, die unterschiedlicher nicht sein könnten, die aber die Liebe zur Musik und die Liebe zum Alkohol eint. Gitarrist Dennis Bekker-immer ein bißchen abwesend, dabei sehr entschlossen in seiner Abwesenheit, Viel-Bier-Trinker. Bassist Olli Koch- neugierig, interessiert, zynisch, Viel-Bier-Trinker. Schlagzeuger Timo Bodenstein – liebevoll-mürrisch, Viel-Bier-Trinker. Keyboarder Max Schröder – ruhig, zurückhaltend. Nicht-soviel-Biertrinker. Und Thees Uhlmann – der Gaudibursche, berühmt für seine legendären Bühnenansagen, Viel-Bier-Trinker. Es gibt immer viel Spaß und viel Bier, wenn Tomte in der Stadt sind.
Im Gegensatz dazu stehen die drei Themen, die immer wieder in Uhlmanns Songs auftauchen: die Stadt, die Liebe und der Tod. Die Stadtist der Nähr-»-» Tomte mit Frontmann Olli Koch: ein neugieriger, interessierter, zynischer Typ. Thees Uhlmann hält ihn für den ungewöhnlichsten Bassisten in Deutschland
-> boden, auf dem die Songs wachsen, das urbane Leben als Ausgangs-, Mittel- und Endpunkt für all die kleinen menschlichen Dramen. Die Liebe endet bei Uhlmann im günstigsten Fall in einer Partnerschaft, die ein ganzes Leben lang hält. Umgekehrt schimmert durch viele Songs die panische Angst vor dem Verlassenwerden. Und alles endet mit dem Tod. „Ich weiß, ich werdesterben. Ich weiß, ich werde gehen“, singt Uhlmann in „Ich sang die ganze Zeit von dir“. Und wir wissen, daß er Angst davor hat, zu gehen.
Am Vormittag nach dem „Club Van Cleef‘ zu Hause in der Theestube in Berlin. Uhlmann ist leicht verkatert, aber aufgedreht wie eine Spieluhr. „Ich hätte gestern Nacht noch fast ins Taxi gekotzt. Der hatte aber auch einen ruppigen Fahrstil.“ Uhlmann serviert Nescafe, zündet eine Kerze an und die erste von vielen Zigaretten.